Zum Abschluss des ersten Abends der MEHR-Konferenz ging der Reißverschluss an meiner Winterjacke kaputt. Das war natürlich ärgerlich: In Augsburg war es bitterkalt - nachts bis zu minus 20 Grad -, und überhaupt, der Winter fing ja gerade erst an, und ich bin nicht der Typ, der sich sowieso jedes Jahr eine neue Jacke kauft. Am nächsten Morgen, als ich mir auf dem Weg vom Parkplatz zum Eingang der Messehallen angestrengt mit beiden Händen die Jacke vor der Brust zusammenhielt, fiel mir jedoch plötzlich etwas auf:
Ich war so fokussiert auf meinen Ärger über den kaputten Reißverschluss gewesen, dass ich völlig VERGESSEN hatte, dass meine Jacke auch KNÖPFE hat. Und dass ich den Reißverschluss folglich gar nicht unbedingt brauchte.
Ich hatte, auch wenn das vielleicht albern klingt, gleich das Gefühl, diese Erkenntnis habe auch eine geistliche Dimension; genau auf den Punkt bringen konnte ich zunächst nicht, worin diese bestand, hatte aber die undeutliche Ahnung, es gebe da einen gewissen Zusammenhang zu Johannes Hartls Eröffnungsvortrag ("Heilige Faszination") am Abend zuvor. Darum habe ich mir diesen Vortrag inzwischen auf YouTube noch einmal angehört.
Der gut 40 Minuten lange Vortrag enthält eine Menge interessanter Aspekte; wollte ich auf alle eingehen, könnte ich gleich den ganzen Vortrag nacherzählen, und ich denke, das kann ich mir getrost sparen. Hier und jetzt möchte ich einen Aspekt herausgreifen, der ziemlich gegen Ende zur Sprache kam. "Du entscheidest, worauf du dich fokussierst", betonte Johannes Hartl da und paraphrasierte die Verhaltensforscherin Winifred Gallagher mit der Aussage: "Wer du bist, was du denkst, fühlst, tust und was du liebst, ist das Ergebnis davon, worauf du dich fokussierst."
Ich denke, diese Feststellung lässt sich auch auf die Wahrnehmung der MEHR-Konferenz selbst anwenden.
Ich bin in den letzten Tagen mit allerlei kritischen Anmerkungen zu dieser Veranstaltung konfrontiert worden, auf die im Einzelnen einzugehen jedoch nicht der Schwerpunkt dieses Beitrags sein soll; stattdessen verweise ich lieber auf einige kurze und präzise Stellungnahmen bei Cathman sowie auf ein Interview mit dem Bischof von Gnadensuhl, Dr. Bernhard Oesterhagen, auf kath.net. Das Schöne an der Blogoezese ist ja gerade, dass man nicht alles selber machen muss. Aus meiner persönlichen Sicht nur soviel: Zum Teil würde ich sagen, die Kritik an der MEHR wäre berechtigt, wenn das, was da behauptet wird, tatsächlich zuträfe. Diese Aussage mag trivial klingen, scheint aber dennoch notwendig zu sein. Zu einem anderen Teil würde ich sagen: Selbst da, wo die Kritik zutrifft, krankt sie daran, sich so sehr auf bestimmte Einzelaspekte zu fokussieren, dass dabei das Wesentliche und Wertvolle an dieser viertägigen Konferenz gar nicht in den Blick kommt. -- Nämlich was? Nicht mehr und nicht weniger, als dass es sich um einen starken und hoffnungsvollen geistlichen Aufbruch handelt. Wenn Kritiker, denen die Euphorie derer, die die MEHR miterlebt haben, fragwürdig oder zumindest übertrieben erscheint, darauf verweisen, geistliche Aufbrüche gebe es auch woanders, kann man im Grunde nur erwidern: Gut so! Wäre ja auch traurig, wenn es nicht so wäre. Aber deswegen muss man diesen hier ja nicht klein- oder schlechtreden. Wir in der so genannten "westlichen Welt" haben geistliche Aufbrüche derart dringend nötig, dass wir es uns schlicht nicht leisten können, über einen davon - noch dazu einen, der zehntausend Leute erreicht, ja ergriffen hat - die Nase zu rümpfen, weil er uns zu "charismatisch" ausgerichtet ist oder weil uns die Musik und die Lightshows nicht gefallen oder weil da die falschen Leute in den falschen Hosen das Wort führen.
Ich will überhaupt nicht leugnen, dass man bei so Manchem, was man am Rande der MEHR-Konferenz beobachten konnte, den Eindruck gewinnen konnte, es mit einigermaßen unausgegorenen Phänomenen zu tun zu haben. Nun wohl: Was unausgegoren ist, das muss noch reifen. Keine Bange: Das wird es. Das Potential dazu ist reichlich vorhanden.
Was will ich damit sagen? - Zum Beispiel: Oberflächliche Beobachter konnten den Eindruck bekommen, die Ästhetik der ganzen Veranstaltung sei einseitig auf Emotionalisierung und Ausschaltung des kritischen Verstandes berechnet gewesen. Das wäre jedoch - auch wenn die Atmosphäre im Auditorium tatsächlich oft sehr emotionsgeladen war - ein unvollständiger Eindruck. MEHR-Hauptredner Johannes Hartl warnte in einem seiner Vorträge sogar ausdrücklich: "Es geht im geistlichen Leben nicht immer nur ums Spüren. Das Spüren ist manchmal auch nur Selbstbespiegelung." Als jemand, dessen "Weg zurück zum Glauben", pathetisch ausgedrückt, mit Büchern von Joseph Ratzinger bzw. Benedikt XVI. gepflastert war und dem ein rationaler Zugang zum Glauben somit durchaus wichtig ist, kann ich sagen: Futter für den Verstand gab es während dieser vier Tage nicht zu knapp. Gerade bei Hartl, der in seine Vorträge auch schon mal Sätze einflocht wie "Ihr seid ja hier, um was zu lernen" oder "Ich hab's schon angekündigt, ihr müsst ein bisschen denken jetzt". - Ein mir bekannter freievangelischer Pastor, den ich früher schon einmal erwähnt habe, sagte mir, er schätze den katholischen Theologen Hartl besonders für die Klarheit seiner Verkündigung, und das sei etwas, was er bei vielen anderen christlichen Konferenzrednern (auch seiner eigenen Konfession) oftmals vermisse. Dass man diese Klarheit auch und erst recht in Predigten im Gottesdienst allzu selten antrifft, brauche ich wohl kaum zu betonen. Johannes Hartl selbst formulierte es so: "Wir haben zu wenige Menschen, die sich trauen, die Wahrheit Gottes auszusprechen, aus Angst, anzuecken. Und das Evangelium verliert seine Kraft dadurch." Zu dieser Wahrheit, so Hartl, gehöre es auch, dass der (gerade im von Papst Franziskus ausgerufenen Heiligen Jahr zuweilen etwas überstrapazierte) Begriff der Barmherzigkeit nicht etwa in Konkurrenz oder in Widerspruch zu einer klaren Verkündigung stehe: "Es gibt keinen Unterschied zwischen Barmherzigkeit und Wahrheit, denn die Wahrheit ist das einzige, was Menschen frei macht. Es macht Menschen nicht frei, wenn du sie anlügst aus lauter Nettigkeit."
Hartl machte es seinen Zuhörern also nicht unbedingt immer leicht; auch dadurch, dass er, wenn er über Missstände in der Gesellschaft sprach, diese stets darauf zurückführte, was im Leben des Einzelnen nicht stimmt, un-heil ist: "Wir sind berufen, die Werke unseres Vaters im Himmel zu tun. Aber das wird tief drin nur funktionieren, wenn wir erst einmal erkennen, wo das nicht so ist." - "Der direkteste Weg ins Herz eines Menschen führt durch eine Wunde." Wie zum Beispiel die Wunde, ein Waisenkind zu sein. "Wir leben in einem Land und wir leben auf einem Kontinent, wo in den letzten 100 Jahren fast zwei komplette Generationen von Vätern entweder getötet wurden oder emotional traumatisiert aus dem Krieg zurückkamen. Das ist unsere Story." Die Mentalität von Waisenkindern, so Hartl, produziere immer weitere emotionale Waisen; überwinden lasse sich diese Waisenkindmentalität nur dadurch, zu erkennen und für sich zu akzeptieren, dass man ein geliebtes Kind Gottes ist - ein Sünder zwar, aber ein Sünder, den Gott liebt.
Die fünf Vorträge, die Johannes Hartl während der viertägigen MEHR-Konferenz hielt, waren inhaltlich überaus vielschichtig, weshalb ich - erneut - nur empfehlen kann, sie selbst anzuhören. Bei allem Verständnis dafür, dass der Klang seiner Stimme und sein Vortragsstil auch nerven können; aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Man gewöhnt sich dran, und es lohnt sich. Erwähnenswert erscheint mir übrigens, dass Hartl - der über "metaphorische Theologie" promoviert hat - eine ausgesprochene Vorliebe für biblisch inspirierte Sprachbilder hat ("Jesus sagt: Ihr seid das Salz der Erde. Glaubst du, dass das Salz in der Suppe schwimmt und sagt: 'Alles um mich herum ist so fad'? Ihr seid das Licht der Welt! Das Licht, sagt das: 'Das ist aber blöd, dass es so dunkel ist überall'? - Dafür bist du da!"); insofern stellen seine Vorträge einen radikalen Gegenentwurf etwa zu den Thesen des in kirchlichen Kreisen derzeit hoch gehandelten Kommunikationsberaters Erik Flügge dar, der meint, der moderne Mensch könne mit metaphorischer Redeweise nichts anfangen.
Ich hatte mich schon lange gefragt, warum es so etwas eigentlich nicht gibt. Und nun die Erkenntnis: Doch doch, sowas gibt's. |
Übrigens untermauerte Hartl die Ausführungen aller seiner Vorträge präzise mit Bibelzitaten; daneben zitierte er - was bei einer überkonfessionellen Veranstaltung wohl nicht gerade selbstverständlich ist - wiederholt große Heilige der Katholischen Kirche wie etwa Gregor den Großen, Bernhard von Clairvaux, Johannes vom Kreuz oder Alfons Maria von Liguori. Tatsächlich wird es Hartl von streng evangelikaler Seite zuweilen zum Vorwurf gemacht, dass er sich ohne Wenn und Aber zur Lehre der Katholischen Kirche bekennt; ein Blogartikel, der vor Johannes Hartl warnte, weil dieser ein "verlängerter Arm der katholischen Kirche" sei, verweist auf eine Interview-Aussage Hartls, in der er ausführt:
"Als Christ bin ich Teil der Kirche und damit Teil eines Glaubens, der eine viel längere Geschichte hat als mein persönlicher Glaube oder meine persönliche Jesus-Beziehung. Dieser Glaube der Kirche ist geprüft und verlässlich. Im persönlichen Bibelstudium kann es auch einmal passieren, dass eine Stelle missverstanden oder falsch interpretiert wird. Der Glaube der Kirche gibt hier Richtung und Sicherheit."Sicherlich könnte man zur - sagen wir mal - Heilsrelevanz der Kirche noch mehr und Anderes sagen, aber der angesprochene Aspekt erscheint mir dennoch nicht unbedeutend. Wie ich gern sage: Die lehramtliche Tradition der Kirche bewahrt uns davor, in jeder Generation das Rad neu erfinden zu müssen...
Gleichwohl bezieht sich Hartl durchaus auch auf christliche Denker aus jüngerer Zeit und aus anderen Konfessionen - mit besonderer Vorliebe etwa auf den Anglikaner C.S. Lewis (ein Beispiel hierzu folgt in Kürze). -- Der oben angesprochene Aspektenreichtum der Vorträge führt freilich naturgemäß auch dazu, dass Vieles nur kurz angerissen wird, und Kritiker mögen dies als oberflächlich empfinden (etwa, wenn er in "Willkommen in der Realität" mit wenigen Sätzen die Gender-Theorie zerlegt und lakonisch die Aussage in den Raum stellt, "dass Sexualität von Gott gemacht wurde für Fruchtbarkeit"); man kann aber auch sagen: Hey, ist doch schön, dass er den Zuhörern etwas zum Selberdenken übrig lässt. Und was wohl noch wichtiger ist: Die Vielzahl der angesprochenen Aspekte trägt auch dazu bei, all diese Dinge in einen großen Zusammenhang einzuordnen - nämlich den der Realität Gottes. Wer die Realität Gottes nicht anerkennt, für den gibt es, so Hartl, in letzter Konsequenz überhaupt keine objektive Realität, sondern nur Konstrukte: "Dahinter steht die Vorstellung, dass es eigentlich nichts GIBT, weil dahinter kein Vater ist, der uns etwas GIBT." Oder, wie der just erwähnte C.S. Lewis sinngemäß schrieb: "Etwas zu durchschauen hat nur dann einen Sinn, wenn man dahinter etwas sieht. Das Fenster zum Garten ist durchsichtig, und das ist auch gut und sinnvoll - aber nur, weil der Garten dahinter nicht durchsichtig ist. Wer alles 'durchschaut', der sieht am Ende gar nichts mehr."
Ich hatte es schon einmal geschrieben: Allzu oft wird im kirchlichen Bereich entweder gar nicht über Gott geredet, oder wenn doch, dann in einer Weise, als wäre Er nicht DA. Bei der MEHR war man sich der Gegenwart Gottes zu jeder Zeit bewusst - bei den Vorträgen, im gemeinsamen Gebet und im Lobpreis (nicht umsonst gingen diese "Programm"-Elemente in der Regel nahtlos ineinander über, denn sie bildeten tatsächlich eine Einheit), aber natürlich auch abseits des Bühnengeschehens in der Stille der Eucharistischen Anbetung und im Sakrament der Versöhnung. Wie bei einer von einem Gebetshaus ausgerichteten Veranstaltung kaum überraschen dürfte, stand das Thema Gebet insgesamt stark im Mittelpunkt, gerade auch in den Vorträgen sowie in den Predigten der beiden Eucharistiefeiern; aber da dieser Text schon wieder so lang geworden ist und so lange gebraucht hat, mache ich an dieser Stelle erst mal einen Punkt und verschiebe alle weiteren Ausführungen auf später...
Ich möchte mich in aller Form bedanken für die Empfehlung, Johannes Hartl eine Chance zu geben - bis jetzt hat mich sein Stil zu sehr genervt, habe mich aber doch durchgerungen, einen seiner Vorträge ganz anzuhören, und war nun doch ziemlich beeindruckt. Danke auch für die langen Posts zur MEHR; ich denke, ich werde mir das nächstes Jahr mal geben.
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