Dienstag, 7. Juni 2016

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 6

Nachdem der Katholikentag und seine Nachbereitung einige Zeit in Anspruch genommen haben, wird es nun aber höchste Eisenbahn, dass ich mich mal wieder meiner Analyse des Romans Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau zuwende; meine Leser werden schon ungeduldig (nun ja, einige zumindest). 

Also, wo waren wir - vor dem Einschieben einer allgemeinen Zwischenbilanz zum Handlungsverlauf - stehen geblieben? -- Der schurkische Jesuit Rebinsky hat die beiden entlaufenen Klosterzöglinge und ihre Entführer in Thorn aufgespürt - und zu Beginn des XXIV. Kapitels erfährt der Leser, wie ihm das gelungen ist. Ein fahrender jüdischer Händler namens Jeitteles hat die Gesuchten in Thorn gesehen und dabei Kasimir Ubryk erkannt; dies teilt er in der Hoffnung auf Belohnung dessen Vater, dem Chef der geheimen Polizei, mit. (Bei den Verhandlungen des geschwätzigen Juden mit dem Polizeichef über eine Belohnung huldigt der Autor, nebenbei bemerkt, einmal mehr der schamlosesten Zeilenschinderei - und obendrein dem Antisemitismus, doch dazu später.) Jaromir gibt diese Informationen an Rebinsky weiter - allerdings erst mit einigen Tagen Verzögerung, da er es im Grunde gar nicht ungern sähe, wenn sein nichtsnutziger Sohn eine der reichsten Erbinnen des Landes heiratete. 

So kommt Rebinsky also erst in Thorn an, als die Doppelhochzeit bereits vollzogen ist; er weigert sich jedoch, diese als gültig anzuerkennen, und verlangt, dass die Frauen ins Kloster zurückgebracht und die Männer verhaftet werden. Der französische Festungskommandant ist jedoch verstimmt über Rebinskys arrogantes Auftreten und lässt ihn kurzerhand als angeblichen russischen Spion in Ketten legen; da ohnehin gerade ein anderer Spion sein Todesurteil erhält, soll Rebinsky ohne Weiteres mit diesem zusammen erschossen werden. Nun aber tritt Elka in Aktion und bittet um Gnade für ihn - immerhin hat sie ihn mal geliebt und hat ein Kind von ihm, und "es ist eine ewige Wahrheit, daß kein Weib das Bild des Mannes, der ihr ihre Unschuld geraubt, je wieder vergißt" (S. 256). Der Oberst verspricht ihr, Rebinsky das Leben zu schenken; dennoch wird der Jesuit zusammen mit dem anderen Verurteilten zur Richtstätte geführt, es wird eine Salve auf die abgefeuert, und der letzte Satz des Kapitels lautet "Rebinsky und der Spion stürzten zu Boden" (S. 257). Man kann aber wohl davon ausgehen, dass es sich nur um eine Scheinhinrichtung handelt. Die ganze Konstellation erinnert vage an die Scheinhinrichtung des Grafen Stephan Batthyány im II. Band von Sir John Retcliffes "Zehn Jahre!" (1862), ist aber natürlich erheblich kursorischer erzählt. 

Während Therese sich bald mit ihren Eltern aussöhnt und mit ihrem frischgebackenen Ehemann Wroblewsky nach Warschau zurückkehrt, leben Elka und Kasimir Ubryk für einige Zeit unbehelligt in Thorn - bis Kasimir das Geld ausgeht und er sich veranlasst sieht, "im Frühjahre 1807" (S, 259) als Offizier in ein polnisches Regiment der Napoleonischen Armee einzutreten. (Auf derselben Seite wird Elka als "kaum 19jährige Frau" bezeichnet; demnach müsste sie zu Beginn der Romanhandlung erst elf gewesen sein. Ich sag ja, die Zeitangaben im Roman hauen vorne wie hinten nicht hin.) Bei einem Erkundungsstreifzug gegen die Russen wird Kasimir schwer verwundet und gerät in Gefangenschaft; während die eigenen Leute ihn für tot halten, wird er, "da er aus russisch Polen stammte und somit als Rebell, als Hochverräther, betrachtet werden konnte" (S. 262), zur Deportation nach Sibirien verurteilt. Elka, die vom Verbleib ihres Mannes nichts weiß, kehrt zu ihrer Tante nach Warschau zurück und lernt dort auch ihren Schwiegervater Jaromir kennen, der sich sehr von ihr eingenommen zeigt. 

Als wäre der Autor durch diesen Auftritt Jaromirs daran erinnert worden, dass sich an diese Figur noch einige unerledigte Nebenstränge knüpfen, springt er im Kapitel XXVI zurück ins Jahr 1803, um die fast schon in Vergessenheit geratene Kindsvertauschungshandlung wieder aufzugreifen. Zunächst löchert Jaromirs älteste Tochter Paula ihren Vater mit Fragen nach dem Verbleib ihres kurz nach der Geburt verschwundenen jüngsten Bruders, bis er ihr schließlich eine stark geschönte Version des tatsächlichen Hergangs auftischt; und dann zeigt die Gräfin Satorin - der Name wird erst jetzt, S. 273, erstmals genannt - plötzlich Interesse daran, was aus ihrer leiblichen Tochter geworden ist. Das bringt Jaromir natürlich in erhebliche Verlegenheit, weshalb er seine Bemühungen wieder aufnimmt, nach dem Juden Aaron Königsberger zu forschen, der das Kind vier Jahre zuvor aus der Schenke mitgenommen hat. Diese Nachforschungen haben zunächst jedoch keinen Erfolg, und als die Gräfin Satorin Jaromir persönlich aufsucht, erfindet er ad hoc eine Ausrede dafür, dass das Kind nicht bei ihm ist: Er habe es bei einer Familie auf dem Lande in Pension gegeben. 

Auch Jaromirs Mitgliedschaft im "geheimen Revolutionskomité" (S. 267) wird in Kapitel XXVI erneut thematisiert, doch auch dies bringt die Handlung nicht wesentlich voran - abgesehen davon, dass Jaromir sich seines zwielichtigen Bekannten Biernacky, der ihn mit seiner Mitwisserschaft um die Kindsvertauschung erpresst, entledigt, indem er das Revolutionskomité veranlasst, Biernacky nach Paris zu schicken. 

Es erscheint fraglich, was den Autor veranlasst, in der Handlungsgzeit um vier Jahre zurückzugehen, wo ihm doch eigentlich daran gelegen sein müsste, rasch vorwärts zu kommen, um endlich mal dem auf der Titelseite angegebenen Thema des Romans näher zu kommen. Die mehr als dürftigen Ergebnisse des XXVI. Kapitels machen jedenfalls nicht den Eindruck, dass dem Verfasser inzwischen eingefallen wäre, wie er die Kindsvertauschungs- und/oder die Geheimbundhandlung sinnvoll mit der Haupthandlung verknüpfen kann. Somit ist auch kaum abzuschätzen, ob er in diesem Kapitel auf bereits vorliegendes Material aus früheren "Schichten" des Schreibprozesses zurückgreift oder ob er das Kapitel neu geschrieben hat, weil ihm gerade nichts Anderes einfiel. So oder so scheint dieser Einschub keinen anderen Zweck zu erfüllen als den, Zeit zu gewinnen - dabei sollte dem Autor doch klar sein, dass er, indem er Zeit gewinnt, gleichzeitig Raum verliert. Schließlich sind den Abonnenten, die sich zur Abnahme des ganzen Romans verpflichtet haben, 20 Lieferungen in Aussicht gestellt worden und nicht unbestimmt viele; und wir sind bereits in der 6. Lieferung. 

Aber es kommt noch schlimmer: In den Kapiteln XXVII-XXX (S. 232-352), die sich über mehr als die gesamte 7. Lieferung erstrecken, verliert der Verfasser offenbar komplett den Faden - was umso tragikomischer wirkt, als der erste Satz des XXVII. Kapitels verspricht: "Wir nehmen den Faden unserer Geschichte wieder auf" (S. 282). Ja, aber wann? - Tatsächlich eröffnet der Autor erst einmal einen völlig neuen Handlungsstrang, der mit dem bisherigen Handlungsverlauf lediglich durch die Figur Elka verbunden ist. Der Einzug der Franzosen in Warschau eröffnet nämlich einen bunten Reigen aus Maskenbällen, Theaterbesuchen und Duellen, der Verfasser streut sogar Gedichte in den Roman ein, die Elka von einem heimlichen Verehrer zugespielt werden, und als dieser, ein mecklenburgischer Adliger namens Hugo von Rassow, zwei seiner Rivalen im Duell besiegt, dabei aber selbst schwer verletzt und anschließend in Elkas Palast wieder gesundgepflegt wird, erzählt er ihr seitenweise seine ganze Lebensgeschichte. Wenigstens an einer Stelle dieser Erzählung wird ein leiser Hinweis auf die Klosterthematik angebracht: Ein junges Mädchen tritt aus enttäuschter Liebe zu Rassow "in ein Kloster der Elisabethinerinnen" ein und vermacht diesem Orden ihr ganzes Vermögen (S. 339). Insgesamt sind diese Passagen derart generisch geraten, dass sie mit minimalen Änderungen genausogut auch in einem ganz anderen Roman stehen könnten - was natürlich einmal mehr den Verdacht nahe legt, der Autor habe auf eigentlich für eine Veröffentlichung an anderer Stelle vorgesehenes Material zurückgegriffen, um sein Manuskript zu strecken. Aber ich habe das Gefühl, dass dieses Erklärungsmodell für die sprunghafte Handlungsführung des Romans sich allmählich etwas abnutzt. Gleichwohl bleibt - auch wenn Dr. Rode die Kapitel XXVII-XXX auf die Schnelle neu geschrieben haben sollte - die frage: Wieso sollte er überhaupt ein Interesse daran haben, die Handlung zu strecken? Wäre nicht im Gegenteil eher eine Raffung zweckmäßig? Laut meiner bisherigen Theorie über die verschiedenen "Schichten" des Entstehungsprozesses müsste in der Erstfassung des Romanmanuskripts doch reichlich Material über Klostergräuel darauf warten, verwendet zu werden. Müsste der Autor da nicht eigentlich daran interessiert sein, die Handlung einigermaßen zügig an den Punkt zu führen, an dem er dieses Material zum Einsatz bringen kann? Schließlich dürfte es auch das sein, worauf die Leser mit zunehmender Ungeduld warten. Aber tatsächlich führt Dr. Rode die Handlung in den Lieferungen 6 und 7 nicht auf diesen Punkt zu, sondern vielmehr davon weg. 

Natürlich gibt es, wenn man die Gepflogenheiten der Kolportage kennt (wie schon einmal gesagt: Karl May ist da ein illustratives Beispiel), allerlei denkbare Gründe, warum der Autor verhindert gewesen sein könnte, konsequent an einer stimmigen Handlungsführung zu arbeiten, und sich stattdessen genötigt sah, die Leser vorläufig mit Maskenball- und Duellepisoden bei Laune zu halten, wie sie jeder routinierte Kolportageautor wahrscheinlich sowieso als "Stehsatz" in der Schublade hatte. Vielleicht war er krank, vielleicht musste er verreisen, vielleicht hatte seine Frau ihn verlassen. Alles schon vorgekommen. Erklärlich könnte Dr. Rodes in dieser Phase der Romanpublikation so auffallend ausgeprägtes Bedürfnis, dem Leser gegenüber Zeit zu schinden, aber auch dadurch sein, dass inzwischen - wir befinden und vermutlich im Oktober oder November 1869 - neue Details über den realen Fall Ubryk bekannt geworden sein mögen, die den Autor zwangen, seinen Plan für den weiteren Handlungsverlauf noch einmal umzugestalten. Schließlich lief in Krakau derweil ein Prozess gegen die Leitung des Klosters, und die Tagespresse verfolgte den Fall mit Aufmerksamkeit - doch dazu ein Andermal. 

Obwohl ich eigentlich nicht übel Lust hätte, die Seiten 282-343 - bis zu dem Punkt, an dem der vermeintlich hingerichtete Rebinsky quicklebendig wieder auf der Bildfläche erscheint - komplett zu übergehen, gibt es ein paar Details, die mir erwähnenswert scheinen. Dazu gehört zunächst einmal, dass Dr. Rode sich wieder einmal gründlich in der Historie vertut, indem er die Franzosen erst im Herbst 1807 in Warschau einziehen lässt - was tatsächlich schon ein volles Jahr früher, am 28.11.1806, der Fall war. Hier wie auch an vielen anderen Stelle wirkt sich immer wieder der Irrtum des Verfassers aus, Warschau habe vor dem 4. Koalitionskrieg von 1806/07 zum russischen Teil Polens gehört. Sodann agieren in diesem Abschnitt des Romans einige historische Charaktere in der fiktionalen Handlung: Marschall Louis-Nicolas Davout (1770-1823), Generalgouverneur des Herzogtums Warschau, tritt nur relativ flüchtig in Erscheinung, indem er Elka seine Aufwartung macht und sie dazu bewegt, sich öfter 'in Gesellschaft' zu zeigen (S. 285f.); eine erheblich größere Rolle spielt Fürst Józef Antoni Poiatowski (1763-1813), der zeitweilig zum engeren Kreis der Verehrer Elkas gehört. Über diesen heißt es auf S. 299f.: 
"Unter den jungen Männern, welche Elka den Hof machten, [...] war der junge polnische Fürst Poniatowski, der später so berühmt wurde und nach der Schlacht bei Leipzig in der Elster seinen Tod fand. Er war eine der schönsten Männer seiner zeit und von hinreißender Liebenswürdigkeit. Er galt für unwiderstehlich, stand im Rufe eines Don Juan's und die Fama wußte zahllose Liebesgeschichten von ihm zu erzählen." 
Nun ja: Ob man einen Mann im Alter von 44 oder 45 Jahren noch als "jung" bezeichnen kann, ist vielleicht Ansichtssache. Die Angaben zu seinem Tod stimmen jedenfalls: Auf dem rückzug nach der Völkerschlacht bei Leipzig ertrank Fürst Poniatowski bei dem Versuch, die weiße Elster zu Pferde zu überqueren, nachdem die Brücke über den Fluss gesprengt worden war. 

Auf S. 337f. verwechselt der Autor dreimal die Namen zweier Nebenfiguren - was ein aufmerksamer zeitgenössischer Leser handschriftlich korrigierte. Solche Namensverwechslungen kommen durchaus auch bei Sir John Retcliffe und Karl May vor; an dieser Stelle sind sie aber ein ziemlich eindeutiges Indiz dafür, dass die betreffende Passage sehr hastig geschrieben wurde und dass sich niemand die Zeit genommen und die Mühe gemacht hat, vor dem Setzen Korrektur zu lesen. Nun hoffe ich geradezu darauf, dass sich im weiteren Verlauf des Romans noch mehr derartige Flüchtigkeitsfehler finden lassen - das könnte ausgesprochen aufschlussreich für die Analyse des Entstehungsprozesses des Romans sein. 

Auf S. 343, relativ kurz nach Beginn der 8. Lieferung, greift, wie schon angedeutet, der totgeglaubte Rebinsky erneut ins Geschehen ein - und der Leser schöpft Hoffnung. 

(Fortsetzung folgt!) 





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