Da hatte ich mir ja was Schönes eingebrockt: Auf meine unvorsichtige Ankündigung, bei Gelegenheit mal die aramäische Gemeinde in Berlin-Tiergarten besuchen zu wollen - vielleicht zu Ostern - und dann auch etwas darüber zu schreiben, reagierte Bloggerkollege Admiral mit dem fröhlichen Kommentar: "Ich freu mich schon auf den Bericht zum aramäischen Osterfest". Tja, aus der Nummer kam ich wohl nicht mehr raus. Seine treuen Leser will man ja nicht enttäuschen.
Die erste Herausforderung bestand nun darin, erst einmal in Erfahrung zu bringen, wann genau die Osterfeierlichkeiten dort stattfanden; mein aramäischer Bekannter aus der Kneipe, offenbar kein allzu fleißiger Kirchgänger, wusste es selbst nicht genau, im Internet konnte ich nichts darüber herausfinden, und dem Schaukasten am Metallzaun vor der Kirche Mor Jacob waren auch nur die regelmäßigen wöchentlichen Gottesdienstzeiten zu entnehmen, nicht aber die Termine für außerordentliche Festgottesdienste. Glücklicherweise traf ich meinen Bekannten am vorletzten Donnerstag noch einmal, und als ich bekräftigte, ich sei wirklich, ernsthaft interessiert, die Ostermesse in "seiner" Kirche zu besuchen, erklärte er, er werde seine Eltern fragen und mir dann Bescheid geben.
Am Samstagabend rief er mich an. "Ostermesse ist morgen früh, von Sechs bis Neun!" Na toll. Hätte ich das früher gewusst, wäre ich zum Zeitpunkt seines Anrufs wohl schon im Bett gewesen. Dass die Messe auf eine Dauer von drei Stunden angesetzt war, irritierte mich hingegen nicht: Kenner orthodoxer Liturgien hatten mich darauf vorbereitet, dass es durchaus auch sechs oder mehr Stunden sein könnten.
Dennoch teilte mein Bekannter mir mit, seine Mutter habe gesagt, damit ich mich nicht langweile, sollte ich vielleicht besser erst um Sieben oder halb Acht kommen. "Andererseits könnte das ein Problem mit dem Platz geben", fügte er hinzu: "Die Kirche wird total überfüllt sein."
Aber Platzproblem hin oder her, für mich kam es natürlich nicht in Frage, erst eine oder eineinhalb Stunden nach Beginn der Messe in der Kirche einzutreffen; schließlich wollte ich nicht aus lauter Jux und Tollerei zum Aramäischen Osterfest, sondern in bloggender Mission. Allerdings kam ich am Sonntagmorgen nicht ganz so früh aus den Federn und in die Klamotten, wie ich es eigentlich geplant hatte. Trotzdem wäre ich wohl noch halbwegs pünktlich gekommen, wenn die Berliner Verkehrsbetriebe nicht - vermutlich nicht ganz ohne Grund - der Auffassung wären, sonntags vor 6 Uhr früh sei es ja praktisch noch mitten in der Nacht, da müsse ja kein normaler Mensch irgendwo hin und es genüge folglich, wenn die Bahnen drei- bis viermal in der Stunde fahren. So war es dann doch schon fast halb Sieben, als ich an der Kirche ankam.
Die Kirche Mor Jacob (oder auch "St. Jacob") hieß früher einmal St. Ludgerus und war ursprünglich ein katholisches Gotteshaus - was man dem Innenraum immer noch ansieht, denn einige Ausstattungsstücke aus dieser Zeit - ein Porträt des früheren Kirchenpatrons, ein geschnitzter Kreuzweg, eine Replik der Sixtinischen Madonna - sind immer noch vorhanden, jetzt in einträchtiger Nachbarschaft mit orthodoxen Ikonen. 1984, als St. Ludgerus mit der benachbarten Pfarrei St. Matthias zusammengelegt wurde, überließ man das Gebäude der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien zur Nutzung - einer altorientalischen Kirche, die ihre Geschichte, wie der Namenszusatz zeigt, auf das altkirchliche Patriarchat von Antiochia zurückführt; dieses wurde der kirchlichen Tradition zufolge vom Hl. Petrus begründet. Damit ist die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien ihrem Selbstverständnis zufolge eine der ältesten christlichen Konfessionen - in gewissem Sinne sogar die älteste überhaupt, da, wie die Apostelgeschichte (11,26) berichtet, die Bezeichnung "Christen" für die Jünger Jesu Christi erstmals in Antiochia aufkam. - Heute hat die Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien die beiweitem meisten Anhänger in Indien, aber ursprünglich war sie im Wesentlichen im nahöstlichen Volk der Aramäer verwurzelt, dessen traditionelles Siedlungsgebiet auf dem Territorium der heutigen Staaten Türkei, Syrien, Libanon, Irak und Iran liegt. Nicht wenige Aramäer leben heute aber auch in den USA oder Europa - und rund 60.000 von ihnen in Deutschland. Aramäisch ist auch die Liturgiesprache der Syrisch-Orthodoxen Kirche.
Zu meiner Überraschung war die Kirche nicht annähernd voll. Nur etwa das vordere Drittel der Bankreihen war besetzt; rechts (vom Chor aus gesehen) saßen die Männer, überwiegend in grauen oder schwarzen Anzügen und alle mit Krawatten, selbst einige Jungen im Grundschulalter; links die Frauen, die älteren mit dunklen, unter dem Kinn verknoteten Kopftüchern, die jüngeren mit lose über das Haar gebreiteten weißen Spitzenschleiern. Der Chorraum war hinter einem bunten Vorhang verborgen, auf dem - von unten nach oben - Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt Christi dargestellt waren, flankiert von Bildern anderer biblischer Episoden, überwiegend aus den Evangelien, aber auch die Entrückung Elijas in den Himmel (2 Kön 2,1-18) war vertreten. Vor diesem Vorhang waren zwei kleine Altäre (oder einfach nur Tische?) aufgebaut, und um diese waren Männer und Frauen - ebenso getrennt voneinander wie in den Bankreihen - versammelt und sangen. Der Gesang bestand aus wenigen einfachen, sich ständig wiederholenden Melodiephrasen, sodass man sie monoton hätte nennen können, wenn das nicht so abwertend klänge: tatsächlich empfand ich den Gesang als sehr schön und bewegend.
Weiter passierte erst einmal nichts, und an dieser Stelle muss ich erst einmal ein Geständnis ablegen: Die Aufgabe, den weiteren Verlauf der aramäischen Ostermesse zu schildern, stellt mich vor einige Schwierigkeiten - denn mangels irgendwelcher Vorkenntnisse über orthodoxe, geschweige denn altorientalische Liturgien hatte ich zeitweilig erhebliche Mühe, mir einen Reim darauf zu machen, was um mich herum vorging, und teilweise hatte ich das Gefühl, mir fehle ganz einfach das Vokabular, um meine Beobachtungen korrekt zu beschreiben. Ich werde dennoch mein Bestes tun. Sollte unter meinen Lesern jemand sein, der sich besser auskennt, freue ich mich über ergänzende und berichtigende Kommentare.
Nun, seien wir ehrlich: Wenn, beispielsweise, jemand aus einer Freien evangelischen Gemeinde zum ersten mal in seinem Leben in eine katholische Kirche ginge, und dies dann ausgerechnet in der Osternacht - und diese würde dann auch noch auf Latein (oder in einer anderen Sprache, die der Besucher nicht versteht) zelebriert -, dann wäre der vermutlich auch reichlich überfordert und verwirrt. Womöglich sogar noch weit mehr als ich bei den Aramäern, denn in manchen Punkten hat deren ritus eben doch seine Gemeinsamkeiten mit dem katholischen - besonders mit jenem der außerordentlichen Form, mit der ich ja unlängst in St. Afra in Berlin-Wedding meine ersten Erfahrungen gesammelt habe. (Ein Thema, zu dem ich meinen Lesern übrigens noch ein Update schulde, denn ich war inzwischen erneut dort, sogar zu einer Stillen Messe, obwohl man mich davor "gewarnt" hatte - und dieser zweite Eindruck war schon wesentlich positiver als der erste. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden...) Zu diesen Gemeinsamkeiten zählte etwa der Umstand, dass die Gläubigen sich an zahlreichen Punkten der Liturgie - dem Anschein nach auf bestimmte, für mich allerdings nicht identifizierbare "Stichworte" hin - bekreuzigten (oft mehrmals nacheinander) und/oder verneigten; auch andere Gesten kamen mir aus dem katholischen Bereich bekannt vor, etwa dreimaliges An-die-Brust-Schlagen (Schuldbekenntnis?) oder das Berühren von Stirn, Mund und Brust mit den Fingerspitzen (ob dabei, wie "bei uns" vor der Verlesung des Evangeliums, mit den Fingerspitzen ein Kreuz gezeichnet wurde, kann ich nicht mit Sicherheit behaupten). Weihrauch kam reichlich zum Einsatz, und eine spezielle Übereinstimmung mit der außerordentlichen Form des römischen Ritus bestand darin, dass die Priester größtenteils ad orientem, also dem Altar zugewandt und somit mit dem Rücken zur Gemeinde agierten. Aber jetzt greife ich mir vor - zunächst waren nämlich gar keine Priester zu sehen, und der Altar, wie erwähnt, auch nicht.
Als dann doch zwei Geistliche - in schwarzen Talaren und mit ebenfalls schwarzen Käppchen, einer von ihnen mit goldenem Brustkreuz - vor dem geschlossenen Vorhang erschienen, erhob sich die Gemeinde; wenig später öffnete sich der Vorhang zum Chorraum, zwei Diakone (oder etwas Vergleichbares) in weißen Gewändern mit rotgoldenen Schärpen traten ein, einer trug ein Weihrauchgefäß, der andere ein reich geschmücktes Evangeliar, das von den Priestern geküsst wurde. Es dauerte allerdings nicht lange, bis die Priester und Diakone erst einmal wieder hinaus gingen, gefolgt von den männlichen Vorsängern, die im Nebenraum (Sakristei?) vernehmlich weiter sangen.
Als Minuten der Hauptzelebrant - ein sehr alter Mann, der sich auf einen Gehstock stützte - den Chorraum betrat, nun in festlichem Gewand und begleitet von zwei Männern, die Schellen an langen Stangen trugen (wie in aller Welt nennt man so etwas?), stimmten die beim Auszug der männlichen Vorsänger an ihrem Platz verbliebenen Vorsängerinnen ein Jubelgeheul an, das mich - ohne despektierlich klingen zu wollen - stark an indianisches Kriegsgeschrei erinnerte, wie man's aus Wildwestfilmen kennt. Einschließlich des Umstandes, dass die Damen sich mit der flachen Hand auf den Mund schlugen, um Triller zu erzeugen. Es folgten einige (gesungene) Schriftlesungen, von denen ich - natürlich - kein Wort verstand. (Mein Kneipen-Bekannter hatte mir schon im Vorfeld mitgeteilt. "Manchmal, wenn wir einen Gastprediger haben, aus dem Libanon zum Beispiel, verstehen wir selber nichts.") Kurz vor Schluss der Messe gab es dann allerdings auch eine Lesung in deutscher Sprache - aus Röm 8,1-17.
Im Laufe der Messe verließen die Priester und Diakone, einige Male auch die Vorsänger, noch mehrmals den Raum (wobei die Männer durch den Chorraum abgingen, die Frauen hingegen nicht); auch der Vorhang wurde noch mehrmals zu- und wieder aufgezogen. So ganz konnte ich die "Dramaturgie" des Geschehens nicht durchschauen, aber es wurde doch deutlich, dass jeder neue "Aufzug" eine Steigerung an Feierlichkeit und Intensität mit sich brachte. So legten auch die (bis dahin genauso wie die anderen Gemeindemitglieder gekleideten) Vorsänger - Männer wie Frauen - weiße Gewänder und farbenprächtige Schärpen an, und der Hauptzelebrant brachte ein ca. 30-40 cm hohes, mit einem roten Tuch geschmücktes Messingkreuz in den Chorraum, das im weiteren Verlauf immer wieder der Gemeinde gezeigt und von den Zelebranten und Vorsängern geküsst wurde.
Allmählich dämmerte mir auch, dass ich den Hinweis, um mich nicht zu langweilen, sollte ich vielleicht besser erst später kommen, wohl zu Unrecht auf die Tatsache bezogen hatte, dass ich ein des Aramäischen unkundiger und mit der Liturgie nicht vertrauter "Fremder" bin: Tatsächlich scheint es in dieser Kirche völlig normal zu sein, eine mehrere Stunden dauernde Messe nicht von Anfang an mitzufeiern. Nach der Ankündigung meines Bekannten, die Kirche werde "total überfüllt" sein, hatte ich mich schon über den eher schwachen Besuch gewundert, aber nach und nach füllten sich die Bänke - zunächst langsam, verstärkt dann ab ca. 7:30 Uhr. Gegen 8 Uhr war die Kirche praktisch voll, gegen 9 Uhr platzte sie aus allen Nähten. Wohl nicht ganz zufällig war es, dass mit zunehmender Dauer der Messe der Anteil der jüngeren und weniger formell gekleideten Teilnehmer tendenziell zunahm. Aber alle hielten sich an die Sitzordnung - Männer auf der einen Seite des Mittelgangs, Frauen auf der anderen. Ausnahmen wurden nur bei ganz kleinen Kindern gemacht; in meiner Bankreihe etwa nahm ein Mann Platz, der seine kleine Tochter auf den Schultern trug.
Die Unbekümmertheit, mit der hier ein großer Teil der Gottesdienstbesucher erst lange nach Beginn und zum Teil sogar erst relativ kurz vor Schluss der Messe in die Kirche kam, verblüffte mich schon ein wenig; aber damit nicht genug: Solange die Kirche noch nicht total überfüllt war, kam es immer mal wieder vor, dass einzelne Gemeindemitglieder vorübergehend wieder hinausgingen oder von Bank zu Bank gingen, um Bekannte zu begrüßen. Ich kenne so einige Kirchengemeinden, katholische wie evangelische, wo ein solches Verhalten als Respektlosigkeit, als Mangel an Ehrfurcht aufgefasst werden würde. Diesen Eindruck hatte ich hier aber ganz und gar nicht: Vielmehr schien es mir, dass die Gemeindemitglieder sich in der Kirche im besten Sinne "wie zu Hause fühlten" - und einer innigen Anteilnahme am liturgischen Geschehen tat diese "familiäre" Atmosphäre keinen Abbruch, ganz im Gegenteil: Beides ging Hand in Hand und wirkte so authentisch und - für die Beteiligten - selbstverständlich, dass sich meine Verwunderung darüber bald verlor. Im Rückblick glaube ich dieses Nebeneinander von ungezwungener Geselligkeit und tiefer Andacht nicht besser beschreiben zu können als mit einem Begriff, der für mich in meiner Zeit als zwar kirchlich engagierter, dabei aber gern betont "kritischer" Teenager eindeutig negativ konnotiert war: dem Begriff Volksfrömmigkeit. Um ein gewisses "volkstümliches" Element in der religiösen Praxis schätzen zu lernen, musste ich freilich nicht erst zu den Aramäern gehen, man kann es durchaus auch in katholischen Gemeinden (ja, sogar in Berlin!) erleben - aber beim aramäischen Osterfest erlebte ich es doch besonders intensiv.
Vor allem zwei Momente in der Liturgie beeindruckten mich sehr stark: Einmal ein Ritual, das wohl in etwa dem Friedensgruß entsprach, mit dem Unterschied, dass dieser Gruß hier zunächst von den Priestern an die dem Altar am nächsten Stehenden gespendet und dann von vorn nach hinten "weitergegeben" wurde, und zwar in atemberaubendem Tempo. Dabei legte man die Handflächen an diejenigen des Vorder-, Hinter- bzw. Nebenmannes und anschließend an die eigenen Wangen. Ich war gerührt, dass ich als - vermutlich - einziger Nicht-Aramäer im Raum umstandslos und herzlich in dieses Ritual einbezogen wurde und dafür, dass ich mich dabei etwas ungeschickt anstellte, mit einem freundlichen Lächeln bedacht wurde. Den ("dramaturgischen") Höhepunkt der Liturgie bildete eine Prozession der Priester und Vorsänger, bei der sie das Evangeliar und das Messingkreuz durch das Kirchenschiff trugen; alle diejenigen, die ihre Plätze nahe genug am Gang hatten, bemühten sich, eine flüchtige Berührung dieser Gegenstände zu erhaschen. Bei der Entlassung gab es dann noch einmal für alle die Gelegenheit, bis an die Grenze des Chorraums vorzutreten und Evangeliar und Kreuz zu küssen.
Einen kleinen Zwischenfall gab es während der Predigt; ich verstand ihn natürlich nicht, konnte mir aber aus den geflüsterten Anmerkungen einiger Männer in meiner Bankreihe (die untereinander deutsch sprachen) so halbwegs zusammenreimen, was da vorging: Der Hauptzelebrant unterbrach seine Predigt, und ein Mann im grauen Anzug, von dem man sich gut vorstellen konnte, dass er im Zivilberuf als Türsteher arbeitet, trat vor, um in strengem Ton einige junge Männer in den vorderen Bänken zu ermahnen - offenbar hatte der Priester sich von ihnen gestört oder sogar provoziert gefühlt. Anschließend übernahm dann der zweite, deutlich jüngere Priester das Predigen; ob dies "so gehörte" oder dadurch bedingt war, dass der alte Priester beleidigt war und nicht mehr weiterpredigen wollte, kann ich nicht beurteilen.
Eine Kommunion oder etwas damit Vergleichbares gab es übrigens nicht, aber beim Verlassen der Kirche sah ich, dass eine Schale an der Wand neben dem Ausgang, in früheren Zeiten vermutlich eine Weihwasserschale, mit einem flockigen, auf den ersten Blick wie Popcorn aussehenden Gebäck gefüllt worden war, von dem sich die Gemeindemitglieder im Vorübergehen eine Handvoll nahmen. Im Vorhof der Kirche war eine Kaffeetafel aufgebaut worden; und außerdem gab es -- Ostereier!
Insgesamt hatte die Messe übrigens nicht nur bis 9 Uhr, sondern fast bis Viertel vor Zehn gedauert; ich war also trotz meiner leichten Verspätung über drei Stunden dort gewesen, und entgegen der wohlmeinenden Befürchtung der Mutter meines Bekannten hatte ich mich überhaupt nicht gelangweilt. Im Gegenteil, ich fand es enorm interessant und schön, und die aramäische Gemeinde hat einen sehr sympathischen Eindruck auf mich gemacht. Ich schätze, da gehe ich mal wieder hin. Vielleicht zu Pfingsten...
(So, und jetzt zum Abschluss noch ein paar Bilder, damit Kollege Admiral auch zufrieden mit mir ist...)
Weiter passierte erst einmal nichts, und an dieser Stelle muss ich erst einmal ein Geständnis ablegen: Die Aufgabe, den weiteren Verlauf der aramäischen Ostermesse zu schildern, stellt mich vor einige Schwierigkeiten - denn mangels irgendwelcher Vorkenntnisse über orthodoxe, geschweige denn altorientalische Liturgien hatte ich zeitweilig erhebliche Mühe, mir einen Reim darauf zu machen, was um mich herum vorging, und teilweise hatte ich das Gefühl, mir fehle ganz einfach das Vokabular, um meine Beobachtungen korrekt zu beschreiben. Ich werde dennoch mein Bestes tun. Sollte unter meinen Lesern jemand sein, der sich besser auskennt, freue ich mich über ergänzende und berichtigende Kommentare.
Nun, seien wir ehrlich: Wenn, beispielsweise, jemand aus einer Freien evangelischen Gemeinde zum ersten mal in seinem Leben in eine katholische Kirche ginge, und dies dann ausgerechnet in der Osternacht - und diese würde dann auch noch auf Latein (oder in einer anderen Sprache, die der Besucher nicht versteht) zelebriert -, dann wäre der vermutlich auch reichlich überfordert und verwirrt. Womöglich sogar noch weit mehr als ich bei den Aramäern, denn in manchen Punkten hat deren ritus eben doch seine Gemeinsamkeiten mit dem katholischen - besonders mit jenem der außerordentlichen Form, mit der ich ja unlängst in St. Afra in Berlin-Wedding meine ersten Erfahrungen gesammelt habe. (Ein Thema, zu dem ich meinen Lesern übrigens noch ein Update schulde, denn ich war inzwischen erneut dort, sogar zu einer Stillen Messe, obwohl man mich davor "gewarnt" hatte - und dieser zweite Eindruck war schon wesentlich positiver als der erste. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden...) Zu diesen Gemeinsamkeiten zählte etwa der Umstand, dass die Gläubigen sich an zahlreichen Punkten der Liturgie - dem Anschein nach auf bestimmte, für mich allerdings nicht identifizierbare "Stichworte" hin - bekreuzigten (oft mehrmals nacheinander) und/oder verneigten; auch andere Gesten kamen mir aus dem katholischen Bereich bekannt vor, etwa dreimaliges An-die-Brust-Schlagen (Schuldbekenntnis?) oder das Berühren von Stirn, Mund und Brust mit den Fingerspitzen (ob dabei, wie "bei uns" vor der Verlesung des Evangeliums, mit den Fingerspitzen ein Kreuz gezeichnet wurde, kann ich nicht mit Sicherheit behaupten). Weihrauch kam reichlich zum Einsatz, und eine spezielle Übereinstimmung mit der außerordentlichen Form des römischen Ritus bestand darin, dass die Priester größtenteils ad orientem, also dem Altar zugewandt und somit mit dem Rücken zur Gemeinde agierten. Aber jetzt greife ich mir vor - zunächst waren nämlich gar keine Priester zu sehen, und der Altar, wie erwähnt, auch nicht.
Als dann doch zwei Geistliche - in schwarzen Talaren und mit ebenfalls schwarzen Käppchen, einer von ihnen mit goldenem Brustkreuz - vor dem geschlossenen Vorhang erschienen, erhob sich die Gemeinde; wenig später öffnete sich der Vorhang zum Chorraum, zwei Diakone (oder etwas Vergleichbares) in weißen Gewändern mit rotgoldenen Schärpen traten ein, einer trug ein Weihrauchgefäß, der andere ein reich geschmücktes Evangeliar, das von den Priestern geküsst wurde. Es dauerte allerdings nicht lange, bis die Priester und Diakone erst einmal wieder hinaus gingen, gefolgt von den männlichen Vorsängern, die im Nebenraum (Sakristei?) vernehmlich weiter sangen.
Als Minuten der Hauptzelebrant - ein sehr alter Mann, der sich auf einen Gehstock stützte - den Chorraum betrat, nun in festlichem Gewand und begleitet von zwei Männern, die Schellen an langen Stangen trugen (wie in aller Welt nennt man so etwas?), stimmten die beim Auszug der männlichen Vorsänger an ihrem Platz verbliebenen Vorsängerinnen ein Jubelgeheul an, das mich - ohne despektierlich klingen zu wollen - stark an indianisches Kriegsgeschrei erinnerte, wie man's aus Wildwestfilmen kennt. Einschließlich des Umstandes, dass die Damen sich mit der flachen Hand auf den Mund schlugen, um Triller zu erzeugen. Es folgten einige (gesungene) Schriftlesungen, von denen ich - natürlich - kein Wort verstand. (Mein Kneipen-Bekannter hatte mir schon im Vorfeld mitgeteilt. "Manchmal, wenn wir einen Gastprediger haben, aus dem Libanon zum Beispiel, verstehen wir selber nichts.") Kurz vor Schluss der Messe gab es dann allerdings auch eine Lesung in deutscher Sprache - aus Röm 8,1-17.
Im Laufe der Messe verließen die Priester und Diakone, einige Male auch die Vorsänger, noch mehrmals den Raum (wobei die Männer durch den Chorraum abgingen, die Frauen hingegen nicht); auch der Vorhang wurde noch mehrmals zu- und wieder aufgezogen. So ganz konnte ich die "Dramaturgie" des Geschehens nicht durchschauen, aber es wurde doch deutlich, dass jeder neue "Aufzug" eine Steigerung an Feierlichkeit und Intensität mit sich brachte. So legten auch die (bis dahin genauso wie die anderen Gemeindemitglieder gekleideten) Vorsänger - Männer wie Frauen - weiße Gewänder und farbenprächtige Schärpen an, und der Hauptzelebrant brachte ein ca. 30-40 cm hohes, mit einem roten Tuch geschmücktes Messingkreuz in den Chorraum, das im weiteren Verlauf immer wieder der Gemeinde gezeigt und von den Zelebranten und Vorsängern geküsst wurde.
Allmählich dämmerte mir auch, dass ich den Hinweis, um mich nicht zu langweilen, sollte ich vielleicht besser erst später kommen, wohl zu Unrecht auf die Tatsache bezogen hatte, dass ich ein des Aramäischen unkundiger und mit der Liturgie nicht vertrauter "Fremder" bin: Tatsächlich scheint es in dieser Kirche völlig normal zu sein, eine mehrere Stunden dauernde Messe nicht von Anfang an mitzufeiern. Nach der Ankündigung meines Bekannten, die Kirche werde "total überfüllt" sein, hatte ich mich schon über den eher schwachen Besuch gewundert, aber nach und nach füllten sich die Bänke - zunächst langsam, verstärkt dann ab ca. 7:30 Uhr. Gegen 8 Uhr war die Kirche praktisch voll, gegen 9 Uhr platzte sie aus allen Nähten. Wohl nicht ganz zufällig war es, dass mit zunehmender Dauer der Messe der Anteil der jüngeren und weniger formell gekleideten Teilnehmer tendenziell zunahm. Aber alle hielten sich an die Sitzordnung - Männer auf der einen Seite des Mittelgangs, Frauen auf der anderen. Ausnahmen wurden nur bei ganz kleinen Kindern gemacht; in meiner Bankreihe etwa nahm ein Mann Platz, der seine kleine Tochter auf den Schultern trug.
Die Unbekümmertheit, mit der hier ein großer Teil der Gottesdienstbesucher erst lange nach Beginn und zum Teil sogar erst relativ kurz vor Schluss der Messe in die Kirche kam, verblüffte mich schon ein wenig; aber damit nicht genug: Solange die Kirche noch nicht total überfüllt war, kam es immer mal wieder vor, dass einzelne Gemeindemitglieder vorübergehend wieder hinausgingen oder von Bank zu Bank gingen, um Bekannte zu begrüßen. Ich kenne so einige Kirchengemeinden, katholische wie evangelische, wo ein solches Verhalten als Respektlosigkeit, als Mangel an Ehrfurcht aufgefasst werden würde. Diesen Eindruck hatte ich hier aber ganz und gar nicht: Vielmehr schien es mir, dass die Gemeindemitglieder sich in der Kirche im besten Sinne "wie zu Hause fühlten" - und einer innigen Anteilnahme am liturgischen Geschehen tat diese "familiäre" Atmosphäre keinen Abbruch, ganz im Gegenteil: Beides ging Hand in Hand und wirkte so authentisch und - für die Beteiligten - selbstverständlich, dass sich meine Verwunderung darüber bald verlor. Im Rückblick glaube ich dieses Nebeneinander von ungezwungener Geselligkeit und tiefer Andacht nicht besser beschreiben zu können als mit einem Begriff, der für mich in meiner Zeit als zwar kirchlich engagierter, dabei aber gern betont "kritischer" Teenager eindeutig negativ konnotiert war: dem Begriff Volksfrömmigkeit. Um ein gewisses "volkstümliches" Element in der religiösen Praxis schätzen zu lernen, musste ich freilich nicht erst zu den Aramäern gehen, man kann es durchaus auch in katholischen Gemeinden (ja, sogar in Berlin!) erleben - aber beim aramäischen Osterfest erlebte ich es doch besonders intensiv.
Vor allem zwei Momente in der Liturgie beeindruckten mich sehr stark: Einmal ein Ritual, das wohl in etwa dem Friedensgruß entsprach, mit dem Unterschied, dass dieser Gruß hier zunächst von den Priestern an die dem Altar am nächsten Stehenden gespendet und dann von vorn nach hinten "weitergegeben" wurde, und zwar in atemberaubendem Tempo. Dabei legte man die Handflächen an diejenigen des Vorder-, Hinter- bzw. Nebenmannes und anschließend an die eigenen Wangen. Ich war gerührt, dass ich als - vermutlich - einziger Nicht-Aramäer im Raum umstandslos und herzlich in dieses Ritual einbezogen wurde und dafür, dass ich mich dabei etwas ungeschickt anstellte, mit einem freundlichen Lächeln bedacht wurde. Den ("dramaturgischen") Höhepunkt der Liturgie bildete eine Prozession der Priester und Vorsänger, bei der sie das Evangeliar und das Messingkreuz durch das Kirchenschiff trugen; alle diejenigen, die ihre Plätze nahe genug am Gang hatten, bemühten sich, eine flüchtige Berührung dieser Gegenstände zu erhaschen. Bei der Entlassung gab es dann noch einmal für alle die Gelegenheit, bis an die Grenze des Chorraums vorzutreten und Evangeliar und Kreuz zu küssen.
Einen kleinen Zwischenfall gab es während der Predigt; ich verstand ihn natürlich nicht, konnte mir aber aus den geflüsterten Anmerkungen einiger Männer in meiner Bankreihe (die untereinander deutsch sprachen) so halbwegs zusammenreimen, was da vorging: Der Hauptzelebrant unterbrach seine Predigt, und ein Mann im grauen Anzug, von dem man sich gut vorstellen konnte, dass er im Zivilberuf als Türsteher arbeitet, trat vor, um in strengem Ton einige junge Männer in den vorderen Bänken zu ermahnen - offenbar hatte der Priester sich von ihnen gestört oder sogar provoziert gefühlt. Anschließend übernahm dann der zweite, deutlich jüngere Priester das Predigen; ob dies "so gehörte" oder dadurch bedingt war, dass der alte Priester beleidigt war und nicht mehr weiterpredigen wollte, kann ich nicht beurteilen.
Eine Kommunion oder etwas damit Vergleichbares gab es übrigens nicht, aber beim Verlassen der Kirche sah ich, dass eine Schale an der Wand neben dem Ausgang, in früheren Zeiten vermutlich eine Weihwasserschale, mit einem flockigen, auf den ersten Blick wie Popcorn aussehenden Gebäck gefüllt worden war, von dem sich die Gemeindemitglieder im Vorübergehen eine Handvoll nahmen. Im Vorhof der Kirche war eine Kaffeetafel aufgebaut worden; und außerdem gab es -- Ostereier!
Insgesamt hatte die Messe übrigens nicht nur bis 9 Uhr, sondern fast bis Viertel vor Zehn gedauert; ich war also trotz meiner leichten Verspätung über drei Stunden dort gewesen, und entgegen der wohlmeinenden Befürchtung der Mutter meines Bekannten hatte ich mich überhaupt nicht gelangweilt. Im Gegenteil, ich fand es enorm interessant und schön, und die aramäische Gemeinde hat einen sehr sympathischen Eindruck auf mich gemacht. Ich schätze, da gehe ich mal wieder hin. Vielleicht zu Pfingsten...
(So, und jetzt zum Abschluss noch ein paar Bilder, damit Kollege Admiral auch zufrieden mit mir ist...)
Das ist heute schon der zweite Artikel, der wegen mir geschrieben worden ist. Ich fühle mich sehr geehrt. :-)
AntwortenLöschenSehr schön, auch die Fotos.
Das Label "Kara Ben Nemsi...." gefällt mir auch gut.
Hoffentlich kommen noch Präzisierungen von aramäischen Profis.
Ich finde diese Beschreibung der Liturgie sehr realistisch und gut beobachtet. Ich selbst bin Jude
AntwortenLöschenund gehe leidenschaftlich gerne zu den altorient-
alischen Gottesdiensten, da ich oft in Syrien weilte. Ich gehe aber auch zum "außerordentlichen" der Katholen, aber nicht zu St. Afra, sondern zu den Pius X-Leuten. Die jüd. Liturgie gibt mir per-
sönlich gar nichts. Machen Sie weiter so, lieber
Autor. Gruß Jochanan