Mittwoch, 31. Dezember 2014

Das Kreuz mit dem Nordenhamer Ritus

Der Römische Ritus der Katholischen Kirche hat, wie liturgisch bewanderte Menschen wissen, eine ordentliche und eine außerordentliche Form. Der Nordenhamer Ritus hingegen hat lediglich eine unordentliche

Wer diesen Blog schon länger verfolgt, wird möglicherweise wissen, dass ich die Weihnachtstage traditionell bei meiner Mutter in meiner kleinen niedersächsischen Heimatstadt verbringe. Das hatte - wie ich hier und hier ausführlich geschildert habe - in den letzten Jahren neben den naheliegenden angenehmen stets auch seine unangenehmen Aspekte, und zwar in kirchlicher Hinsicht. Letztere rührten vor allem daher, dass es sich um eine erzheidnische Gegend handelt. Die Mehrheit der Bevölkerung ist zwar nominell evangelisch-lutherisch, aber eben nur nominell; und eine katholische Pfarrei gibt es zwar vor Ort, aber... aber. Ich will hier nicht wiederholen, was ich bereits in den Blogartikeln zu meinem Weihnachtsurlaub 2012 und 2013 geschrieben habe, aber wer das jetzt nicht alles nachlesen will, dem sei doch gesagt, dass mir auch dieses Jahr wieder vor der Aussicht graute, einer von Pfarrer Erhard B. zelebrierten Weihnachtsmesse beiwohnen zu müssen - einem Pfarrer, der ebenso für seine salbungsvollen, aber wirren Predigten bekannt ist wie für seine habituelle Missachtung der Liturgie. 

Wie sich zeigte, war ich, was Pfarrer B. angeht, allerdings schlecht informiert. 

Ich war das ganze Jahr nicht "in der Heimat" gewesen und hatte über die dortigen kirchlichen Entwicklungen keinerlei Erkundigungen eingeholt; und so dauerte es bis zum Mittagessen am 23. Dezember, bis ich en passant von meiner Mutter erfuhr, dass die Pfarrei St. Willehad einen neuen Pfarrer hat: Sowohl Pfarrer B. (74) als auch sein von mir sehr geschätzter, leider für die eher abgelegenen "Gottesdienststandorte" der Pfarrei zuständig gewesener Co-Pfarrer Alfons K. (73) sind im Frühjahr 2014 in den Ruhestand entlassen worden, und nun gibt es einen Nachfolger für beide

Kann ja nur besser werden, war mein spontaner Gedanke - jedenfalls im Vergleich zu Pfarrer B., dem "Schamanen von Butjadingen". 

Einem unklaren Impuls folgend, unternahm ich gleich nach dem Mittagessen einen Spaziergang zur St.-Willehad-Kirche, die, wie man es sich von einer Kirche wünscht, tagsüber stets offen steht. Dort versah ich mich erst einmal mit einem Faltblatt, das Auskunft über die Gottesdienstzeiten an den Weihnachtstagen gab, und registrierte als Pluspunkt für den neuen Pfarrer, dass dieser vor Weihnachten zusätzliche Beichtgelegenheiten zu den sonst regelmäßigen angesetzt hatte. (Da ich mit so etwas nicht hatte rechnen können, war ich schon am Tag vor meiner Abreise aus Berlin bei der Beichte gewesen - in St. Clara in Neukölln - und hatte mir seitdem noch nichts Schwerwiegendes aufs Gewissen geladen; aber trotzdem fand ich's gut.) Geräusche verrieten mir, dass ich nicht allein in der Kirche war, und das machte mir bewusst, dass ich eigentlich in der Hoffnung hierher gekommen war, vielleicht würde mir ja zufällig der neue Pfarrer über den Weg laufen. Tatsächlich war's aber "nur" eine junge Frau, die anscheinend den weihnachtlichen Schmuck in der Kirche arrangierte. Nun wollte ich aber nicht gleich wieder gehen und dachte mir: Für ein stilles Gebet ist immer der richtige Zeitpunkt

Ich hatte mich kaum in eine der hinteren Kirchenbänke gesetzt, da öffnete sich das Portal, und herein kam ein etwa fünfzigjähriger, dabei aber recht jugendlich wirkender Mann in Talar und Chorhemd. Für einen Messdiener hielt ich ihn aber eigentlich nicht. "Beten Sie ruhig weiter", sagte er freundlich, als ich mich zu ihm umwandte; ich jedoch fragte ihn: "Sind Sie der neue Pfarrer?" 
"Ja, ich bin der neue Pfarrer." 
Ich stellte mich ihm vor, erklärte, ich sei "nur zu Besuch", freue mich aber, dass er diese Pfarrei übernommen habe; er freute sich auch, wechselte noch ein paar ungekünstelt herzlich wirkende Worte mit mir, dann sagte er: "Ich bin dann mal in der Sakristei - ich hab' heute noch ein paar Termine. - Wir seh'n uns!" 

In meinem Kopf gesellte sich zu dem Gedanken Kann ja nur besser werden der Gedanke Ich glaub', das is'n Guter. Nachdem ich in der Bank noch ein Gesätz vom Rosenkranz gebetet hatte, schickte ich mich an, die Kirche zu verlassen, lief dabei aber der erwähnten jungen Frau über den Weg - die mich fragte, ob ich der Organist sei. Das musste ich verneinen, aber sie erwiderte lächelnd. "Na, trotzdem schön, dass Sie da sind." 

Ich kann gar nicht sagen, wann (oder ob je) ich mich an diesem Ort auch in kirchlicher Hinsicht so sehr zu Hause gefühlt habe. 

Da ich nunmehr auch den Namen des neuen Pfarrers - Torsten Jortzick - in Erfahrung gebracht hatte, befragte ich mittels meines Mobilgeräts gleich mal Onkel Google, was es denn so an Wissenswertem über diesen sympathischen Geistlichen gibt. Die Ergebnisse waren recht interessant. So war etwa zu erfahren, dass Pfarrer Jortzick zwölf Jahre lang in Dänemark tätig war und die Pfarrei in Nordenham nun auf eigenen Wunsch übernommen hat. Bedenkt man, dass er damit die Nachfolge von zwei bisherigen Gemeindepfarrern antritt, kann man sich vorstellen, dass er viel zu tun hat. Zu der Pfarrei St. Willehad gehören knapp 3.400 Katholiken - das ist mehr als doppelt so viel wie das durchschnittliche Zahlenverhältnis von Kirchenmitgliedern pro Priester in Deutschland - und ganze fünf Gottesdienststandorte, die bis zu 28 Kilometer voneinander entfernt liegen. Unterstützt wird der neue Pfarrer immerhin von einem Diakon, Christoph Richter, der ebenfalls neu in der Gemeinde und, wie ich später erfuhr, Familienvater ist.

Am Abend trieb mich der Wunsch, ein Bier (oder gegebenenfalls mehrere) zu trinken, aus dem Haus. Die Idee, mir ein Sixpack an der Tanke zu holen und nach Hause zurückzukehren, verwarf ich schnell, denn, wie es in Nestroys Der böse Geist Lumpacivagabundus so treffend heißt: "Im Wirtshaus muss man seyn, das ist der Genuß, da ist dann das schlechteste Gesäuf ein Hogu." Außerdem hoffte ich, ein paar Kneipengespräche aufzuschnappen, die sich womöglich für mein neues Dorfgrotesken-Projekt würden auswerten lassen. So verschlug es mich ins Eldorado, ein Lokal, das ich auch bereits in meinem Blogartikel über Weihnachten 2012 gewürdigt habe. Die anderen Gäste am Tresen waren durchweg ein gutes Stück älter als ich, und die meisten sahen nochmals deutlich älter aus. Stoff für Dorfgrotesken gab es in bescheidenem Maße, aber dann kamen sie irgendwie auf die Kirche zu sprechen. Vorzugsweise die katholische, denn über die lässt es sich besser lästern an einem Ort, an dem es kaum Katholiken gibt. Man war sich einig: Der ganze Laden sei korrupt, und da werde nur Quatsch erzählt. Sechs Tage in der Woche trieben die Katholiken allerlei Übles, und am Sonntag gingen sie beichten, kriegten für ihre Verfehlungen drei "Ave Maria" aufgebrummt und hätten wieder ein reines Gewissen. Von dieser Aussage kam man ohne Umstände auf den allgemein üblichen sexuellen Missbrauch von Messdienern durch Priester, und der Zölibat sei ja sowieso eine Farce, denn entweder seien die Priester schwul oder hätten Verhältnisse mit ihren Haushälterinnen (ganz so delikat drückten sich die Eldorado-Gäste allerdings nicht aus). Ich war drauf und dran, sie zu fragen, woher sie das alles denn so genau wüssten, da meldete sich ein etwas klein gewachsener Mittfünfziger zu Wort: Er sei ja eigentlich evangelisch ("Eigentlich bin ich das auch!" - "Ich auch!" - "Ich auch!"), zwar nicht direkt gläubig, aber es käme für ihn auch nie in Frage, aus der Kirche auszutreten - schließlich tue die Kirche viel Gutes und Unterstützenswertes, etwa im Bereich der Diakonie: Krankenpflege, Kinderbetreuung, Suchtberatung... Deshalb spende er der Kirche sogar jährlich einen festen Betrag zusätzlich zu dem, was er an Kirchensteuer zahle. "Und die Katholische Kirche macht in der Hinsicht sogar noch viel mehr als die evangelische!", sekundierte ein anderer Gast, der sich eben noch zotenreich über das ausschweifende Sexualleben katholischer Priester geäußert hatte. Na also, läuft doch, dachte ich mir. Muss ich mich ja gar nicht einmischen

Die erste Veranstaltung aus der Rubrik "Gottesdienste und Gottesdienstartiges" in St. Willehad, die ich während meines diesjährigen Weihnachtsurlaubs besuchen konnte, war die "Krippenfeier" am frühen Nachmittag des 24. Dezember. Sie wurde von Diakon Christoph Richter geleitet, der beim Einzug von einer Schar extrem niedlicher Kinder in Krippenspielkostümen begleitet wurde; auch das Publikum in der (übrigens rappelvollen) Kirche bestand hauptsächlich aus Familien mit kleinen Kindern. Dennoch empfand ich es als etwas gewöhnungsbedürftig, in einer Kirche, als Einzugslied, "Kling, Glöckchen, klingelingeling" zu hören bzw. singen zu sollen. Nun ja: Die ganze "Krippenfeier" erwies sich als eine etwas unentschlossene Mischung aus Wortgottesdienst und Kinderbespaßung. Liturgisch im Grunde ein Super-GAU, aber okay: Bei gottesdienstlichen Feiern, die keine Heiligen Messen sind und auch gar keine zu sein behaupten, sollten gewisse formale Freiheiten wohl erlaubt sein. Dass sie nicht Jedem gefallen, ist auch klar. Tatsächlich hatte ich, abgesehen von reinen Geschmacksfragen, aber wenig zu bemängeln. Dass die Verlesung des Weihnachtsevangeliums nach Lukas und das so zu sagen "halbszenische" Spiel der Krippenspielkinder auf etwas unklare Weise ineinander übergingen: Na ja. Den Text des Krippenspiels fand ich aber weitestgehend gut; ich war recht beeindruckt, dass darin sogar die symbolische Bedeutung der Gaben der Weisen aus dem Morgenland - Gold, Weihrauch und Myrrhe - angesprochen wurde. Überhaupt legte der Diakon unverkennbaren Wert darauf, die Bedeutung von Elementen dieser Feier, die man allzu leicht für selbstverständlich halten könnte, zu erläutern. So zum Beispiel die Bedeutung des Kreuzzeichens. Den Umstand, dass Beten bedeute, mit Gott zu sprechen. Was Fürbitten seien und warum man sie bete. Gar nicht so schlecht, dachte ich. In einer Gemeinde, die nach der dreißigjährigen Amtszeit von Pfarrer B. mehr oder weniger ins Heidentum zurückgefallen ist, muss man womöglich so ziemlich bei Null anfangen, und dafür bietet sich eine gottesdienstliche Feier für Kinder natürlich besonders an. Der Diakon ersparte den Kindern und ihren Eltern in all der Weihnachtsvorfreude auch einige Worte zu Ebola und zum Bürgerkrieg in Syrien nicht, aber vor allem hob er mehrfach eindringlich hervor, worum es an Weihnachten eigentlich gehe: darum, dass Gott Mensch wird, um die Menschen zu erlösen - weil Er sie liebt. Besonders wurde die Aufforderung an die anwesenden Kinder und Erwachsenen betont, die Herzen für Christus zu öffnen; und so gesehen ergab ja auch die Wahl von "Kling, Glöckchen, klingelingeling" - man beachte die dritte Strophe! - ja doch irgendwie Sinn.

Am frühen Abend betete ich für mich allein die Vesper, ehe ich zum Weihnachtsessen mit der Familie und zur anschließenden Bescherung aufbrach, die so ziemlich den Rest des Heiligabends einnahm. Am 1. Weihnachtstag war dann um 10:30 Uhr Messe in St. Willehad, und ich war gespannt darauf, Pfarrer Jortzick erstmals am Altar zu erleben. Nun, eins sei gleich vorausgeschickt: Hatte ich eine 180-Grad-Wendung gegenüber dem Stil seines Vorgängers erwartet, so wurde ich allerdings enttäuscht.

Dass die erste Lesung und damit auch der Antwortpsalm wegfiel, fand ich zwar betrüblich, aber es überraschte mich nicht unbedingt. Das habe ich schon in vielen Kirchen (in Berlin allerdings vergleichsweise selten) und auch bei liturgisch ansonsten sehr korrekten Zelebranten erlebt. Als jedoch zwischen zweiter (also einziger) Lesung und Evangelium das Lied "Ich steh an deiner Krippen hier" gesungen wurde, konnte ich mich der Frage Was soll das? nicht erwehren. Nichts gegen das Lied an sich, aber bietet die Liturgie den Nordenhamern etwa zu wenig Platz für Lieder, dass man partout eines an einer Stelle unterbringen musste, wo keins hingehört?

Erst recht glaubte ich meinen Ohren nicht zu trauen, als Pfarrer Jortzick das Evangelium vortrug - Johannes 1,1-18, oder, wenn man ehrlich ist: ungefähr Johannes 1,1-18. Der Pfarrer verfuhr nämlich, wie ich mich mit Hilfe des Schott überzeugen konnte, stellenweise recht frei mit dem Wortlaut der Heiligen Schrift, formulierte Sätze aus dem Stegreif um oder fügte Halbsätze hinzu. Man kann nicht sagen - beziehungsweise: ich konnte, als Nicht-Experte, nicht feststellen - dass er die Aussage des Texts damit tendenziös verändert, gar verfälscht hätte; seine Umformulierungen und Einfügungen sollten offenkundig vielmehr dazu dienen, die anspruchsvolle Johannes-Perikope den Hörern verständlicher zu machen. Nachvollziehbare Absicht, aber ich würde denn doch dafür plädieren, das Schriftwort und seine Auslegung deutlich auseinanderzuhalten. Für die Auslegung ist schließlich eigentlich die Predigt da. Vielleicht hätte der Pfarrer sich seine Eingriffe in den Text somit recht gut sparen können, wenn er denn über dieses Evangelium gepredigt hätte. Das war nicht der Fall. Stattdessen zeichnete sich die Predigt anfänglich dadurch aus, eine Vielzahl von Gedanken anzureißen und keinen davon konsequent zu Ende zu führen. Nach einer Weile kriegte Pfarrer Jortzick dann die Kurve und predigte recht schön und eindrucksvoll über die Kraft des Glaubens und das Leben aus dem Glauben. Den Satz "Dein Glaube hat dir geholfen", den Jesus in den Evangelien wiederholt an Menschen richtet, die er geheilt hat, zitierte der Pfarrer mehrfach, er bildete auch das Schlusswort der Predigt. Umso unverständlicher, dass anschließend das Credo weggelassen wurde...!

In den Fürbitten, genauer gesagt gleich in der ersten, wurde die vieldiskutierte Ansprache Papst Franziskus' beim Weihnachtsempfang der Römischen Kurie aufgegriffen: Gebetet wurde "für alle Mitglieder der Kirchenleitung, die an einer der vom Papst genannten fünfzehn Krankheiten leiden". Fein, dachte ich, für die Kurie beten ist sicher eine gute Sache. Noch besser hätte es mir allerdings gefallen, wenn zumindest in Erwägung gezogen worden wäre, dass auch außerhalb der "Kirchenleitung" Menschen an diesen fünfzehn Krankheiten leiden und darum des Gebetes bedürftig sein könnten. Womöglich sogar auch Laien, und vielleicht sogar, horribile dictu, hier in St. Willehad!

Im weiteren Verlauf der Messe zeichnete sich immer deutlicher ab, dass die liturgísche Mängelliste im Vergleich zum Vorjahr nicht wesentlich kürzer werden würde. Das Vaterunser wurde ohne Embolismus "durchgebetet". (Zur Beantwortung der ja immerhin denkbaren Frage Na und? verweise ich auf diesen Artikel von Kollegin Elsa.) Der Friedensgruß uferte in einem solchen Maße aus, dass man annehmen muss, das Rundschreiben der Gottesdienstkongregation vom letzten Sommer, demzufolge der Friedensgruß möglichst "nüchtern" gestaltet werden solle, um nicht von der Eucharistie abzulenken, sei hier wohl nicht angekommen. Obendrein wurde das Agnus Dei weggelassen und durch das Lied "In dulci jubilo" ersetzt. Schönes Lied, zweifellos, aber nicht an dieser Stelle! - Die Pointe all dieser liturgischen Unregelmäßigkeiten bestand schließlich darin, dass der Organist, nachdem die Messe etwa eineinhalb Stunden lang gedauert hatte, bereits das Schlusslied anstimmte, obwohl noch gar kein Entlassungssegen gespendet worden war. Er bemerkte seinen Irrtum allerdings recht schnell und brach das Orgelvorspiel ab. "Ich wollte eigentlich auch noch was sagen", kommentierte der Pfarrer lächelnd.

Leider war nach der Messe keine Gelegenheit, mit dem Pfarrer mehr Worte als einen kurzen Gruß zu wechseln; denn ich hätte ihn eigentlich gern Verschiedenes gefragt. Zum Beispiel, was er eigentlich gemeint hatte, als er in der etwas wirren ersten Hälfte seiner Predigt auch die Liturgie angesprochen und sie als eine "Inszenierung" bezeichnet hatte. Als studierter Theaterwissenschaftler hätte ich mich durchaus in der Lage gefühlt, eine fundierte Diskussion über das Verhältnis von Mimesis und Ritual zu führen, möchte aber hoffen, dass ich letztlich mit Pfarrer Jortzick Einigkeit darüber erzielt hätte, dass der eigentliche Sinn und Zweck der Liturgie nicht in einem irgendwie ästhetischen "Schauwert" liegt, sondern darin, das Heilige Messopfer gültig, würdig und in Einheit mit der ganzen Kirche zu feiern. Da ich weiterhin nicht glaube, dass ein studierter Theologe Nachhilfe in Altgriechisch benötigt, möchte ich annehmen, dass Pfarrer Jortzick weiß, dass Liturgie, im Kontext der Begriffsgeschichte betrachtet, "Pflicht" bedeutet. Was zusätzlich zu den liturgischen Texten noch so im Gottesdienst gesagt und gesungen wird, ist also so zu sagen die "Kür", aber man muss kein Eiskunstläufer sein, um zu wissen, dass keine noch so gelungene Kür etwas nützt, wenn die Pflicht nicht erfüllt wurde.

Dass die liturgische Mängelliste dieser Weihnachtsmesse alles in allem ähnlich umfangreich war wie diejenige der von Pfarrer B. zelebrierten im Vorjahr, überrascht bei einem Pfarrer, der sich selbst, "gerade was den Gottesdienst betrifft", als "gerne, geradezu heftig katholisch" bezeichnet und es als einen Vorzug der katholischen Liturgie hervorhebt, dass "die Formen dort immer gleich sind" (alle Zitate von hier). Was noch mehr überrascht, ist, dass es zu einem großen Teil genau dieselben liturgischen Verstöße waren wir bei seinem Vorgänger. Vielleicht bin ich einfach zu wenig in Diasporagemeinden außerhalb Berlins unterwegs (denn Großstadt-Diaspora - das wurde mir unlängst gesagt, und ich glaube, dass das stimmt - ist im Vergleich zur ländlichen Diaspora ein Luxusproblem), um beurteilen zu können, ob das womöglich landauf, landab so "üblich" ist, aber mir kam es tatsächlich so vor, als habe sich in Pfarrer B.'s langer Amtszeit so etwas wie ein eigenständiger Nordenhamer Ritus etabliert, an den sich nun auch "der Neue" halten müsse. An dieser Beobachtung könnte etwas Wahres dran sein, wenn man unterstellt, dass es in St. Willehad eine Art "Liturgiekreis" engagierter Laien gebe, der an der Gestaltung der Gottesdienste mitwirkt und darauf besteht, dass bestimmte Dinge so gemacht werden, wie sie (aus ihrer Sicht) "schon immer" gemacht wurden. Vorstellen könnte ich mir das.

Jedenfalls ging ich am darauffolgenden Sonntag, dem Fest der Heiligen Familie, erneut in St. Willehad in die Messe. Credo und Agnus Dei waren diesmal am ihnen gebührenden Platz, erste Lesung, Antwortpsalm und Embolismus fielen hingegen erneut aus, vor dem Evangelium wurde wieder überflüssigerweise ein Lied gesungen und der Friedensgruß artete erneut zu einem mittelgroßen Betriebsfest aus. Auffälliger fand ich diesmal jedoch etwas Anderes. Die zweite (also einzige) Lesung - Kolosser 3,12-17 - wurde vom Pfarrer als "eindrucksvoll" bezeichnet, aber ich zumindest hätte sie noch ein gutes Stück eindrucksvoller gefunden, wenn, wie im Messbuch eigentlich vorgesehen, auch noch die Verse 18-21 gelesen worden wären, welche da lauten:
"Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter, wie es sich im Herrn geziemt. Ihr Männer, liebt eure Frauen, und seid nicht aufgebracht gegen sie! Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern in allem; denn so ist es gut und recht im Herrn. Ihr Väter, schüchtert eure Kinder nicht ein, damit sie nicht mutlos werden!" 
Das Evangelium des Tages wurde weder in der vollständigen Fassung (Lukas 2,22-40) noch in der laut Schott ebenfalls zulässigen Kurzfassung (ohne Vers 23-38) vorgetragen, sondern es gab eine Art Zwischenlösung: Der Lobgesang des Simeon, Freunden des Stundengebets auch als Nunc dimittis bekannt, blieb drin, die Prophetin Hanna hingegen wurde weggelassen. Allerdings ersetzte Pfarrer Jortzick das (auch bei der #Twomplet des Öfteren bemängelte) Wort "Heiden" in Vers 32 durch "Menschen" und ließ auch den an Maria gerichteten Halbvers "Dir selber aber wird ein Schwert durch die Seele dringen" (V. 35b) weg.

Die Predigt ließ bei mir erneut den Wunsch aufkommen, der Pfarrer möge sich mal für die abgefahrene Idee erwärmen, über das Evangelium (oder gegebenenfalls eine der Lesungen) des Tages zu predigen. Aber nö, anlässlich des Fests der Heiligen Familie sprach er über die Synode zur Familienpastoral. Eine Positionierung zu den strittigen Themen der Synode - ich rechnete bereits mit einer, die mir nicht gefallen würde -, unterblieb jedoch, und zum Ende hin faserte die Predigt dann irgendwie aus.

Wenn ich einen gemeinsamen Nenner der genannten Auffälligkeiten bezüglich Lesung, Evangelium und Predigt benennen sollte, dann wäre es der, dass ängstlich alles vermieden wurde, was irgendwie Anstoß erregen könnte. Wer mich kennt, weiß, was ich von einer solchen Strategie halte, aber ich komme in Kürze auch noch darauf zurück. Zuvor muss ich aber noch auf die Kommunion eingehen: Pfarrer Jortzick bat zwei ältere Damen aus der Gemeinde an den Altar, die die Kommunion austeilen sollten - und er selbst blieb hinter dem Altar. -- Der Einsatz von so genannten Kommunionhelferinnen (meist sind es ja Frauen) ist in deutschen Landen zweifellos weit verbreitet, aber mal ehrlich, in den allermeisten Fällen ist er überflüssig und ein Ärgernis. Zulässig ist er eigentlich nur in eng definierten Ausnahmefällen (vgl. die Instruktion zu einigen Fragen über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester, Artikel 8, § 2). Dass aber der Priester seine Funktion als ordentlicher Kommunionspender komplett an zwei außerordentliche Kommunionspender(innen) abgibt, das geht gar nicht. Das ist einfach falsch.
(Folglich ging ich nicht zur Kommunion.)
Noch gesteigert wurde das Ärgernis dadurch, dass die Kommunionhelferinnen selbst, ebenso wie die Messdiener, die Kommunion eben doch vom Priester empfingen, und zwar, mit Ausnahme der Minderjährigen unter den Messdienern, "unter beiderlei Gestalt", also als Brot und Wein. Zu der Praxis bzw. Unsitte, einzelne "Erzlaien" im Unterschied zur übrigen Gemeinde zur Kelchkommunion zuzulassen, hat sich unlängst schon der Kollege Geistbraus geäußert, und ich brauche seine Argumente hier wohl nicht des Breiteren zu wiederholen. Nur soviel: Diese "Kommunion unter anderthalberlei Gestalt" schafft eine falsche Hierarchie und fördert die Eitelkeit der "Erzlaien", denen damit eine herausgehobene Stellung innerhalb der Gemeinde suggeriert wird, die sie wohl auch tatsächlich gerne hätten oder zu haben glauben. Das ist schädlich, das ist verwirrend, das ist einfach falsch. (Ich weiß, ich wiederhole mich. Das ist ein Stilmittel. Gerngeschehen.)

Alles in allem fallen zwei Charakteristika ins Auge: eine betont "niederschwellige" Verkündigung, die lieber auf Wohlfühlprosa setzt, als den Gemeindemitgliedern etwas zuzumuten, das sie in ihrem So-Sein womöglich in Frage stellen könnte; und eine ungesunde Überbetonung der Rolle einer Clique von "engagierten Laien". Und mir scheint, beides hängt eng miteinander zusammen. Das ist, frei heraus gesagt, ganz und gar nicht das, was ich mir von einem neuen Pfarrer für St. Willehad erhofft hätte. Dennoch mag ich meinen spontanen Ersteindruck, Pfarrer Jortzick sei "ein Guter", noch nicht widerrufen. Er ist ein erfahrener Seelsorger, erfahren insbesondere auch in den spezifischen Erfordernissen und Herausforderungen der Diaspora; gehen wir also einmal davon aus, dass er weiß, was er tut. Möglicherweise ist es einfach eine realistischen Kalkulation, dass er für seine Arbeit in dieser großen, räumlich weit zerstreuten Pfarrei ganz einfach auf die Mitarbeit der alteingesessenen "engagierten Laien" angewiesen ist und es sich daher schlicht nicht leisten kann, sie in irgendeiner Weise vor den Kopf zu stoßen. Ich weiß zwar nicht, wie man es auf diese Weise verhindern können soll, dass die Clique der "Erzlaien" sich selbst für "die Kirche" und den Pfarrer für ihren Angestellten hält; aber vielleicht weiß er es ja.

Nun könnte man natürlich meinen, mir könne es doch egal sein, wo ich doch kaum mehr als ein paar Tage im Jahr vor Ort bin und in Berlin im direkten Vergleich doch erheblich erfreulichere kirchliche Verhältnisse vorfinde. Es ist mir aber nicht egal. Einerseits, weil mir die Zukunft der Katholischen Kirche in meiner Heimatstadt, einem "Außenposten des Katholizismus" gewissermaßen, einfach am Herzen liegt; andererseits aber auch, weil ich glaube, dass die beschriebenen Phänomene im Kern nicht Nordenham-spezifisch sind, sondern symptomatisch für ein Problem, an dem die Katholische Kirche in Deutschland insgesamt krankt. In einem persönlichen Gespräch kleidete Bloggerkollege Tiberius dieses Problem einmal in das starke Bild: "Wenn von zehn Zähnen, die man hat, neun wackeln, dann tischt man eben kein Schwarzbrot auf." - Eine Kirche, die in erster Linie auf "Bestandskundenpflege" setzt und darum die Selbstzufriedenheit und die Eitelkeiten kleiner Gruppen von "Erzlaien" päppelt, verfehlt jedoch ihren göttlichen Auftrag und kann keine missionarische Kraft entfalten. - Man hört heute oft, die Kirche müsse auf die Menschen zugehen, um sie erreichen zu können. Die Richtigkeit dieser Aussage ist ohne Zweifel stark davon abhängig, was man unter diesem Auf-die-Menschen-Zugehen versteht. Denn zum Einen halte ich es für einen Irrtum, anzunehmen, die Kirche würde dadurch attraktiver, dass sie es den Menschen möglichst einfach macht und ihnen möglichst wenig zumutet; und zum Anderen - und vor Allem - ist es eben der Auftrag der Kirche, nicht das zu verkündigen, was die Menschen gern hören wollen, sondern Jesus Christus zu verkündigen. Und der ist nun einmal, wie schon der greise Simeon im Evangelium des vergangenen Sonntags voraussah, "ein Zeichen, dem widersprochen wird".

Pfarrer Torsten Jortzick jedenfalls - der diesen Satz, anders als gewisse andere Sätze, nicht nur nicht unterschlug, sondern sogar mit auffallendem Nachdruck aussprach - wünsche ich für seine Arbeit in St. Willehad von ganzem Herzen viel Glück und Gottes Segen.  

Donnerstag, 11. Dezember 2014

Besinnung und Besinnlichkeit




"Ich mache den ganzen Besinnungsstress diesmal nicht mit." Mit diesem bemerkenswerten Satz begann jüngst ein Radiobeitrag der Reihe "Kirche in WDR2", der in schriftlicher Form auch im Blog der Autorin erschien. Na klar, denkt sich da der geneigte Hörer oder Leser. Es ist ja auch eine Zumutung: "Als gäb es mit allen anderen stressigen Weihnachtsvorbereitungen nicht schon genug zu tun", soll man sich obendrein auch noch besinnen

Mir fällt beim Stichwort "Besinnung" im Zusammenhang mit Weihnachten immer ein Theaterstück ein, das, als ich in der 6. Klasse war, als Schüleraufführung für die Weihnachtsfeier meiner Schule einstudiert wurde. Den Titel habe ich vergessen. Ich hätte darin ursprünglich eine Hauptrolle spielen sollen, wozu es dann aber nicht kam, weil ich bei den Proben oft unkonzentriert war - was vielleicht verständlich ist, wenn man bedenkt, dass damals gerade mein Vater im Sterben lag. In diesem Stück jedenfalls ging es darum, dass ein Schüler einen Aufsatz über die Bedeutung von Weihnachten schreiben soll, während um ihn herum seine ganze Familie im Zuge der stressigen Weihnachtsvorbereitungen mehr und mehr die Nerven verliert. Inmitten der vorweihnachtlichen Hektik werfen diverse Familienmitglieder dem Sohn immer mal wieder Stichworte für seinen Aufsatz zu. Ganz zum Schluss stellt jemand das Schlagwort "Weihnachten - Fest der Besinnung" in den Raum, und der Sohn fragt: "Worauf sollen wir uns eigentlich besinnen?" Da er im allgemeinen Trubel keine Antwort erhält, insistiert er: "Worauf wir uns eigentlich besinnen sollen!?" Und dann fällt der Vorhang, die Frage bleibt unbeantwortet.

Christen sollte eine Antwort auf diese Frage eigentlich nicht schwer fallen: Im Advent geht es darum, sich auf die Ankunft des Herrn vorzubereiten. Gemeint ist damit nicht nur die Erinnerung an die Geburt Jesu als ein rund 2.000 Jahre zurückliegendes Ereignis, sondern auch die Vorbereitung auf Seine verheißene Wiederkunft - und nicht zuletzt auch, Ihn in uns selbst "ankommen" zu lassen. Andere Beiträger(-innen) zum Blogoezesen-Adventskalender haben das bereits besser und schöner in Worte gefasst, als ich es könnte. Erlaubt sei mir jedoch, einige Bibelstellen zu wiederholen, die das, was die adventliche Besinnung bewirken soll, in kraftvolle Bilder fassen:
"Eine Stimme ruft: Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste! Baut in der Steppe eine ebene Straße für unseren Gott! Jedes Tal soll sich heben, jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, und was hüglig ist, werde eben." (Jesaja 40, 3-4
"Seht, ich sende meinen Boten; er soll den Weg für mich bahnen. Dann kommt plötzlich zu seinem Tempel der Herr, den ihr sucht, und der Bote des Bundes, den ihr herbeiwünscht. Seht, er kommt!, spricht der Herr der Heere." (Maleachi 3,1
"Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Sieh, dein König kommt zu dir. Er ist gerecht und hilft; er ist demütig und reitet auf einem Esel, auf einem Fohlen, dem Jungen einer Eselin." (Sacharja 9,9
"Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen. Er soll euch, wenn er plötzlich kommt, nicht schlafend antreffen. (Markus 13,35-36
"Mitten in der Nacht aber hörte man plötzlich laute Rufe: Der Bräutigam kommt! Geht Ihm entgegen! Da standen die Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen zurecht." (Matthäus 25, 6-7; wir wissen, wie das Gleichnis weitergeht.)  
Im WDR2-Beitrag heißt es jedoch: "In den Bibeltexten, die meine Kirche im Advent liest, ist auch nicht viel von Besinnung die Rede". Ach nicht. Aha. Und wovon sonst?
"Da wird von einer ärmlichen Familie erzählt, in der die hochschwangere Frau sich noch einer beschwerlichen Reise aussetzen muss, weil ihr Lebensgefährte von der Besatzungsmacht zur Registrierung in Meldelisten gedrängt wird."
Ächz. Alle Jahre wieder begegnen einem in diversen Gemeindeblättchen, in der Weihnachtsbeilage der Lokalzeitung und/oder im "Wort zum Sonntag" solche Elaborate, in denen die Weihnachtsgeschichte nach Lukas (warum eigentlich nie die nach Matthäus? Die Flucht nach Ägypten würde sich doch mindestens ebensogut dazu eignen!) als alltägliches Flüchtlingsschicksal nacherzählt wird. -- Freilich: Dass solche Flüchtlingsschicksale alltäglich sind, ist ein Skandal, der auch und gerade Christen nicht kalt lassen kann und darf. Schließlich sollen wir in den ärmsten unserer Brüder (und Schwestern) Christus erkennen (vgl. Mt 25, 31-46). Aber umgekehrt geht dieser Satz nicht auf. Jedenfalls nicht ganz. Der arme Jesus, der in einem Stall zur Welt kommt, weil für seine hochschwangere Mutter in der Herberge kein Platz war, kann und soll uns ebenso wie der leidende Jesus am Kreuz (und auf dem Weg dorthin) an die Armen und Leidenden unserer Gegenwart mahnen; aber seine Bedeutung erschöpft sich nicht darin. Der da geboren wird, ist Gottes lebendiges Wort, der Erlöser der Menschen von Sünde und Tod - derjenige, über den es in Jesaja 9,5 heißt: "Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter; man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens." Ganz simpel ausgedrückt: An Weihnachten geht es nicht nur um die Menschwerdung Gottes, sondern auch um die Menschwerdung Gottes. Wenn wir das übersehen, laufen wir Gefahr, den christlichen Glauben auf ein bloßes ethisches und/oder politisches Programm zu reduzieren. 

In dem zitierten Beitrag folgt jedoch die steile These:
"Die, die da auf der Reise nach Bethlehem waren [...], die werden alles gemacht haben, was anstrengend ist, aber keine abendliche Schweigemeditation oder sowas ähnliches."
Hm. Sollten wir wirklich annehmen, die Selige Jungfrau und Gottesmutter Maria und der Heilige Joseph hätten vor lauter irdischen Bedrängnissen keine Zeit mehr gefunden, an Gott zu denken? Ich würde behaupten, die Evangelien erzählen uns da etwas Anderes. Sicher, für den Menschen von heute ist es oft schwierig, inmitten von alltäglichen Sorgen, Mühen, Verpflichtungen, aber auch Ablenkungen aller Art die Zeit für Gott zu finden. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, und ich nehme mal an, viele, wahrscheinlich die meisten meiner Leser teilen diese Erfahrung. Da mag es nahe liegen, zu unterstellen, es sei allen Menschen zu allen Zeiten so gegangen. Aber vielleicht täten wir besser daran, unsere Prioritäten zu überdenken und die vielleicht nur unbewusst in uns wirkende Auffassung in Frage zu stellen, "Spiritualität" sei ein Luxusartikel, den man sich erst dann "leisten" kann, wenn die Grundbedürfnisse des alltäglichen Lebens bereits abgedeckt sind. Dagegen empfiehlt der Hl. Franz von Sales: "Nimm dir jeden Tag eine halbe Stunde Zeit zum Gebet. Außer wenn du viel zu tun hast - dann nimm dir eine Stunde." - Auf die Besinnung verzichten, um Stress zu reduzieren? Nix da, sagt der Schutzpatron der Schriftsteller, Journalisten und Gehörlosen - ganz im Gegenteil! Sinnvoller mag da eine "Maßnahme gegen Adventshektik" sein, die der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick jüngst auf Twitter angeregt hat: " kommunikatives Neinsagen gegen vorweihnachtliche Feiern, Geschenkekaufrausch, Weihnachtsmärktebesuch etc.". Das mag schwer durchzuhalten sein, aber man kann's ja mal versuchen.

Ich habe vielleicht, vielleicht auch nicht, an anderer Stelle schon einmal erwähnt, dass ich unter anderem mal Theaterwissenschaft studiert habe. Das sicherlich lesenswerteste und unterhaltsamste Stück Pflichtlektüre, das mir in diesem Studium unterkam, war Lessings Hamburgische Dramaturgie. Darin rechtfertigt Lessing den Umstand, dass er so gern und oft gegen Voltaire vom Leder zieht, mit den Worten:
"Ein kritischer Schriftsteller, dünkt mich, [...] suche sich nur erst jemanden, mit dem er streiten kann: so kömmt er nach und nach in die Materie, und das übrige findet sich. Hierzu habe ich mir in diesem Werke, ich bekenne es aufrichtig, nun einmal die französischen Skribenten vornehmlich erwählet, und unter diesen besonders den Hrn. von Voltaire."
Ebenso habe ich mir für diesen Adventskalenderbeitrag die Autorin des oben erwähnten WDR2-Beitrags zum Streiten ausgesucht. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich nichts von dem, was ich hier schreibe, als persönlichen Angriff auf diese Autorin verstanden wissen möchte. Ich kenne sie von Twitter her, sie ist eine sympathische Person. Sie gehörte zu den initiatoren des Projekts #Twomplet, das mir sehr am Herzen liegt. Vielleicht beruhen unsere Meinungsverschiedenheiten zum Teil auch einfach auf Missverständnissen, auf einem unterschiedlichen Verständnis von Begriffen. Diesen Eindruck habe ich vor allem, wenn sie im Zuge ihrer Abweisung von "Besinnungsstress" gegen "Kerzenmeditation" und "Schweigemeditation" polemisiert und "Besinnung" kurzerhand mit "Gemütlichkeit" und "Rückzug" gleichsetzt - und somit, zusammenfassend gesagt, den Begriff der Besinnung mit dem der Besinnlichkeit kurzschließt. -- Ich habe größtes Verständnis dafür, wenn jemand auf den Begriff "Besinnlichkeit" allergisch reagiert; ja, ich möchte fast sagen, ich teile diese Allergie. Der Begriff "Besinnlichkeit" hat einen unschönen Beigeschmack von Betulichkeit, er beschwört unweigerlich Vorstellungen von Häkeldeckchen, pausbäckigen Posaunenengeln, Teetassen mit Blumenmuster und nicht zuletzt Kerzen herauf, Kerzen, überall Kerzen. Nichts gegen Kerzen im Allgemeinen, aber sie können einem schon mal zu viel werden. Die Besinnlichkeit verhält sich zur Besinnung wie die Gemütlichkeit zum Gemüt: Sie ist eine Verniedlichung, eine Domestikation, sie nimmt der Sache ihren Ernst und verwandelt sie in einen pittoresken, zwar hübsch anzuschauenden, aber letztlich nutzlosen Nippesartikel auf der Kommode der bürgerlichen Kleinfamilie. Ist man der Welt der gutbürgerlichen Schrankwände einmal entkommen, liegt es nahe, der Meinung zu sein, Besinnlichkeit nicht brauchen zu können; und in dem beschriebenen Sinne verstanden, stimmt das wohl auch. Aber Besinnung - das heißt, im Wortsinne: Sinn finden, zu Sinnen kommen, während man im alltäglichen Leben allzu oft von Sinnen, besinnungslos ist - diese Besinnung brauchen wir. Dringend, und nicht nur im Advent. Aber wenn es schon eine Zeit im Kirchenjahr gibt, die explizit dieser Aufgabe gewidmet ist - sollte man diese Zeit dann nicht nutzen?

Morgen wird der Blogoezesen-Adventskalender auf dem Blog des Rosenkranz-Atelier fortgesetzt. 

Mittwoch, 10. Dezember 2014

Sex, Gesang und Tanz oder Leben in Fülle

Neulich bin ich mal wieder in so eine Facebook-Diskussion hineingeraten... Eigentlich sollte es in dieser Diskussion um die Frage gehen, was auch hierzulande Jugendliche bzw. junge Erwachsene dazu treibt, sich von radikal-islamistischen Gruppierungen rekrutieren zu lassen und womöglich nach Syrien oder in den Irak zu gehen, um dort für den "Islamischen Staat" zu kämpfen. Allerdings zeigte die Diskussion praktisch vom Start weg die Tendenz zu verallgemeinernden Aussagen darüber, was "Religion" in den Köpfen von Menschen anrichtet. Wer öfter in Sozialen Netzwerken unterwegs ist, hat ja gewisse Erfahrungswerte, wie solche Diskussionen ablaufen können. Da wird von der Existenz eines gewaltbereiten religiösen Fanatismus bzw. eines religiös motivierten Terrorismus schnell mal auf die allgemeine Gefährlichkeit von Religion geschlossen - dass die große Mehrheit aller Menschen sich zu irgendeiner Religion bekennt, ohne deswegen Bomben zu basteln oder ihren nicht- bzw. andersgläubigen Mitmenschen die Köpfe abzuschneiden, kann man im vielfach atheistisch oder agnostisch dominierten Milieu der Sozialen Netzwerke wohl schon mal übersehen; wer diesen Umstand aber doch zur Kenntnis nimmt, unterscheidet gern zwischen "normalen Gläubigen" einerseits und Fundamentalisten bzw. Fanatikern andererseits - was jedoch interessanterweise i.d.R. nicht dazu führt, die Überzeugung, Religion sei prinzipiell gefährlich und tendiere zum Fanatismus, in Zweifel zu ziehen. So entsteht der Eindruck, unter "normalen Gläubigen" stellten sich jene, die diese Entscheidung vornehmen, solche Mitglieder von Religionsgemeinschaften vor, die ihren Glauben nicht allzu ernst bzw. wichtig nehmen.

Vielleicht ist es aus atheistischer und/oder agnostischer Sicht auch nur folgerichtig, das so zu sehen; denn dass jemand bereit ist, für seinen Glauben erhebliche Nachteile in Kauf zu nehmen, ja unter Umständen sogar sein Leben zu riskieren, muss jemandem, der einen solchen Glauben nicht hat, wohl schlechterdings befremdlich vorkommen. Das führt dann leicht zu Aussagen wie der folgenden:


Daran fand ich ja nun gleich Mehreres bemerkenswert - mit der Folge, dass ich es mir schlicht nicht verkneifen konnte, in die Debatte einzusteigen. Dabei unterließ ich es zunächst einmal, die Frage aufzuwerfen, inwiefern einem denn das Leben nach dem Tod, sofern man an ein solches glaubt, nicht wichtiger sein könnte als das irdische Leben. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Schlussfolgerung, der Glaube an ein Leben nach dem Tod führe "zu solchen Entscheidungen" - womit im Kontext der Debatte gemeint war: sich terroristischen Organisationen wie etwa dem IS anzuschließen. Ich warf daher ein, zwar liege es auf der Hand, dass der Glaube an ein Leben nach dem Tod die Bereitschaft erhöhen könne, für seinen Glauben zu sterben -- aber das sei doch etwas erheblich Anderes, als für seinen Glauben zu töten.

An dieser Stelle hätte man nun anfangen können zu räsonieren, ob die aus dem Glauben an ein Leben nach dem Tod resultierende Opferbereitschaft, statt den jeweiligen Gläubigen zu Selbstmordattentaten oder anderen terroristischen Akten zu motivieren, nicht auch zu etwas Gutem führen könne - zu selbstlosem sozial-caritativem Engagement etwa; man hätte auch Vermutungen darüber anstellen können, unter welchen Bedingungen Gläubige der einen oder anderen Religion eher zu Diesem oder zu Jenem neigen. Es kam anders, denn ein anderer Diskussionsteilnehmer grätschte dazwischen:



Aha - da haben wir sie, die "normalen Gläubigen". Diese erwarten also von einem jenseitigen Leben nichts signifikant Besseres als von ihrem Leben im Hier und Jetzt? Warum nicht? Weil ihr irdisches Leben eine einzige nicht enden wollende Geburtstagsparty mit Schampus und Sahnetorte ist? Weil sie hienieden weder Armut, Hunger noch Einsamkeit, weder Zahnschmerz noch Liebeskummer kennen? - Glaub' ich irgendwie nicht. Oder sollte die "Normalität" ihres Glaubens gerade darin bestehen, dass sie doch nicht so recht überzeugt davon sind, was sie im jenseits erwarten mag, und daher, wie es einst Hamlet formulierte, "die Übel, die wir haben, lieber / Ertragen als zu unbekannten flieh'n"?

Auf meine Erwiderung, das Leben nach dem Tod habe doch immerhin "die Perspektive, ewig zu sein", folgte, wenig überraschend, der Einwand, es habe "aber auch die Perspektive, gar nicht stattzufinden". Die in dieser Äußerung, wie mir schien, implizit anklingende Überzeugung, es sei besser, nicht an ein ewiges Leben zu glauben, wenn es dieses dann womöglich doch nicht gäbe, erinnerte mich unwillkürlich an Pascals Wette, deshalb antwortete ich schlicht mit einem Link auf den Wikipedia-Artikel zu selbiger.

Der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal (1623-1662) verglich in seinem Werk Gedanken über die Religion die Entscheidung, an Gott und ein ewiges Leben zu glauben oder nicht, mit einer Wette, deren Gewinnchancen und Verlustrisiken er gegeneinander abwog. Dabei kam er zu dem Ergebnis, es sei in jedem Fall besser, daran zu glauben; denn gebe es Gott und ewiges Leben nicht, dann könne man, gleich ob man zu Lebzeiten daran glaubt oder nicht, weder etwas gewinnen noch etwas verlieren; gibt es aber Gott und ewiges Leben, so kann man, wenn man daran glaubt, unendlich viel gewinnen, und wenn man nicht daran glaubt, unendlich viel verlieren.

Wohlgemerkt: An der Argumentation Pascals könnte man im Detail sicherlich das Eine oder Andere aussetzen. Den Punkt, auf den es mir in diesem Stadium der Diskussion einzig und allein ankam, stellt Pascal jedoch mit glänzender mathematischer Klarheit dar: Wenn es ein ewiges Leben nach dem Tod gibt, dann ist dessen Wert unendlich (im positiven Sinne, wenn es sich um ewige Seligkeit, im negativen, wenn es sich um ewige Verdammnis handelt). Im Vergleich zu dieser Unendlichkeit tendiert der Wert diesseitiger Freuden und Leiden gegen Null. Es ist also nur folgerichtig, dass die Aussicht auf ewige Seligkeit im Jenseits die Bereitschaft erhöht, im irdischen Leben Nachteile in Kauf zu nehmen oder, umgekehrt, auf Annehmlichkeiten zu verzichten.

Jenen Facebook-Nutzer, der zuerst die "normalen Gläubigen" ins Spiel gebracht hatte, überzeugte das allerdings ganz und gar nicht:


Da ich davon ausging, dass es sich bei dieser Religion, die Sex nur zur Fortpflanzung erlaubt und Tanz und Gesang verbietet, um ein willkürlich gewähltes, rein hypothetisches Beispiel handelte, verzichtete ich darauf, klarzustellen, meine Religion habe prinzipiell überhaupt nichts gegen Sex, Gesang und Tanz. Die zu erwartenden irritierten Nachfragen, zumal zu dem Punkt mit dem Sex, hätten vielleicht ganz spaßig werden können, hätten aber letztlich doch ein wenig vom Thema weggeführt. Oder von dem, was inzwischen zum Thema der Debatte geworden war.

Als viel wesentlicher betrachtete ich allemal den Umstand, dass mein Kontrahent, der so großen Wert darauf legt, "am Leben im Jetzt Spaß [zu] haben", in seinem Einwand gegen Pascal offenbar einem Missverständnis aufgesessen ist, für das man ihn allerdings kaum verantwortlich machen kann, da es so verbreitet und so hartnäckig ist, dass es - unter der Zwischenüberschrift "Die Kosten des Glaubens" - auch in den oben erwähnten Wikipedia-Artikel Eingang gefunden hat:
"Es wird auch argumentiert, dass der Glaube Lebensfreude [!] kosten kann, weil die gläubige Person nicht an Aktivitäten [!] teilnehmen darf [!], die durch das Dogma [!] verboten werden."
Kurz gesagt wird hier der Eindruck erweckt, Glauben laufe auf eine Art Vertrag zwischen Gott und Mensch hinaus, bei dem der Mensch sich verpflichtet, auf bestimmte Dinge zu verzichten, die ihm Spaß machen würden, die Gott aber verboten hat - und zur Belohnung erhält er eine Eintrittskarte in den Himmel. Diese Auffassung mag ja durchaus verbreitet sein, womöglich auch unter Menschen, die sich selbst als gläubige Christen verstehen - sie ist aber im Kern nicht christlich, sondern bestenfalls pharisäisch. Man kann ihr nicht vehement genug widersprechen, denn "nach innen" fördert sie Selbstgerechtigkeit und etwas, das man auf Englisch "judgementalism" nennt (wie heißt das eigentlich auf Deutsch?), "nach außen" aber das Missverständnis von Religion als großer Spaßbremse.

Zu fragen wäre hier unter anderem: Wie wäre der Glaube an einen liebenden Gott mit der Vorstellung vereinbar, Gott gönne den Menschen keinen Spaß? - Nun, der entscheidende Punkt ist, dass Gott nicht nur, wie ein liebender Vater (oder eine liebende Mutter), das Beste für seine Kinder will, sondern als Schöpfer aller Dinge auch tatsächlich weiß, was das Beste für die Menschen ist - besser als die Menschen selbst es wissen. Und Spaß ist an sich gewiss nicht zwangsläufig etwas Schlechtes, aber das höchste aller Güter ist er auch nicht. Wie nun, wenn Gott für die Menschen etwas Besseres im Sinn hat als bloßen Spaß?

Jeder Mensch weiß aus eigener Erfahrung, dass das tägliche irdische Leben aus einer Vielzahl von Dingen besteht, die keinen Spaß machen. Umso verständlicher ist es, dass viele Menschen so versessen darauf sind, sich die Dinge, an denen sie Spaß haben - Sex ist hier zweifellos ein wichtiges Thema; daneben mag es für den Einen Gesang und Tanz sein, für den Anderen vielleicht Fußball, Computerspiele, Orchideenzucht, Motorradfahren, was auch immer - auf keinen Fall nehmen zu lassen; denn sie sagen sich: Wenn ich das nicht mehr hätte, was hätte ich dann noch vom Leben? Bei nicht Wenigen geht das so weit, dass sie meinen, wenn sie eines Tages - etwa aus gesundheitlichen Gründen - zu den Dingen, die ihnen Spaß machen, nicht mehr in der Lage sein sollten, würden sie sich lieber einschläfern lassen. (Ob sie das immer noch so sehen, wenn dieser Fall dann eintritt, oder ob sie dann doch mehr am Leben hängen als gedacht, ist eine andere Frage.)

Ich erinnere mich an eine Predigt, die ich in meiner Jugend gehört habe und in der der Pfarrer den oft gehörten Satz "Ich will schließlich etwas vom Leben haben" aufgriff. Seine Erwiderung lautete: Gott will nicht, dass wir etwas vom Leben haben, sondern dass wir Leben in Fülle haben (vgl. Joh 10,10). -- Spaß, ich wiederhole mich, ist sicher nicht prinzipiell etwas Schlechtes; in einer Welt voller Frustrationsquellen ist er wohl oft sogar ein notwendiges Ventil. Als primärer Lebenszweck ist er aber doch ein wenig banal. Zudem ist nicht alles, was Spaß macht, gut oder auch nur akzeptabel. Dinge, die Spaß machen, können dumm, gefährlich oder sogar grausam und egoistisch sein. Spaß kann man auf Kosten seiner Mitmenschen haben und auch auf Kosten der eigenen körperlichen, geistigen und seelischen Unversehrtheit.

Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang doch ganz hilfreich, auf das Sex-Beispiel von oben zurückzukommen. Die Auffassung, das Christentum - besonders in seiner katholischen Ausprägung - erlaube Sex nur zur Fortpflanzung, bekommt man ja immer mal wieder aufs Brot geschmiert, dabei müsste man nur mal in den Katechismus schauen, um festzustellen, dass das so nicht stimmt. Was da allerdings in der Tat drinsteht, ist, dass die Fortpflanzung ein zentraler, nicht wegzudenkender Aspekt von Sexualität ist. Das heißt, wer zwar Sex haben, sich dabei aber auf keinen Fall fortpflanzen will, beraubt die Sexualität einer ihrer wesentlichen Dimensionen; was er damit auslebt, ist eine reduzierte, man kann auch sagen: deformierte, beschädigte Form von Sexualität. Das gilt natürlich noch umso mehr, wenn man die Sexualität zudem auch noch anderer Aspekte entkleidet, die für sie ebenso wesentlich sind bzw. sein sollten - etwa derjenigen der liebevollen Hingabe an den Partner. Sex "nur zum Spaß" zu haben, bedeutet so gesehen geradezu eine Herabwürdigung der Größe und Schönheit dessen, was Sexualität sein soll, und es bedeutet, sich selbst und den jeweiligen Partner zu erniedrigen. Und das betrifft nicht allein die Sexualität; es lässt sich mehr oder weniger auf alle Dinge anwenden, die man in einer "uneigentlichen", reduzierten und somit letztlich korrumpierten Form konsumiert, weil man nur kurzfristige Befriedigung darin sucht.

Pascal spricht nicht ohne Grund von "verpesteten Freuden", die der gläubige Mensch "aufgeben" solle - ja, er argumentiert sogar, sie aufzugeben sei ein Weg, um gläubig zu werden. -- Also doch Verzicht auf Freuden? Nun wohl; aber eben nur auf "verpestete" Freuden, also solche, die einem letztlich selbst nicht gut tun. "Aber wirst du nicht andre Freuden haben?", fragt Pascal zu Recht.
"Was wird dir Uebeles widerfahren, wenn du dies Theil ergreifst? Du wirst treu sein, rechtschaffen, demüthig, dankbar, wohlthätig, aufrichtig, wahrhaftig. [...] Ich sage dir, du wirst gewinnen, noch in diesem Leben". 
Es ist bemerkenswert, dass in Diskussionen über Pascals Wette oder überhaupt über Sinn oder Unsinn des Glaubens gerade dieser Aspekt regelmäßig unter den Tisch fällt - wohl weil er so massiv der von Religionskritikern diverser Couleur geradezu dogmatisch verfochtenen Auffassung widerspricht, der Glaube an ein Leben nach dem Tod habe lediglich eine Vertröstungsfunktion und halte den Menschen somit objektiv in seinem Elend fest. Eben nicht!, möchte man da ausrufen; oder, mit den Worten Papst Benedikts XVI. aus der Predigt zu seiner Amtseinführung antworten:
"Habt keine Angst vor Christus! Er nimmt nichts, und er gibt alles. Wer sich ihm gibt, der erhält alles hundertfach zurück."
-- Und zwar, möchte man zur Verrdeutlichung hinzufügen: nicht erst im Jenseits. Zwar kann es die vollkommene Freude - vollkommen, weil sie a) durch kein Leid getrübt ist und b) kein Ende haben wird - erst nach dem Tod geben. Dennoch kann jeder, der auf Gott vertraut, schon in diesem Leben etwas von jenem "Leben in Fülle" erfahren, das Jesus Christus verheißt - eine Freude, zu der Jene, die nur der Befriedigung ihrer Leidenschaften im Hier und Jetzt nachjagen, keinen Zugang haben. Und so ist dem christlich Glaubenden jede Freude - jede echte, nicht "verpestete" Freude -, die er in diesem Leben erfährt, bereits ein Vorgeschmack auf den Himmel.

Freitag, 5. Dezember 2014

Kleines nicht ganz so katholisches Nebenprojekt...

Ich habe ein altes Hobby wiederentdeckt: Online-Ausgaben von Lokalzeitungen aus der norddeutschen Pampa nach möglichst skurrilen Nachrichten durchforsten. Was ich dabei innerhalb kürzester Zeit so alles entdeckt habe, hat mich dazu inspiriert, eine Serie von Dorfgrotesken in Angriff zu nehmen - woraus mit ein bisschen Glück vielleicht irgendwann ein Buch wird, aber vorerst habe ich für dieses Projekt mal einen Blog angelegt: 


Eine erste Geschichte ist auch schon fertig (vorbehaltlich möglicher Nachbesserungen) und erschienen. Aus saisonalen Gründen ist sie in der Vorweihnachtszeit angesiedelt, und die ein, zwei, drei nächsten werden das wohl auch sein. Warnend sei allerdings erwähnt, dass es in der Samtgemeinde Landkreis recht makaber zugeht. Wem das Projekt trotzdem (oder gerade deswegen) gefällt, der kann dem "Landkreisboten" auch 

- auf Twitter folgen und/oder ihn 

Ich bin gespannt auf Euer Feedback! 

Und keine Sorge: Hier gibt's demnächst auch wieder etwas im gewohnten Stil zu lesen... :) 

Mittwoch, 26. November 2014

Was ist eigentlich "Fundamentalismus"? (Und vor allem: was nicht?)

Ich deutete es jüngst schon einmal an: Immer mal wieder widerfährt es mir, dass ich - v.a. im Zusammenhang mit meinem Blog und/oder meinen Aktivitäten in sozialen Netzwerken - als "christlicher Fundamentalist" eingestuft werde. Eine Einschätzung, die mich zunächst beträchtlich irritiert hat, ist doch Fundamentalismus - so, wie ich den Begriff verstehe - etwas, das ich von jeher entschieden ablehne. - Der Punkt ist jedoch: Andere verstehen den Begriff offenkundig anders. Wenn ich mir ansehe, was für Positionen in öffentlichen oder auch privaten Debatten als "fundamentalistisch" eingestuft werden, dann ist da schon so Manches dabei, womit ich mich voll und ganz identifizieren kann - sodass ich manch Einem, der mich einen Fundamentalisten schimpft, ehrlicherweise wohl gar nichts Anderes erwidern könnte als: "Stimmt. So einer bin ich." 

Wenn ich also nach eigenem Verständnis dem Fundamentalismus ausgesprochen fern stehe, nach dem Verständnis Anderer aber ein waschechter Fundi bin, dann scheint da demnach ein ganz erhebliches Begriffswirrwarr zu herrschen. Und nun müsste ich wohl kein staatlich geprüfter Klugscheißer sein, wenn mich das nicht veranlassen sollte, der Sache einmal ein wenig auf den Grund zu gehen. 

Ich erinnere mich, den Begriff "Fundamentalismus" in den 80er Jahren fast ausschließlich in zweierlei Kontexten gehört zu haben: im Zusammenhang mit den nicht enden wollenden Flügelkämpfen zwischen "Fundis" und "Realos" bei den Grünen; und im Zusammenhang mit dem Islam, hier insbesondere bezogen auf das Mullah-Regime im Iran und auf von diesem geförderte Terrororganisationen wie die Hisbollah. In meinen Teenagerjahren schnappte ich dann aber irgendwie, und zwar vermutlich im Zusammenhang mit meinem in diesen Jahren ausgesprochen ambivalenten Verhältnis zu evangelikalen Freikirchen, doch auf, dass der Begriff ursprünglich in einem christlichen Kontext geprägt worden war. 

Und dann besuchte ich eines Tages meine Schwester und meinen Schwager in Gießen, wo mein Schwager damals an der Freien Theologischen Akademie (heute: Freie Theologische Hochschule) studierte. Die FTA stand damals im Ruf, eine ausgesprochene Fundamentalisten-Kaderschmiede zu sein; und als am Frühstückstisch die Rede davon war, dass mein Schwager in diesem Semester eine Vorlesung über Fundamentalismus besuche, konnte ich mir den Scherz nicht verkneifen: "Wieso, wird bei euch auch noch was Anderes gelehrt?" -- Ich ging dann aber trotzdem mit zu der Vorlesung, und sie war ausgesprochen interessant. 

Was ich in dieser Vorlesung lernte und bis heute behalten habe, wird übrigens auch im einschlägigen Wikipedia-Artikel in den wesentlichen Punkten bestätigt. So zum Beispiel, dass der Begriff "Fundamentalismus" zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand und sich zunächst auf die von dem US-amerikanischen Erweckungsprediger Reuben Archer Torrey herausgegebene Schriftenreihe The Fundamentals - A Testimony to the Truth bezog - eine Schriftenreihe, die das Ziel verfolgte, die ewigen Wahrheiten des christlichen Glaubens gegen die liberale Theologie jener Zeit zu verteidigen. Jene Glaubensaussagen, die in den Fundamentals als unveräußerliches Glaubensgut des Christentums hervorhoben, fasste die Generalkonferenz der presbyterianischen Kirche im Jahre 1910 in folgenden fünf Punkten zusammen:

- die Irrtumslosigkeit und Autorität der Bibel
- die Gottheit Jesu Christi
- die Jungfrauengeburt und Wunder
- Jesu Tod für die Sünden der Menschen
- Seine leibliche Auferstehung und Wiederkunft.

Nun gut: Wenn man das so liest - und dabei den ersten Punkt vorläufig mal einklammert und mit einem Fußnoten-Sternchen versieht, auf das wir dann auch in Kürze zurückkommen wollen -, dann kann man zu dem Schluss kommen: Das alles glauben Katholiken doch auch. Andersherum könnte man sich fragen, woran denn ein nicht-fundamentalistischer Christ glaubt. Oder anders ausgedrückt: inwieweit jemand, der diese fünf Punkte nicht anerkennt, überhaupt als Christ zu bezeichnen sei. Aber wir haben ja erst kürzlich gelernt, dass "Alles, was sich so nennt, [...] das Christentum" ist und dass es falsch wäre, "festlegen zu wollen, was rechtmäßig dazu gehört und was nicht". Lassen wir diesen Punkt also getrost erst einmal außen vor und bleiben vorerst bei der Frage: Sind wir etwa alle Fundamentalisten? - Nein, sind wir nicht. Dankenswerterweise betont Wikipedia, das Kriterium der Zustimmung zu den genannten fünf Punkten "genüg[e] nicht, um den christlichen Fundamentalismus trennscharf zu definieren", und hebt als definitorisches Kennzeichen des Fundamentalismus "eine biblizistische Auslegung der Bibel" hervor. -- Biblizistische Bibelauslegung, das klingt etwas tautologisch und fast schon absurd. Ist es aber nicht. Natürlich ist die Bibel auch für Katholiken und Angehörige anderer nicht-protestantischer Konfessionen die Grundlage der christlichen Glaubenslehre; dem Protestantismus eigen ist hingegen der Grundsatz sola scriptura, der darauf hinausläuft, nur solche Glaubenslehren anzuerkennen, die sich aus dem Wortlaut der Bibel erschließen lassen. Der Biblizismus wiederum ist gewissermaßen eine verschärfte Form des Sola-scriptura-Prinzips, indem er - abermals laut Wikipedia - "alle oder nahezu alle Texte der Bibel im Wortsinn zu verstehen behauptet", weshalb ihre Aussagen "auch als historische oder naturwissenschaftliche Aussagen nicht anzweifelbar" seien.

In diesem Sinne ist der Fundamentalismus ein genuin protestantisches Phänomen, und so habe ich den Begriff auch immer verstanden. Dennoch ist in jüngerer Zeit verstärkt auch von einem katholischen Fundamentalismus die Rede. Dagegen wäre einzuwenden, dass die "Ultras" innerhalb der Katholischen Kirche, auf die dieser Begriff gern angewandt wird, in der Hauptsache Traditionalisten sind; hingegen ist der Fundamentalismus protestantisch-evangelikaler Prägung entschieden anti-traditionalistisch. "Tradition" ist dem evangelikalen Fundamentalisten ein Buh-Wort, das alles umfasst, was sich im Laufe der Jahrhunderte in die christliche Lehre und Praxis "eingeschlichen" habe, ohne biblisch fundiert zu sein. Ein gutes Bild von dieser Auffassung kann man sich machen, indem man - beispielsweise auf Facebook - die Kommentare zu solchen Meldungen des evangelikalen Nachrichtenportals Idea liest, in denen es um die Katholische Kirche oder gar um Annäherungen zwischen Katholiken und Evangelikalen geht. Da kommen sie regelmäßig aus ihren Löchern, die Bibel-Fundamentalisten, und lamentieren lang und breit, mit Katholiken könne und dürfe man sich nicht gemein machen, weil die ja lauter Sachen glauben, die nicht in der Bibel stehen (und deshalb keine richtigen Christen sind). Erscheint der Begriff eines katholischen Fundamentalismus somit als Widerspruch in sich, so stößt man dennoch zuweilen auf die Argumentation, der katholische Traditionalismus sei auch eine Art von Fundamentalismus, nur dass er eben anstelle des Wortlautes der Bibel eher die kirchliche Tradition als sein "Fundament" ansähe. -- Nun gut, so kann man argumentieren. Man kann auch behaupten, alle Säugetiere wären im weitesten Sinne Kühe oder alle Farben wären irgendwie blau. Die Frage ist nur, wie sinnvoll derartige Behauptungen sind. Ich möchte hier auf eine Passage aus Max Goldts bemerkenswertem Essay "Adjektive und Eklats" (2001) verweisen:
"Ja, lieber Herr Stockhausen, Sie sind ja von einer Zeit geprägt worden, in der erweiterte Begriffe modisch waren [...], und insofern ist mir Ihr erweiterter Kunstbegriff durchaus verständlich, wenngleich ich selbst ein Anhänger der Einengung von Begriffen bin, denn wenn man sie zu sehr erweitert, verlieren sie ihre Bedeutung." (Quelle: Max Goldt, Wenn man einen weißen Anzug anhat. Taschenbuchausgabe Reinbek bei Hamburg 2004, S. 32)
Denjenigen, die den Begriff "Fundamentalismus" lediglich als negativ besetzten Kampfbegriff verwenden, kann das natürlich egal sein, oder besser gesagt: Ihnen kann eine möglichst weite Definition des Begriffs nur recht sein, wenn es darum geht, christlich motivierte Stellungnahmen in öffentlichen Debatten möglichst umfassend zu delegitimieren. Die Bezeichnung "Christ" mag sich auf Berliner Schulhöfen mit hohem muslimischen Schüleranteil als Schimpfwort eignen, aber gesamtgesellschaftlich mehrheitsfähig ist die Auffassung, Christ zu sein sei per se etwas Schlechtes, wohl (noch) nicht. Da ist es praktisch, wenn man auf die eindeutig negativ besetzte Vokabel "Fundamentalist" zurückgreifen kann, wenn es gilt, Christen zu diffamieren, für die ihr Glaube nicht nur "Privatsache" ist, sondern die es wagen, ihn in die Öffentlichkeit zu tragen. Wie weit sich der Fundamentalismus-Begriff ausdehnen lässt, dafür habe ich jüngst auf einem Berliner Antifa-Portal ein illustratives Beispiel gefunden: In einem zugegebenermaßen nicht mehr ganz brandaktuellen Artikel über ein christliches Sommerfest auf dem Tempelhofer Feld wird vor "evangelikalen, also fundamentalistischen Christ_innen" gewarnt - denn diese "betrachten die Bibel - zum Teil wortwörtlich - als Grundlage des Lebens". Schockschwerenot! Was meine viellieben "Freunde" von der Antifa hier höchstwahrscheinlich meinen, ist "die Bibel als Maßstab oder Richtschnur für das (eigene) Leben betrachten" - und das kann ich für Christen, egal ob evangelikal-fundamentalistisch oder nicht, nicht so ungewöhnlich finden: Die Bibel als irgendetwas Anderes betrachten, z.B. als beeindruckendes Stück Literatur, als bedeutendes geistes- und kulturgeschichtliches Dokument oder einfach als interessante Lektüre - kann man schließlich auch ganz unabhängig von der Religionszugehörigkeit, sogar als Agnostiker oder Atheist. Nun aber auch noch "zum Teil wortwörtlich"?! - Sehr schön finde ich hier die Einschränkung "zum Teil". Ein vollkommen wortgetreues Bibelverständnis wird den Fundamentalisten hier demnach nicht attestiert. Das heißt: Sollte ich mich mal dazu versteigen, ein Hemd aus 50% Baumwolle und 50% Polyacryl anzuziehen, und dies trotz des eklatanten Verstoßes gegen Leviticus 19,19 nicht beichtwürdig finden, würde mich das noch nicht zwingend als Nicht-Fundamentalisten kennzeichnen. Auch kenne ich trotz des Jesuswortes "Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg!" (Mt 18,9) auffallend wenige einäugige Fundamentalisten - ja, ich glaube sogar sagen zu können: keinen einzigen.

Dennoch ist die Aussage, Fundamentalisten verstünden die Bibel "zum Teil wortwörtlich", in dieser Allgemeinheit sinnlos, da sie nichts aussagt. "Zum Teil" verstehen, das wage ich zu behaupten, alle Christen die Bibel wortwörtlich, und nicht wenige Nichtchristen noch dazu - und sei es nur, weil die Bibel zum Teil nachprüfbare historische Fakten referiert. Aber darum geht es nicht; es geht vielmehr darum, ob, in welchem Umfang und zu welchem Grad Glaubensaussagen aus der Bibel als verbindlich und wahr betrachtet werden. Und da gibt es natürlich erhebliche Unterschiede, sowohl zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen als auch innerhalb dieser.

Nehmen wir einmal den Missionsauftrag Jesu: "Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern" (Mt 28,19). Jahrhundertelang haben Christen verschiedener Konfessionen diesen Auftrag ausgesprochen ernst genommen und sich redlich beflissen, ihn möglichst wortwörtlich zu erfüllen. Damit haben sie sich von jeher nicht ausschließlich und überall Freunde gemacht - zahllose Märtyrer der Kirche könnten davon ein Lied singen. In jüngerer Zeit jedoch greift selbst innerhalb der christlichen Kirchen der Gedanke um sich, das Ansinnen, Menschen, die mit ihrem angestammten nichtchristlichen Glauben oder auch mit ihrem Unglauben ganz zufrieden sind, den eigenen Glauben "aufdrängen" zu wollen, sei ein unfreundlicher, wenn nicht gar aggressiver Akt, ja womöglich gar ein Verstoß gegen das zentrale Gebot der Nächstenliebe. Wenn das, wie gesagt, schon von Christen so gesehen wird, muss man sich nicht darüber wundern, wie die Berliner Antifa es sieht:
"Dass sich deutsche Christ_innen anmaßen, in afrikanischen und südamerikanischen Ländern das Christentum verbreiten zu dürfen [!] und zu müssen, ist eine neokoloniale Variante der Missionierung [...]. Geflissentlich wird hier übersehen, dass die Armut in afrikanischen Ländern eine Folge der kolonialen Ausbeutung ist und weiter aufrecht erhalten wird durch neokoloniale Machtstrukturen." 
Ist es demnach "fundamentalistisch", den Missionsauftrag Jesu befolgen zu wollen? Und ob! Das findet nicht nur die Antifa, sondern - beispielsweise - auch die Berliner Zeitung, die jüngst über die "umstrittene Spendenaktion" Weihnachten im Schuhkarton berichtete. In diesem Bericht wird der "evangelikal-freikirchliche[n] Organisation", die hinter dieser Spendenaktion steht, vorgeworfen, dass sie "den Missionierungsgedanken verfolgt" - und zwar, indem bedürftigen Kindern im Rahmen dieser Aktion nicht nur Kleidung, Süßigkeiten, Spielzeug und Hygieneartikel beschert werden, sondern auch "sogenannte Bibelhefte", die "die christliche Botschaft" transportieren sollen. Und das zu Weihnachten! (Einen pointierten Kommentar zu diesem Zeitungsartikel gibt es hier.) Nun ist man von der Berliner Zeitung zwar nicht viel Anderes gewohnt; bedenklich fand ich es jedoch, dass das Erzbistum Berlin diesen Artikel mit offenkundiger Zustimmung auf Facebook und Twitter verbreitete. Dass das Erzbistum bei dieser Gelegenheit dann gleich damit warb, statt für Weihnachten im Schuhkarton lieber für das bischöfliche Hilfswerk Adveniat zu spenden, erweckt zwar den unschönen Eindruck eines schmutzigen Konkurrenzkampfes um "Marktanteile" im vorweihnachtlichen Wohltätigkeitsbusiness, aber immerhin: "Fundamentalismus" kann man Adveniat gewiss nicht vorwerfen. Die diesjährige Aktion des Werks steht unter dem knalligen Motto "Ich will Zukunft!", und insgesamt findet man auf der Adveniat-Homepage zwar sehr viel darüber, "eine bessere Welt" aufzubauen, muss aber lange suchen, bis irgendwo mal von Gott oder gar von Jesus Christus die Rede ist.

Das auch im Artikel der Berliner Zeitung als Kronzeuge für die katholische Kritik an Weihnachten im Schuhkarton aufgerufene Bistum Trier geht derweil so weit, seine Warnung vor dieser Spendenaktion in der Rubrik "Sekten" (!) seiner Website unterzubringen. Dort wird denn auch direkt Kritik an der "Missionierung von Angehörigen nichtchristlicher Religionen" geübt und betont: "Stattdessen fördert das Bistum Trier den Dialog der Religionen und ein konstruktives gemeinsames Engagement der Weltreligionen für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung." Anscheinend wird irgendwo in Trier ein seltenes Exemplar des Matthäusevangeliums aufbewahrt, in dem die oben zitierte Passage lautet "Macht alle Menschen zu meinen Jüngern, mit Ausnahme derer, die schon eine andere Religion haben".

Des Weiteren verweist das Bistum Trier auf seine "lange und vertrauensvolle ökumenische Zusammenarbeit" mit "vielen christlichen Kirchen und Gemeinden" - allerdings ausdrücklich nur mit solchen, bei denen es sich "nicht um christliche Fundamentalisten handelt". Was uns nun wieder auf die weiter oben vorerst zurückgestellte Frage verweist: Was hat man sich unter einem nicht-fundamentalistischen Christen vorzustellen? Und siehe, in dieser Frage ist sogar die Berliner Antifa klüger als das Bistum Trier, denn sie erkennt: "Dabei stellen die Positionen der Evangelikalen jedoch immer nur die konsequente Fortführung von nicht-fundamentalistischen Ansichten dar." Pointiert zusammengefasst heißt das: Der Unterschied zwischen christlichen Fundamentalisten und "normalen" Christen besteht darin, dass die Fundamentalisten ihren Glauben ernst nehmen und tatsächlich danach leben (oder zu leben versuchen). Die Katholische Kirche wäre eigentlich gut beraten, dieser Überdehnung des Fundamentalismusbegriffs zu widersprechen. Sich vom eigentlichen, eingangs skizzierten Fundamentalismus protestantisch-evangelikaler Prägung abzugrenzen, hat sie schließlich gute (nämlich theologische) Gründe; aber darauf wird gar nicht eingegangen, stattdessen wird ein inhaltlich unscharfer Fundamentalismusbegriff unreflektiert übernommen und so der (auch in anderen Zusammenhängen zuweilen nicht ganz von der Hand zu weisende) Eindruck erweckt, das 'Establishment' der Katholischen Kirche könne mit etwas überdurchschnittlich glaubenseifrigen Christen, die ihren Glauben nötigenfalls auch kämpferisch bekennen, gar nichts anfangen bzw. betrachte sie eher als Bedrohung für seinen bequemen gesellschaftspolitischen status quo. -- Was das konkrete Beispiel Weihnachten im Schuhkarton betrifft, ist freilich einzuräumen, dass es sich bei den Initiatoren dieser Spendenaktion wohl tatsächlich, also auch im eigentlichen, engeren Sinn um Fundamentalisten handelt - laut Berliner Zeitung wird die Aktion "in enger Kooperation mit dem christlich-fundamentalistischen Missionswerk 'Samaritan's Purse' aus den USA" organisiert, das von dem einst als "Maschinengewehr Gottes" bekannten Baptistenprediger Billy Graham gegründet wurde und heute von dessen Sohn geleitet wird. Ob die theologischen Differenzen, die die Katholische Kirche mit diesen Akteuren zweifellos hat, ein zwingender Grund sind, ihre Weihnachtsaktion nicht nur nicht zu unterstützen, sondern sich sogar scharf von ihr zu distanzieren, wird nicht ansatzweise diskutiert; stattdessen werden ihre missionarischen Aktivitäten, und ihr caritatives Engagement gleich mit, in Bausch und Bogen verdammt und verdächtig gemacht. Derartige reflexartige Abwehrreaktionen katholischer Institutionen gegen alles, was nach "Fundamentalismus" oder "religiösem Extremismus" riecht oder von dritter Seite in diesen Geruch gebracht wird, sind letztlich zu nichts Anderem gut als dazu, der Lauheit Vorschub zu leisten. Es sei mir daher erlaubt, mit einigen stets beherzigenswerten Versen aus der Offenbarung des Johannes (Offb 3,15-16) zu schließen:

"Ich kenne deine Werke. Du bist weder kalt noch heiß. Wärest du doch kalt oder heiß! Weil du aber lau bist, weder heiß noch kalt, will ich dich aus meinem Mund ausspeien."

(Aber das darf man wohl auch nicht so ernst nehmen. Zumindest, wenn man nicht als Fundamentalist gelten will...) 







Dienstag, 25. November 2014

Wie viele Flüchtlinge beherbergt der Vatikan?

Seit der Abwehrkampf der syrischen und irakischen Kurden gegen die Terrormilizen des sogenannten "Islamischen Staats" (IS) in aller Munde ist, muss ich immer mal wieder an ein Interview mit einem kurdischen Kulturwissenschaftler denken, das ich vor Jahren mal in der taz las. In diesem Interview sagte ebenjener kurdische Kulturwissenschaftler - an dessen Namen ich mich leider nicht mehr erinnere - sinngemäß: "Was die Deutschen über die Kurden wissen, das wissen sie in der Regel von Karl May" - fügte jedoch hinzu: "Man muss allerdings zugeben, dass das gar keine so schlechte Quelle ist." 

Gemerkt habe ich mir diese Äußerung vor allem, weil der Karl-May-Fan in mir sich über dieses wohlwollende Urteil aus berufenem Munde freute. Gleichzeitig und andererseits gibt es aber auch zu denken, dass - über 130 Jahre, nachdem die ersten Fortsetzungen von Karl Mays Reise-Abenteuern in Kurdistan im Deutschen Hausschatz erschienen, und über 120 Jahre nach der ersten Buchausgabe von Durchs wilde Kurdistan - die Werke des phantasievollen sächsischen Abenteuerschriftstellers noch immer die wichtigste Quelle sind, aus der die Deutschen etwas über die Kurden erfahren. Erstaunlich ist das vor allem, wenn man bedenkt, wie viele kurdische Familien zum Teil schon seit Jahrzehnten in Deutschland leben - Schätzungen zufolge handelt es sich um zwischen 500.000 und 800.000 Personen. Bis 1973 kamen ca. 400.000 Kurden als Arbeitsmigranten aus der Türkei in die Bundesrepublik, später folgten Asylsuchende aus dem Iran (seit der Islamischen Revolution 1979), der Türkei (nach dem Militärputsch 1980 und erneut im Zuge des militärischen Vorgehens des türkischen Staates gegen die kurdische PKK ab 1984) und dem Irak (v.a. nach dem Giftgasangriff auf Halabdscha 1988). Ab Ende der 1990er Jahre stieg die Anzahl kurdischer Asylsuchender in Deutschland erneut erheblich an. 

Dass diese erhebliche Zuwanderung von Kurden nach Deutschland offenbar nicht besonders viel zum Wissen der Deutschen über die Kurden beigetragen hat, ist, wie gesagt, irgendwie bedenklich - aber ich kann mich da selbst nicht ausnehmen: Zwar habe ich mich durchaus schon mal mit kurdischstämmigen Mitbürgern über Geschichte und Kultur des kurdischen Volkes unterhalten, aber weder besonders oft noch besonders intensiv. Immerhin aber gibt es in meinem persönlichen Bekanntenkreis jemanden, der sich in Kurdistan erheblich besser auskennt als der durchschnittliche Karl-May-Leser: Enno Lenze, Berliner Unternehmer, Blogger und Ex-Pirat, hat gute persönliche Kontakte zur Regionalregierung der Autonomen Region Kurdistan im Nordosten des Irak und war schon mehrfach persönlich vor Ort - zuletzt Ende Juni dieses Jahres, nachdem die IS-Milizen in die am Rande der Kurdenregion liegende zweitgrößte irakische Stadt Mossul einmarschiert waren. Zu einem Zeitpunkt also, als es wohl nur den wenigsten Menschen in den Sinn gekommen wäre, freiwillig in den Irak zu fliegen. Enno jedoch begegnete allen Einwänden mit dem Hinweis, in der irakischen Kurdenregion herrschten, im Gegensatz zum Rest des Landes, Sicherheit und Stabilität. Allerdings hielt Enno sich nicht etwa nur in der Hauptstadt Erbil auf, wo sich, wie er in seinem Blog schrieb, die Sicherheitslage nicht wesentlich von derjenigen in Berlin unterschied, sondern reiste unter dem Schutz der kurdischen Peschmerga-Armee bis an die Front bei Mossul und Kirkuk, um sich aus erster Hand über die Lage vor Ort zu informieren. Herausgekommen ist dabei unter anderem ein sehr sehenswerter Kurzfilm.

Dieser Film, und auch der Reisebericht in Ennos Blog, geht u.a. auch auf die Lage in den Flüchtlingslagern ein, in denen zahlreiche Flüchtlinge aus Syrien wie auch aus den von den IS-Milizen heimgesuchten Teilen des Irak mehr schlecht als recht untergebracht werden. "Mehr schlecht als recht" deshalb, weil es eine kaum zu bewältigende Aufgabe ist, den nicht abreißenden Flüchtlingsstrom zu bewältigen. Bis Ende Juni hatte die Autonome Region Kurdistan, die nur rd. 5 Millionen Einwohner hat, bereits mehr als eine halbe Million Flüchtlinge aufgenommen; inzwischen dürfte sich diese Zahl noch vervielfacht haben.

Um der Not der Flüchtlinge in Kurdistan abzuhelfen, initiierte bald darauf der rheinland-pfälzische Unternehmer und FDP-Nachwuchspolitiker Tobias Huch gemeinsam mit Gunter Völker, der in Erbil ein Biergartenlokal mit dem Namen "Deutscher Hof" betreibt, die Aktion "Wasser für Flüchtlinge in Kurdistan", deren Ziel es ist, die Flüchtlingslager in der Kurdenregion schnell und mit geringem organisatorischen Aufwand mit Trinkwasser zu versorgen. Zur Unterstützung dieser Spendenaktion veranstaltete Enno Lenze am 3. Oktober im von ihm betriebenen Berlin Story Bunker ein Charity-Minigolf-Turnier, und da ich fand, eine so günstige Gelegenheit, mit minimalem Aufwand etwas Gutes für die vor dem Terror des IS geflohenen Menschen in Kurdistan zu tun, bekäme ich wohl nicht so bald wieder, meldete ich mich als freiwilliger Helfer für dieses Turnier. Meine Aufgabe bestand im Wesentlichen darin, die Startgebühr zu kassieren, Minigolfschläger und -bälle auszuteilen und den Teilnehmern den Weg zu zeigen, aber wie dem auch sei, ich war ausgesprochen begeistert, dass innerhalb von nur drei Stunden genügend Geld zusammen kam, um davon rund 7.000 (!) Halbliterflaschen mit Trinkwasser in die Flüchtlingslager zu bringen.

Not amused war ich hingegen, als der gute Enno am 19. Oktober auf Facebook die Frage aufwarf: "Wie viele Flüchtlinge hat der Vatikan dieses Jahr schon aufgenommen?" Na gut, kleine Provokation, nich' böse sein. Aber als die "Likes" auf diesen Beitrag einzuregnen begannen und die ersten erwartungsgemäßen "hö, hö, hö"-Kommentare einliefen, dachte ich mir, ich sag' mal was dazu. Nämlich, dass man da wohl hinsichtlich der Fragestellung etwas differenzieren müsse. Dass das gerade mal 0,44 km² große Staatsgebiet des Vatikanstaats zur Aufnahme von Flüchtlingen wohl nur sehr begrenzt geeignet sei. Hinsichtlich der Frage jedoch, was die Katholische Kirche insgesamt für Flüchtlinge tue, verwies ich auf die Rubrik "Flucht und Migration" auf der Website von Caritas Internationalis; dort werden u.a. Projekte in Burundi, der Elfenbeinküste, dem Kongo, dem Nahen und Mittleren Osten und diversen anderen Krisengebieten vorgestellt; eine gute Informationsquelle auch für künftige Diskussionen mit dem Tenor "Die Kirche hält ja nur Sonntagsreden, tut aber nichts für die Armen der Welt, und während anderswo Leute verhungern, baden die ganzen Bischöfe und Kardinäle in Gold wie Dagobert Duck". Der bereits erwähnte Gunter Völker vom Deutschen Hof Erbil warf nun allerdings die Frage auf, was die Kirche denn "hier" - also in Kurdistan - konkret tue. Eine durchaus berechtigte Frage, schließlich sind es nicht zuletzt Christen, die vor dem IS-Terror flüchten müssen, und viele davon gehören der mit Rom unierten Chaldäisch-Katholischen Kirche an. Da liegt es nahe, zu erwarten, dass Mutter Kirche gerade diese ihre Kinder nicht im Stich lässt.

Allerdings musste ich nun auch erst einmal recherchieren, um eine kompetente Antwort auf die Frage zu finden, was die Kirche denn für die syrischen und irakischen Flüchtlinge in Kurdistan tut. Ich fand dann aber eine ganze Menge -- und möchte diese Erkenntnisse gern an meine Leser weitergeben.

Beispiel 1: Der chaldäisch-katholische Erzbischof von Erbil, Bashar Warda, beherbergt auf dem Gelände seiner Residenz rund 2.500 Flüchtlinge in Zelten und etwa ebensoviele in einem benachbarten Rohbau; die deutsche Diözese Rottenburg-Stuttgart hat Erzbischof Warda finanzielle Hilfe für den Bau winterfester Quartiere für die Flüchtlinge zugesagt, und bereits im August hat der Rottenburger Bischof Gebhard Fürst der Diözese Erbil 100.000 Euro Soforthilfe zukommen lassen.

Beispiel 2: Das Hilfswerk Kirche in Not errichtet in Erbil eine "Pater-Werenfried-Dorf" genannte Containersiedlung für 4.000 Flüchtlinge, mietet zusätzliche Unterkünfte in und um Erbil an, unterstützt den Bau von Schulen in Erbil und Dohuk und sammelt Lebensmittel für 8.000 Familien.

Beispiel 3: Die Caritas hat in Erbil einen internationalen Krisenstab eingerichtet, versorgt Tausende Flüchtlingsfamilien mit Grundnahrungsmitteln wie "Reis, Mehl, Linsen, Öl und Zucker", mit Hygieneartikeln, Bettwäsche, Kochgeschirr und anderen Gegenständen des täglichen Bedarfs und kümmert sich darum, die Flüchtlingsunterkünfte winterfest zu machen.

So weit, so eindrucksvoll. Haare in der Suppe wird man sicher trotzdem finden. Zum Beispiel warte ich im Grunde nur darauf, dass jemand mir vorrechnet, wie viele Familien in einem kurdischen Flüchtlingslager man für den Preis einer Limburger Bischofsresidenz durch den Winter bringen könnte. Oder irgendjemand wird den mordsoriginellen Vorschlag machen, die Kirche könne ja, um noch mehr Mittel für die Flüchtlingsfürsorge zu haben, den Petersdom verkaufen (aber an wen?). Nun ja, seien wir ehrlich: Es gibt so viel Elend auf der Welt, da kann man niemals zu viel tun, wahrscheinlich nicht einmal genug. Insofern kann man gern der Meinung sein, auch das, was die Kirche tut, sei "noch nicht genug". Aber keine Sorge, es steht ja jedem frei, aus seinen eigenen Mitteln noch etwas dazu zu tun. Das kann jeder, und es ist gar nicht schwer. Die Adressen einschlägiger Spendenkonten findet man mühelos im Internet, und wer mit kirchlichen Hilfswerken nichts am Hut hat bzw. Wert darauf legt, zu zeigen, dass es auch ohne die Kirche geht, kann zum Beispiel eine SMS an kurdistan-wasser.de schicken. Eine Spende von 5 Euro bringt immerhin schon wieder 50 Flaschen Trinkwasser in die Flüchtlingslager. Garantiert kirchenfrei.