HINWEIS: Der folgende Beitrag erschien zuerst - leicht
bearbeitet - am 26.09.2015 in der
Zeitung Die Tagespost, S. 9.
Sollte
Fahrraddiebstahl mit körperlicher Züchtigung bestraft werden? Sollte man
Menschen, die Müll auf die Straße werfen, das Haus anzünden? Immer mehr
Menschen scheinen mit solchen drakonischen Strafen zu sympathisieren –
zumindest dann, wenn sie selbst die Geschädigten sind. Nicht nur in Sozialen
Netzwerken ist eine Rückkehr des Konzepts der exzessiven Vergeltung zu
beobachten – eine Idee, die menschheitsgeschichtlich eigentlich seit
Jahrtausenden überwunden sein sollte.
von
Tobias Klein
Unlängst schnappte ich unfreiwillig einige
Bruchstücke eines Gesprächs zwischen zwei mir nicht näher bekannten Personen
auf – einem etwa dreizehnjährigen Mädchen und einer älteren Frau. Ein Satz des
Mädchens machte mich hellhörig: „Mein Vater hat gesagt, wenn das so weitergeht,
fackelt er das Asylantenheim ab.“ Im weiteren Verlauf schilderte das Mädchen,
womit die Bewohner der besagten Unterkunft diesen Zorn auf sich gezogen hatten:
Sie würden Müll auf die Straße werfen und Passanten anpöbeln, besonders Frauen
und Kinder.
Man kann verstehen, dass der Müll auf der Straße bei
den Anwohnern für Unmut sorgt, dass sie das Anpöbeln von Frauen und Kindern,
das bei den Betroffenen womöglich starke Ängste auslöst, nicht hinnehmen
wollen. Aber sollte es nicht eigentlich offensichtlich sein, dass es eine
völlig überzogene Reaktion auf derartige Vergehen darstellt, den Übeltätern das
Haus anzünden zu wollen? – In Zeiten, in denen Brandanschläge auf Unterkünftefür Asylsuchende an verschiedenen Orten Deutschlands nicht nur angedroht, sondern auch ausgeführt werden, mag die Vermutung nahe liegen, diese
Überreaktion habe ihre Ursachen in fremdenfeindlichen Vorurteilen, in der
aggressiven Stimmung gegen Flüchtlinge und Migranten, die in Teilen der
Gesellschaft geschürt wird. Womöglich würde der Vater weniger drastische
Vergeltungsmaßnahmen in Erwägung ziehen, wenn andere Nachbarn – und nicht ausgerechnet
„die aus dem Asylantenheim“ – in solcher Weise Ärgernis erregten.
Sicher kann man sich da allerdings nicht sein. Exzessive
Vergeltung, oder zumindest die Androhung einer solchen, scheint insgesamt im
Trend zu liegen. Im Internet kursieren zahlreiche Fotos von Aushängen, auf denen Menschen, denen beispielsweise ein Fahrrad gestohlen wurde, dem Dieb drastische Strafen androhen; das reicht von dem bloßen Wunsch, der Betreffende
möge sich „den Hals brechen“, bis hin zu der unverhohlenen Drohung „Ich werde
dich aufschlitzen“. Neben Fahrraddiebstahl ist auch Tierquälerei ein
Tatbestand, der oft extreme Reaktionen hervorruft: Lässt jemand beisommerlichen Temperaturen einen Hund im Auto zurück, machen die Forderungen
nach strenger Bestrafung des Täters zuweilen nicht einmal vor dem Ruf nach der
Todesstrafe halt. Die Weiterverbreitung derartiger Botschaften in Sozialen
Netzwerken lässt ein hohes Maß an Zustimmung für solche Rachegedanken erkennen.
Überhaupt scheint in Netzwerken wie Facebook die Hemmschwelle für drastische
Drohungen besonders niedrig zu sein: Hier genügt zuweilen schon eine
Meinungsäußerung, die als beleidigend empfunden wird, um mit Mord- oderVergewaltigungsdrohungen beantwortet zu werden.
Dass ein solcher Verlust des Gefühls für die
Verhältnismäßigkeit von Vergehen und Strafe oder, anders ausgedrückt, von
Schaden und Wiedergutmachung Anlass zu Besorgnis gibt, braucht wohl kaum eigens
betont zu werden. Menschheitsgeschichtlich kann man das Prinzip der exzessiven Vergeltung
als ein Relikt aus grauer Vorzeit betrachten. In einem der vermutlich ältesten
Texte der Bibel, dem „Lied des Lamech“ (Genesis 4,23f.), heißt es: „Ada und
Zilla, hört auf meine Stimme, ihr Frauen Lamechs, lauscht meiner Rede! Ja,
einen Mann erschlage ich für eine Wunde, und einen Knaben für eine Strieme.
Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach.“ Dieser Lamech,
der sich damit brüstet, jeden ihm zugefügten Schaden vielfach zu vergelten, ist
ein Enkel Kains, des ersten Mörders der biblischen Urgeschichte; der letzte
Vers stellt einen direkten Zusammenhang zwischen der Praxis der exzessiven
Blutrache und der Verfluchung Kains als Folge der Ermordung seines Bruders Abel
her. Dass Lamech sich mit der Verherrlichung seiner Gewalttätigkeit gerade an
seine beiden Frauen richtet – er ist übrigens auch der erste in der Bibel
erwähnte Polygamist –, lässt darauf schließen, dass er damit nicht zuletzt auch
seine Virilität betonen will.
Im so genannten „Bundesbuch“ des Volkes Israel, das
im Buch Exodus unmittelbar auf die Zehn Gebote folgt, wird das Recht auf
Vergeltung dagegen strikt in Hinblick auf Verhältnismäßigkeit reguliert: „Ist
weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, Auge für
Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde
für Wunde, Strieme für Strieme“ (Exodus 21,23-25). Beinahe gleich lautende
Bestimmungen finden sich auch schon im babylonischen Codex Hammurapi aus dem
18. Jh. v. Chr.: Es wird betont, dass die Strafe für ein Vergehen dem
entstandenen Schaden entsprechen müsse. Dieses Verhältnismäßigkeitsprinzip,
auch genannt „ius talionis“, zieht sich durch die römische und die
mittelalterliche europäische Rechtsprechung und wird als Regel für einen so zu
sagen „privaten“ Vollzug von Vergeltung letztlich erst in der Neuzeit durch die
Idee des Gewaltmonopols des Staates obsolet, die jegliche Selbstjustiz
untersagt.
Diese Ächtung der Selbstjustiz ist nicht zuletzt
deshalb eine so bedeutende zivilisatorische Errungenschaft, weil nach der Logik
der Blutrache jeder Akt der Vergeltung wiederum der Gegenseite einen Schaden
zufügt, der seinerseits Vergeltung erfordert. Ein häufig Mahatma Gandhi zugeschriebener Satz bringt das Dilemma auf den Punkt: „‘Auge um Auge‘ führt
dazu, dass die ganze Welt erblindet.“ Die zu Recht wohl berühmteste
Aufforderung dazu, den aporetischen Kreislauf der Vergeltung zu durchbrechen,
stammt aus der Bergpredigt: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für
Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses
antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt,
dann halt ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer vor Gericht bringen
will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich
einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm“
(Matthäus 5, 38-41). – Man wird kaum leugnen können, dass diese Forderung Jesu
– wie so viele ethische Anforderungen, die Er an Seine Gläubigen richtet – eine
schwere Zumutung darstellt. Es fällt leicht, dagegen einzuwenden, dass
derjenige, der diese Weisung befolgt, sich gegenüber demjenigen, der sich nicht
daran hält, stets im Nachteil befindet und so zu einem leichten Opfer für
jedwede Form von Ungerechtigkeit wird. Dieser Einwand verkennt jedoch, dass das
in diesen Worten Jesu geforderte Verhalten darauf abzielt, beim Gegner eine
Veränderung seiner Haltung zu bewirken. Die Ethik Jesu begnügt sich nicht mit
der Forderung, auf Vergeltung für erlittenes Unrecht zu verzichten, sondern
geht noch darüber hinaus, indem sie dazu aufruft, dem Gegner freiwillig noch
mehr zu geben, als dieser fordert. Diese Freiwilligkeit durchbricht radikal die
Logik der Gewalt und des Zwangs und ist somit geeignet, das Verhältnis der
Kontrahenten zueinander neu zu definieren; sie strebt – um es mit den WortenAbraham Lincolns zu sagen – darauf hin, den Feind zu besiegen, indem man ihn
zum Freund macht.
Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Ethik, in
der die Freiwilligkeit eine so zentrale Rolle spielt, nicht zur Basis einer
allgemeinen Gesetzgebung gemacht werden kann. Dennoch trägt auch der moderne
Rechtsstaat das Seine dazu bei, die Mechanismen der Vergeltung zu durchbrechen,
indem er die Justiz als neutrale Instanz zwischen die streitenden Parteien
stellt und unabhängig von deren Befindlichkeiten definiert, was Recht ist. Wenn
in einem solchen Rechtsstaat der Ruf nach Selbstjustiz laut wird, dann spricht
daraus für gewöhnlich die Auffassung, der Staat verfolge oder bestrafe
begangenes Unrecht nicht konsequent oder hart genug. Das betrifft naturgemäß
besonders solches Unrecht, als dessen – tatsächliches oder auch nur
potentielles – Opfer man sich selbst sieht. Um auf ein oben genanntes Beispiel
zurückzukommen: Wem ein Fahrrad gestohlen wird, für den bedeutet dies womöglich
eine massive Schädigung – einen zumindest temporären Verlust von Mobilität,
mithin eine Einschränkung seiner persönlichen Freiheit, Terminschwierigkeiten,
zusätzliche Kosten, Stress. Vor dem Gesetz dagegen ist ein Fahrrad nur ein
Gegenstand. Der Drang zur Selbstjustiz entsteht, wenn das individuelle Gefühl
der erlittenen Schädigung gegenüber dem unpersönlichen Bewertungsmaßstab des
Gesetzes verabsolutiert wird.
Wie dieser Drang zur Selbstjustiz schließlich auch
den Jahrtausende alten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit über Bord werfen und
zur exzessiven Vergeltung tendieren kann, dafür ist das oben angesprochene „Lied
des Lamech“ ausgesprochen lehrreich. Der Lamech des Buches Genesis singt ein
Loblied auf sich selbst und offenbart damit ein übersteigertes
Selbstwertgefühl: Er ist stolz auf seine Kraft und Gewalttätigkeit, darauf,
dass er zwei Frauen hat, und auf seine Abstammung von dem Mörder Kain. Er fühlt
sich berechtigt, seinen Gegnern weit Schlimmeres anzutun, als diese ihm angetan
haben, weil er meint, mehr wert zu sein als sie. Der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit geht von der Gleichwertigkeit der Menschen aus: Auch wenn
es in einem Unrechtsfall Täter und Opfer gibt, haben beide prinzipiell
dieselben Rechte. Wird diese Gleichheit an Wert und an Rechten verneint, dann
wird die Forderung nach Verhältnismäßigkeit gegenstandslos. So bewertete schon
der Codex Hammurapi Körperverletzungen an Sklaven grundsätzlich anders als
Körperverletzungen an Freien. Es entbehrt mithin nicht einer gewissen
inhärenten Logik, wenn Menschen vor allem solchen Personen gegenüber zu
exzessiver Vergeltung neigen, die sie aufgrund rassistischer, kulturalistischer
oder anderer Vorurteile – bewusst oder unbewusst – für minderwertig halten.
Dass dies weder mit rechtsstaatlichen Prinzipien noch mit dem christlichen
Menschenbild vereinbar ist, sollte sich indessen von selbst verstehen.
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