Mittwoch, 1. Oktober 2014

Dies ist dein Supermarkt, o Seele

Kann einem Blogger etwas Schöneres passieren, als dass er im Zuge einer Debatte in einem sozialen Netzwerk dazu aufgefordert bzw. darum gebeten wird, zu dem in Frage stehenden Thema etwas zu bloggen? -- Nun, wahrscheinlich schon; aber es gibt sicher Schlechteres. Auf jeden Fall hat mich diese vom Kollegen Christian Schröder von Manna-Magazin an mich herangetragene Aufforderung mit meinem Hader darüber versöhnt, dass ich es unlängst wieder mal nicht lassen konnte, auf Twitter eine kontroverse Diskussion vom Zaun zu brechen, während ich mich eigentlich auf die #Twomplet - das interaktive Twitter-Abendgebet, das ich an dem betreffenden Abend leiten sollte - hätte einstimmen sollen. Das innerliche "Umschalten" vom Debattiermodus zur andächtigen Stimmung gestaltete sich daraufhin nicht ganz komplikationsfrei, gelang aber letztlich doch.

Worum ging's? Ein mir persönlich überhaupt nicht, "virtuell" auch nur vergleichsweise flüchtig bekannter Twitterer, der u.a. im BDKJ aktiv ist, nahm gerade an einer Klausurtagung der Jugendseelsorgekonferenz (Juseko) des Bistums Essen zum Thema Jugendpastoral teil und teilte seine Eindrücke mit. Dabei erwischte mich die - vermutlich einem bei dieser Klausurtagung gehaltenen Vortrag o.ä. entnommene - Aussage 
"Kirche muss sich auf dem Markt beweisen"
irgendwie auf dem falschen Fuß, und ich konnte es mir nicht versagen, darauf zu antworten - zunächst nur mit der kritischen Nachfrage 
"Muss sie das? Mir bereitet die Formulierung Bauchschmerzen."
Mein Debattenpartner beharrte: 
"Ich finde schon! Kirche muss relevant bleiben, darf sich dabei aber auf keinen Fall selbst verlieren."
Innerlich seufzend darüber, wie perfekt der junge Kollege bereits den leidigen Funktionärssprech des deutschen Gremienkatholizismus beherrscht, schritt ich zu einer gewissen Verschärfung des Tons:
"Hier von einem Markt zu sprechen, zeigt m.E. ein völlig falsches Verständnis dessen an, was Kirche ist und sein soll."
An dieser Stelle nun schalteten sich verschiedene andere Twitter-Accounts in die Diskussion ein. So warf der Account eines Pfarreienverbunds aus dem Ruhrgebiet die Frage auf, ob ich womöglich "ein verzerrtes Verständnis von Markt" hätte, und definierte "Markt" bei dieser Gelegenheit als "Raum von Angebot und Nachfrage, Verhandlung und Austausch". Ich erwiderte trocken:
"Dieser Definition von 'Markt' stimme ich zu, und genau das stört mich daran."
Der twitternde Pfarreienverbund wurde darauf prompt ein wenig pampig:
"Wir bleiben besser unter uns? Wir ignorieren, dass wir in vielfältigen Beziehungen leben?"
Ich meldete verhaltenen Protest gegen dieses (Miss-)Verständnis meines Standpunktes an; wenig später meldete sich dann der gute Christian vom Manna-Magazin zu Wort, auf seine zumeist wohltuend unaufgeregte Art. -- Mit diesem jungen Mann stehe ich schon seit längerer Zeit auf Twitter und auch auf Facebook in Kontakt; wir sind uns selten einig über irgendetwas, aber irgendwo ist da dennoch eine gegenseitige Sympathie, die es erleichtert, gegensätzliche Standpunkte "auszuhalten" - und auch überhaupt erst mal ernst zu nehmen. So auch hier. Christian merkte an, einen "religiösen Markt" gebe es seines Erachtens "faktisch, egal ob man das gut findet"; ich konterte erst einmal humorig mit dem Hegel zugeschriebenen Bonmot "Umso schlimmer für die Fakten", aber Christian ließ sich nicht beirren und argumentierte, es handle sich um ein Faktum, zu dem sich die Kirche nolens volens irgendwie "verhalten" müsse:
"Egal was Kirche tut, sie agiert auf dem religiösen Markt. Ich finde, dann sollte sie es auch gut machen." 
Da ich mich noch immer nicht überzeugt zeigte, merkte Christian an, er begegne solchen Vorbehalten oft und verstehe sie meist nicht so recht; vielleicht könne ich dazu ja mal was bloggen.
Tja, und jetzt hab ich den Salat.

Es ist ja oft gar nicht so einfach, etwas erklären zu sollen, wovon man selbst findet, es bedürfe gar keiner Erklärung. Aber gut ist es doch. Es hilft, den eigenen Standpunkt zu überprüfen und gegebenenfalls zu schärfen. Ich hatte mal im privaten Kreis eine Diskussion, in deren Verlauf meine Gesprächspartnerin die Kirche als einen "Anbieter von Spiritualität" bezeichnete - für mich das Signal, die Diskussion abzubrechen, mit dem Hinweis, wenn sie dieses Verständnis voraussetze, habe es keinen Sinn, mit ihr über die Kirche zu sprechen. Aber wenn ich hier und jetzt ein bisschen "übe", fällt mir ja vielleicht beim nächsten Mal mehr dazu ein.

Halten wir also erst einmal fest: Ein Markt setzt Angebot und Nachfrage voraus. Die Frage, ob dabei das Angebot oder die Nachfrage das Primäre ist, kann man wohl mit gutem Recht als das Chicken-Egg-Dilemma der Wirtschaftswissenschaften bezeichnen. Auf den "Markt der Religionen" bezogen würden eingefleischte Religions- und Kirchenkritiker, die überzeugt sind, dass Religionen einzig der Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen dienen, sicherlich angebotsorientiert argumentieren: Das Angebot schaffe sich  seine Nachfrage selbst. Zieht man es hingegen vor, nachfrageorientiert zu argumentieren, dann kann man zunächst einmal die These aufstellen: Die Existenz eines "religiösen Marktes" beweist, dass die Menschen - sogar im super-aufgeklärten und fortschrittlichen 21. Jahrhundert noch - metaphysische Bedürfnisse haben: Bedürfnisse, die durch rein irdische Güter nicht gestillt werden können. Man könnte auch sagen, sie haben ein Bedürfnis nach Transzendenz - nach Überschreitung der eigenen Existenz. Selbst dem eingefleischtesten Hedonisten mag es zuweilen dämmern, dass'n schicket Haus, schicket Auto, schicke Klamotten, Cocktails trinken auf Dachterrassen, viermal im Jahr Urlaub mit allen Schikanen, Bungee-Jumping, Fallschirmspringen, Intimpiercing und Schönheits-OPs nicht Alles im Leben sein können, womöglich gar, dass sie letztlich nur unzureichend einen existentiellen Mangel überdecken. Und da die Frage nach dem Sinn des Lebens offenbar nicht totzukriegen ist, existiert in der Tat ein florierender Markt für Sinn- und Transzendenzangebote, von den Legionen an Glücksratgebern ("Sorge dich nicht, umarme einen Baum") über Horoskope, Traumdeutung und Meditationstechniken bis hin zu Selbstfindungs-Pauschaltourismus und allem möglichen sonstigen esoterischen Klumpatsch. Die Forderung, auch die Kirche(n) sollte(n) auf diesem Markt kräftig mitmischen, scheint auf der Hand zu liegen - liefe man doch sonst Gefahr, die große Masse der Sinnsuchenden an fernöstliche Gurus und/oder eher westlich daherkommende Motivationstrainer zu verlieren. Und das kann ja nun keiner wollen.

Das Dilemma an dieser nachfrageorientierten Auffassung des "religiösen Marktes" ist nun allerdings, dass sie dem nach Sinn, Orientierung und Transzendenzerfahrung suchenden Menschen die Rolle des Konsumenten zuweist und ihm somit geradezu nahelegt, die diversen "Angebote" dieses Marktes eben auch als Konsumangebote, als Dienstleistungen gewissermaßen, zu betrachten und zu bewerten. Der Kunde ist König, und als solcher sucht er sich aus den ihm zur Verfügung stehenden Angeboten das heraus, was ihm am besten passt.

Ein klassisches Beispiel für einen solchen "nachfrageorientierten" Zugang zum Phänomen des religiösen Glaubens kann man, wenn man denn möchte, in der berühmten Ausgangsfrage der Theologie Martin Luthers erkennen: "Wie finde ich einen gnädigen Gott?" Das klingt von der Formulierung her schon stark nach einer typischen Konsumentenfrage, die man sich auch gut in einem Werbespot vorstellen könnte:
Junger, von Zweifeln geplagter Augustinermönch im Baumarkt, beladen mit allerlei Baumarktartikeln.
Mönch (auf seine Einkaufsliste schielend): Und wo finde ich einen gnädigen Gott?
Baumarktmitarbeiter: Bei Eisen-Karl... Oder bei OBI.
oder:
Junger, von Zweifeln geplagter Augustinermönch im Kosmetikstudio von Palmolive-Werbeikone "Tilly".
Mönch (schwer seufzend): Wie finde ich einen gnädigen Gott?
Tilly (begütigend seinen Handrücken tätschelnd): Sie baden gerade Ihre Hände drin.

Man mag hier an die meines Wissens erstmals von Wilhelm Heinrich Riehl in Die bürgerliche Gesellschaft (1851) formulierte These denken, der Protestantismus stelle die bürgerlich-kapitalistische Ausprägung des Christentums dar, wohingegen der Katholizismus eher aristokratisch-feudal geprägt sei; aber es würde hier zu weit führen, diese These näher zu beleuchten und ggf. zu problematisieren. So viel wird man aber doch behaupten können, dass die Reformation der Entstehung eines "religiösen Marktes" in der christlich geprägten Welt erheblichen Vorschub geleistet hat. Nicht umsonst bildeten sich innerhalb des Protestantismus immer mehr unterschiedliche Glaubensrichtungen und -gemeinschaften heraus. Die Vorstellung, wer mit seiner Kirche nicht (mehr) zufrieden sei, könne sich ja eine andere suchen oder einfach eine eigene Gründen, scheint dem Protestantismus in gewissem Maße inhärent zu sein - was wiederum den nachfrageorientierten Charakter des religiösen Marktes unterstreicht und verstärkt: Konkurrenz belebt das Geschäft.

Eine Vorreiterrolle bei der Ausdifferenzierung des religiösen Marktes kommt von jeher, und keineswegs zufällig, den USA zu. Als ich mich an die Konzeption dieses Blogartikels machte, kam mir ein Bericht der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahre 2005 in den Sinn, auf den ich zugegebenermaßen jetzt nur deshalb zurückgreifen kann, weil ich schon damals, lange bevor ich das Bloggen für mich entdeckte, einige Gedanken dazu in ein Notizbuch (ein analoges, so mit Papier und so) gekritzelt hatte. In dem Bericht ging es um die so genannten "Megachurches" in den USA. Diese haben es offenbar als Marktvorteil erkannt, ihre Kirchen möglichst wenig nach "Kirche" aussehen zu lassen - nicht nur was die Gebäude angeht, aber das auch. "Wir wollen, dass unsere Kirchen wie Einkaufszentren aussehen", wird ein Prediger aus Arizona zitiert. "Wir wollen, dass die Leute hierher kommen und sagen 'hey, Junge, wo ist denn hier das Kino?'". Wer das bizarr findet, dem kann man nur sagen: Keine Sorge, es geht noch viel bizarrer. In der Saddleback Church in Lake Forest, Orange County/Kalifornien werden, wie die Süddeutsche zu berichten weiß, Brot und Wein beim Abendmahl in plastikverschweißten Portionspackungen gereicht. Lassen wir diese Aussage einmal auf uns wirken: Brot und Wein beim Abendmahl in plastikverschweißten Portionspackungen.
Man möchte das für einen Witz halten.
Es ist aber offenbar keiner.

Die Süddeutsche kommentiert: "Die neuen Kirchen Amerikas haben das Mystische der traditionellen Kirchen aufgegeben, sie haben die Gewänder abgelegt und die alten Riten, haben Gebetsbücher durch Videoclips ersetzt und Choräle durch Rock-, Pop- oder Punk-Songs mit Untertiteln, zum Mitsingen wie in Karaokebars. Über Jesus reden sie wie über einen Teenager-Schwarm."
Kein Wunder, dass diese neuen Kirchen, deren Prediger "weniger Geistliche als predigende Entertainer sind, die von ihren Bestsellern leben und von professioneller Pressearbeit", auch "Erfolgsprinzipien fürs Leben" anbieten: Dass Erfolg im Leben als Ausdruck göttlicher Erwähltheit zu betrachten sei, das ist ja schon traditionell amerikanische Frömmigkeit und hat dieses Land zur kapitalistischen Supermacht gemacht. Selig sind eben doch die Reichen.

Aber so typisch amerikanisch das alles auch anmuten mag: In Ansätzen finden sich manche der hier geschilderten Charakteristika auch hierzulande in christlichen Gemeinden - kennen gelernt habe ich dergleichen bislang hauptsächlich in Freikirchen, aber der Stimmen sind nicht wenige, die einem erklären, auch und gerade die "großen" Kirchen könnten dringend etwas frischen Wind aus dieser Richtung gebrauchen. Während die Anhänger der Megachurches in den USA politisch als strikt konservativ bis reaktionär gelten - der zitierte SZ-Artikel schreibt ihnen einen großen Anteil an der Wiederwahl George W. Bushs im Jahr 2004 zu -, dürften die Befürworter eines trendigeren, poppigeren Auftretens der Kirche hierzulande tendenziell eher links bzw. grün orientiert sein - Plastikverpackungen gäbe es bei denen also wohl eher nicht. Eine gewisse MTVisierung der Frömmigkeitsformen ist aber hier und da doch zu beobachten.

Nun kann man natürlich fragen, was daran schlecht sein soll. Kirche (gern ohne den bestimmten Artikel verwendet!) muss schließlich irgendwie die Leute erreichen, das wird umso deutlicher, je weniger sie "von alleine" kommen; ist es da nicht irgendwo sinnvoll, die Leute "da abzuholen, wo sie stehen"? - Nun wohl, aber ob es dazu der beste Weg ist, sich ein marktkonformes, trendig-poppigeres und möglichst wenig "kirchlich" anmutendes Aussehen zu geben, sich also zumindest im Erscheinungsbild "der Welt anzugleichen" (vgl. Röm 12,2) - das darf wohl bezweifelt werden. Zumal ich mir, strukturkonservativ wie ich von Haus aus nun mal bin, die Überzeugung nicht so leicht ausreden lasse, dass eine Banalisierung der Formen mehr oder minder zwangsläufig auch eine Banalisierung der Inhalte nach sich zieht. Das hat ja, aus Sicht des "Konsumenten", auch eine gewisse Logik, denn der müsste sich ja verarscht fühlen, wenn er in der bunt-poppigen Verpackung dieselben alten Inhalte vorfände, die ihn bisher immer von der Kirche abgeschreckt oder gar aus ihr vertrieben haben. Mehr noch: Wem sich die Kirche mit dem Gestus des Dienstleisters nähert, dem kann man kaum verdenken, dass er von ihr erwartet, sie solle ihm das geben, was er will - und nichts das, was sie will. Da muss man sich auch nicht mehr wundern, wenn allerorten Ansprüche an die Kirche gestellt werden, sie solle ihre Lehre gefälligst der "Lebenswirklichkeit" der Menschen anpassen.

Was mich übrigens daran erinnert, dass ich ungefähr zur selben Zeit wie den Artikel über die "Megachurches", und ebenfalls in der SZ, eine Kurznotiz über Willi Weber entdeckte - den man wohl hauptsächlich als Manager der beiden rennfahrenden Schumacher-Brüder kennt oder kannte, der aber, wie ich nebenbei erfuhr, auch Berater von Fernsehpfarrer Jürgen Fliege ist oder war. Fliege, auch so ein Kronzeuge für eine selbstgebastelte synkretistische Wohlfühl-Religion. Aber reden wir nicht davon; interessant an der besagten Kurznotiz über Willi Weber fand ich vor allem die Information, dass er Buddhist sei. Zunächst überraschte mich das. Ich hatte immer gedacht, der Buddhismus lehre "Leben und leben lassen" oder so ähnlich, jedenfalls eine friedliche und genügsame Lebenseinstellung, und nicht "get rich or die tryin'". Bezeichnend war allerdings der Grund, weshalb der ehemalige Katholik Weber sich von der Kirche abgewandt hatte: "Die Aussicht, in der Hölle landen zu können, empfand er als ständige Bedrohung." Na, das allerdings glaube ich ihm aufs Wort.

Aber auch wenn wir uns persönliche Invektiven gegen den wegen seiner Geschäftspraktiken berüchtigten und wegen mehrerer Fälle von Untreue zu Haftstrafen auf Bewährung und Geldstrafen in einer Gesamthöhe von über einer Million Euro verurteilten Herrn Weber mal verkneifen: Ist es nicht reichlich infantil, wenn man beschließt, nicht an die Hölle zu glauben, weil man nicht will, dass es sie gebe? Wer das tut, der glaubt wohl auch, er würde unsichtbar, wenn er sich die Augen zuhält. Aber im Ernst: Unterscheidet sich das wirklich so sehr von der Haltung, die jemand an den Tag legt, der (beispielsweise) einen Fragebogen zur Sexualmoral ausfüllt und dann erwartet, dass die Kirche ihre Lehre an die Ergebnisse dieser Fragebogenaktion anpasst? - Mir persönlich erscheint die Vorstellung, man könne sich aussuchen, woran man glauben möchte, völlig absurd: Das ist in meinen Augen kein Glaube, jedenfalls keiner, der ernsthaft diesen Namen verdient. Weil ihm die Dimension der Wahrheit fehlt. Wie heißt es so schön: Wahrheit ist das, was sich nicht ändert, nur weil es dir nicht gefällt. Trotzdem ist Willi Webers Konversion vom Katholizismus zum Buddhismus nur eines von vielen Beispielen dafür, dass "die Leute" eben doch meinen, sie könnten sich den Glauben aussuchen, der ihnen am besten gefällt bzw. passt. Und wie soll man ihnen das verübeln, wenn ein nachfrageorientierter religiöser Markt ihnen genau das suggeriert?

Nun sollte ich aber langsam mal zum Schluss kommen. Also gut: Vor ein paar Wochen hatte ich ein interessantes Gespräch mit einem mir zuvor so gut wie Unbekannten, der verriet, er sei von Haus aus katholisch, und wenngleich er persönlich nicht besonders gläubig sei, so schätze er doch die Kirche. Das fand ich interessant, denn mir scheint, häufiger bekommt man das Gegenteil zu hören: dass Menschen sich selbst als ausgesprochen gläubig betrachten und bezeichnen, der Kirche jedoch distanziert bis ablehnend gegenüberstehen. -- Mein Gesprächspartner hob hervor, er schätze an der Kirche nicht zuletzt das Unzeitgemäße - ihre Weigerung, sich dem Zeitgeist anzubequemen, oder anders ausgedrückt: ihr Beharren auf dem Ewigen, das die Zeiten und Moden überdauere. Ganz im Sinne des berühmten Satzes Chestertons also, allein die Kirche bewahre den Menschen "vor der erniedrigenden Sklaverei, Kind seiner Zeit zu sein". Weiter führte mein Gegenüber aus, die Kirche sei die einzige große und bedeutende Institution, die sich überzeugend und glaubwürdig der Logik des Kapitalismus verweigere - insofern, als sie nichts anbiete. Diese Formulierung machte mich erst einmal stutzig: Wie, die Kirche bietet nichts an? Aber mir leuchtete dann doch recht bald an, dass "Angebot" hier im marktwirtschaftlichen Sinne zu verstehen ist: Die Kirche bietet keine Waren oder Dienstleistungen an, die man gegen einen festgesetzten oder verhandelbaren Preis erwerben könnte. --- Zugestanden, die Kirche als Institution, als Körperschaft, umfasst durchaus Untergliederungen, die in ihrer Tätigkeit sehr wohl wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, aber im Ganzen ist sie kein Wirtschaftsunternehmen; denn das, was man ihr "Kerngeschäft" nennen könnte, ist eben kein "Geschäft". Ganz schlicht könnte man sagen: Das, was die Kirche in letzter Konsequenz "anbietet", ist das Heil. Dieses ist aber kein Artikel, den man erwerben und zu all seinen anderen Besitztümern ins Regal stellen könnte. Man kann es sich nur schenken lassen - aber dieses Geschenk anzunehmen bedeutet zugleich, sich selbst ganz und gar, mit Leib und Seele, an dieses Geschenk hinzugeben. Das ist eine Transaktion, die sich der Logik des Marktes prinzipiell entzieht; und das kann in einer Gesellschaft, die daran gewöhnt ist, buchstäblich Alles unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten, gar nicht deutlich genug betont werden.

Festzuhalten bleibt bei alledem natürlich, dass die Kirche, will sie ihrem missionarischen Auftrag gerecht werden, in irgendeiner Form auf die Menschen zugehen muss. Und da kann man durchaus der Auffassung sein, in einer so sehr vom Markt bestimmten Gesellschaft wie der unseren komme die Kirche gar nicht umhin, sich auch "auf den Marktplatz zu stellen". Tatsächlich ist ja auch schon in der Bibel die Rede davon - allerdings nicht oft: Die Einheitsübersetzung weist ganze 17 Fundstellen für "Markt" auf, darunter sieben für "Marktplatz". Recht geläufig dürfte etwa das Gleichnis Jesu von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16) sein, in dem der Gutsherr ja auch auf den Marktplatz geht, um Arbeiter anzuwerben. (In der Luther-Übersetzung hat übrigens sogar das himmlische Jerusalem einen Marktplatz; vgl. Offb. 21,21.) Andererseits darf man wohl mahnend an die ebenfalls nicht wenig bekannte Episode von der Vertreibung der Händler aus dem Tempel erinnern, in der Jesus den Taubenhändlern zuruft: "Macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle!" (Joh 2,16).

Ich bin weder studierter Theologe noch Altphilologe und habe den Originaltext nicht überprüft, würde aber mal spekulieren, dass im Neuen Testament (und womöglich auch in der Septuaginta) dort, wo in der deutschen Übersetzung "Markt" oder "Marktplatz" steht, das Wort ágorá zu Grunde liegt. Die Agora der alten Griechen war aber nicht nur Marktplatz, sondern zugleich auch zentraler Versammlungsort der polis - Ähnliches gilt für das Forum der Römer. Insofern, als offenbar schon in der Antike alle Angelegenheiten von öffentlichem Belang quasi auf dem Marktplatz ausgetragen wurden, sind wir den alten Griechen und Römern offenbar gar nicht so unähnlich. Insofern stimmt es schon irgendwie, dass auch die Kirche sich auf den Marktplatz begeben muss, wenn sie - nein, ich verkneife mir jetzt die Funktionärsfloskel von der "gesellschaftlichen Relevanz" und sage lieber: wenn sie ihren missionarischen Auftrag erfüllen will. Umso wichtiger ist es aber, dass sie sich in einer Weise präsentiert, dass man sie nicht mit den Geldwechslern und Taubenhändlern verwechselt. Und, machen wir uns nichts vor: Das ist eine schwierige Gratwanderung. Das muss man erst mal bringen - sich zwischen all die "Anbieter von Spiritualität" auf dem "Markt der Religionen" zu stellen und zu rufen:
"Wir haben nichts zu verkaufen. Unsere Sakramente sind keine Dienstleistungen. Wir wollen nur deine Seele."

4 Kommentare:

  1. Beim Thema Angebot - Nachfrage - Markt und das Herauspicken der Rosinen aus diesem Markt, fällt mir Hubert Windisch ein. Der schrieb in seinem Buch 'Laien - Priester' (S. 30f.):

    »Inzwischen wird von der Kirche oftmals erwartet abzusegnen, was Adolf Holl als Fluxreligion bezeichnet ... Er charaterisiert sie so: "In Zeitalter des Wassermanns, das angeblich bereits begonnen hat, macht der Mensch (im Januar, H.W.) eine Fastenkur, absolviert im Februar einen Zenkurs, geht im März zu einer Vortragsreihe über astrologische Partnerwahl, tanzt im April mit einem Derwisch, läßt sich im Mai in abgelebte Existenzen zurückführen, wandert im Juni durch Nepal, lernt im Juli eine Schmanin kennen, besucht im August einen Workshop in temenzentrierter Interaktion, beschäftigt sich im Oktober mit Bergkristallen, erlebt im November eine Todesmediation und wünscht sich zu Weihnachten eine Gehirnwellenmaschine."
    Norbert Jernej bringt die Sachlage ironisch auf den Punkt ...:

    Gestern ging seng ich feng shui.
    Heute reiki ich mir träume aus.
    Morgen couet der wind ins siebte haus.

    Montag buddha ich mir ein grab.
    Dienstag druide ich hinab.
    Mitwoch ist europacup.

    Die fünf tibeter monden später.
    Amfortas ante portas
    taofrisch am pendeltisch
    ... und alle Jahre wieder kommt
    das christuskind...«

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  2. Toller Beitrag, auch sprachlich ein Genuss, zu dem wenig hinzuzufügen ist! Nur bei einer Kleinigkeit kann ich dir behilflich sein, als gezwungener Maßen altphilologisch gebildeter Theologe/Philosoph/Historiker (je nach Bedarf).

    In Joh 2,16 steht nicht ἀγορά (agorá), sondern οἶκον ἐμπορίου (oíkon emporíou) und entgegen dem Ersteren meint Emporion tatsächlich nur einen Handelsplatz, häufig auch einen Hafen oder Umschlagplatz fernhandelnder Mutterstädte, der später besiedelt wurde. Es spitzt damit aber philologisch gesehen deine Angebots-Nachfrage-Dialektik noch weiter zu, steht also nicht im Gegensatz zu deinen Ausführungen.

    Wobei natürlich auch dein Agora-Argument zieht. Vielleicht nicht terminologisch und philologisch korrekt zu Joh 2,16 aber gewiss im Hinblick auf die Areopags-Rede des Paulus in Apg 17,16–34.

    Wobei das frühe Christentum sicher weit mehr Mysterienkult als Marktplatz-Philosophie ist.

    Für mich bleibt die Markt-Metapher schwach und für Paulus wohl auch, da sein Erfolg offenbar recht bescheiden war. Die Sendung der Apostel hat weit mehr mehr Dienstbotencharakter, in der der Überbringer der Nachricht seines Herrn nichts hinzufügen oder weg zulassen hat als von einem provisionsbasiertem Anlagermanager moderner Esoterikdienstleistungen.

    Oder um die Worte des Herrn abzuwandeln: "Die Dienstleister haben ihren Lohn bereits erhalten."

    Beste Grüße von Student, Besserwisser, Welterklärer...

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  3. Deine Bedenken zur Kapitalisierung religiöser Bedürfnisse teile ich vollkommen, allerdings nimmst du es mit den Vergleichen nicht ganz genau. Wenn du das Modell der Megachurches (die übrigens aus deinen eigenen Links hervorgeht schon gut zehn Jahre alt und in den USA, wie ich gerade ganz aktuell erlebe, schon längst wieder von anderen Sozialgestalten von Kirche abgelöst werden) also als Auswuchs protestantisch-kapitalistischer Religiosität deutest, dann übersiehst du dabei meines Erachtens, dass die Alternative, ich nenne sie mal, katholisch-feudalistische Religiosität, ebenfalls einem Wirtschaftsmodell entspringt. Darin sind die Zuständigkeiten klar geregelt, es gibt eine sehr kleine Anzahl potentieller Produkt-/ und Dienstleistungsanbieter und NUR durch deren Vermittlung, kann man am aktiv am Wirtschaftskreislauf teilnehmen. Ich wünsche mir das fürs Wirtschaftsleben nicht zurück, warum also für die Religion?

    Ein zweiter Punkt: Wenn die Kirche sich mit dem Verweis auf das "Bleiben in der Wahrheit" jeglicher strukturellen Veränderung verweigerte, dann würde sie auch damit ein Marktbedürfnis bedienen. Nämlich ein religiös-konservatives Bedürfnis nach Stabilität und Kontinuität in kirchlichen Lehraussagen und Ausdrucksformen - du outest dich ja selbst als ein potentieller Konsument dieses Angebots.
    Dabei wird jedoch übersehen, dass die Geschichte der Kirche entgegen der verbreiteten Meinung eine Geschichte beeindruckender Innovation ist. Dass wir nichts (mehr) verkaufen ist wohl war. Aber natürlich sind Sakramente Dienstleistungen. Was ist es denn anderes als ein Dienst, wenn Menschen ermöglicht wird, ihre Ehe vor Gott zu schließen, in Krankheit den Zuspruch Gottes zu erfahren oder die Vergebung der Sünden zugesagt zu bekommen? Natürlich ist eine andere Art Dienstleistung als man sie beim Friseur bekommt. Allgemein gesprochen besteht kirchliche Dienstleistung (nicht nur bei Sakramenten) darin, "darzustellen, dass Gott da ist" (Matthias Sellmann). Dogmatischer ausgedrückt: Sichtbares Zeichen der Gegenwart Gottes in der Welt zu sein.

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  4. Der Aussage, dass es einen - nachfrageorientierten - Markt für Religiöses/Tranzendenz gibt, würde ich ohne weiteres zustimmen. Diesen Markt gab es auch "früher" innerhalb der universellen katholischen Kirche - in der einen Markthalle entschied man sich dann vielleicht für den eher armutsorientierten radikalen Ansatz eines Franziskus, orientierte sich schlicht am Dorfpfarrer, wählte unterschiedliche Modelle von "Christentum light" - Kirche Sonntags und zu den Feiertagen - oder auch die Hardcoreversion (Trappistenorden). Dieser Markt ist nun sozusagen überregional geworden, und auch die katholische Kirche kann gar nicht anders, als auf diesem Markt präsent zu sein. Sie kann versuchen, eher den Markt der sozial orientierten, liturgiefernen Christen zu bedienen, indem sie Zugeständnisse an den "Zeitgeist" macht, oder sie zieht sich auf konservative Positionen zurück und ist dadurch ansprechend für die Kunden, die auf der Suche nach Tradition und "Form" sind. Aber egal, was sie macht, sie ist auf dem Markt präsent.
    Das Dilemma ist natürlich, dass der Anbieter davon überzeugt sei, sein Produkt sei das einzig wahre, die Kunden, die keine Bindung (mehr) an das "Produkt" haben, betrachten es aber als eine Option unter vielen.

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