Samstag, 27. April 2013

Let's talk about Socks!

Wo Erzbischof Zollitsch Recht hat, hat er Recht: Es ist zur Zeit tatsächlich ziemlich "interessant", katholisch zu sein. Interessante Zeiten überhaupt, in denen wir leben. Besonders interessant geht's in den einschlägigen sozialen Netzwerken zu. Zum Beispiel hätte ich nie damit gerechnet, dass nur wenige Tage nach einem Femen-Angriff auf den Erzbischof von Mechelen-Brüssel, André Léonard, das öffentliche Interesse an einem Blogartikel über nackte weibliche Brüste beiweitem in den Schatten gestellt werden würde vom Interesse an nackten oder gegebenenfalls auch bestrumpften Männerfüßen. Wenn so etwas passiert, dann kann das nur einen Grund haben:


Erst kürzlich wurde ich gefragt: "Was habt ihr" - mit "ihr" war die Blogoezese gemeint, und ich empfand es schon als recht schmeichelhaft, quasi als deren Repräsentant angesprochen zu werden, wenn auch nur im Rahmen einer privaten Unterhaltung - "eigentlich alle gegen das ZdK?" Eine griffige Antwort darauf zu finden, fiel mir gar nicht leicht; und auch als der ZdK-Vorsitzende Alois Glück zur Eröffnung der Vollversammlung seines illustren Gremiums (wieder mal) über "Chancen für Reformen in der Kirche" schwadronierte, konnte ich nicht so recht auf den Punkt bringen, was mich an seinen Einlassungen dermaßen aufregte, dass ich am liebsten irgend etwas Zerbrechliches an die Wand oder aus dem Fenster geworfen hätte. Nun gut: Dass Herr Glück über den Amtsverzicht Benedikts XVI. und die Wahl dessen Nachfolgers Franziskus äußerte, "[b]eide Ereignisse, Rücktritt und Neuwahl", hätten "eine außerordentlich hohe Zustimmung gefunden", war ja schon eine ziemliche Frechheit, zumindest Benedikt gegenüber - so sehr der ZdK-Vorsitzende dies in direktem Anschluss daran mit betont respektvollen Äußerungen gegenüber dem emeritierten Papst zu bemänteln suchte. Aber in dieser Hinsicht ist man ja eigentlich noch Schlimmeres gewöhnt. Andererseits und immerhin klang in Herrn Glücks Rede auch ein unerwartetes Quentchen Selbstkritik an: Papst Franziskus' eindringliche Warnung vor allzu großer Selbstbezogenheit der Kirche sei
"auch als Auftrag für das ZdK und die gesamte Laienarbeit in Deutschland zu verstehen. Man dürfe nicht vergessen, dass sich die Laien ebenfalls fragen müssten: 'Sind nicht auch wir zu sehr mit unserem eigenen Tun, mit unseren eigenen Strukturen und Mechanismen, mit unserer eigenen Selbstbestätigung beschäftigt?'"
In der Tat: Da staunt der Fachmann, und der Laie (sic!) wundert sich. Kann man das ZdK angesichts solch überraschend einsichtiger Töne überhaupt noch aus voller Brust kritisieren? - Keine Bange: Man kann. Dafür sorgte das Gremium gleich am nächsten Tag, nämlich heute.

Dass die Diskussion über "Zukunftshorizonte christlicher Sexualethik" einen Themenschwerpunkt der ZdK-Vollversammlung bilden sollte, war bereits im Vorfeld treffend kommentiert worden. Das Referat von Frau Dr. Claudia Lücking-Michel zu diesem Thema übertraf dann jedoch alle Erwartungen souverän - indem die Referentin auf einen Aspekt zu sprechen kam, dessen Zusammenhang mit "Sexualethik" wohl nicht jedem sofort ersichtlich sein dürfte: die Fußwaschung am Gründonnerstag! Wir erinnern uns, dass Papst Franziskus dieses Ritual heuer in einem römischen Jugendgefängnis zelebrierte, und ebenso erinnern wir uns, dass von konservativer und traditionalistischer Seite Kritik daran laut wurde, dass der Papst dabei auch jungen Frauen, ja sogar einer muslimischen jungen Frau die Füße wusch und obendrein küsste. Dass das irgend etwas mit Sex zu tun haben könnte, ist aber wohl auch den Kritikern des Papstes nicht eingefallen. Anders Frau Lücking-Michel vom ZdK. Nicht nur, dass sie in einigermaßen befremdlicher Diktion eine "sinnliche" Qualität der Frauenfußwaschung behauptet - sie kann es sich nicht verkneifen, hinzuzufügen:
"Vielleicht haben Sie aber auch, einige von Ihnen die gleiche Szene in den Jahren vorher vor Augen: Papst Benedikt wäscht ausgewählten Männern, in der Regel Priestern, die Füße, die sie ihm mit angezogenen Socken entgegen halten, damit er ihnen einige wenige Tropfen Weihwasser  drauf sprengt. Nacktes Fleisch und sei es der Fuß …"
Den Rest ihrer Einlassungen kann man sich schenken, es ist ja offensichtlich, in welche Richtung das geht. Bloggerkollege Cicero bringt es auf den Punkt: "Infam jedenfalls ist die Gegenüberstellung: Franziskus ist unverklemmt und knutscht nackte Frauenfüße. Benedikt hingegen repräsentiert die verklemmte Sexualmoral der Kirche." Dass diese Gegenüberstellung in erster Linie gegen Benedikt gerichtet ist, mit dem das ZdK ja nie so recht "konnte", ist offensichtlich - aber im Grunde ist es beiden Päpsten gegenüber eine Unverschämtheit. Auch wenn es wohl nicht zu leugnen ist, dass Papst Franziskus eine, sagen wir mal, "Lockerheit" und Jovialität ausstrahlt, die seinem Vorgänger in dieser Form eher fremd war, erscheint es schon mehr als abwegig, dies irgendwie mit "Zukunftshorizonten christlicher Sexualethik" in Verbindung bringen zu wollen - und was noch erschwerend hinzu kommt: Die behaupteten Berührungsängste Benedikts XVI. gegenüber unbestrumpften Füßen sind schlichtweg erstunken und erlogen! Seit Stunden kursieren auf Facebook "Bildbeweise" von diversen Gründonnerstags-Fußwaschungen Benedikts aus den knapp acht Jahren seines Pontifikats; und, zugegeben, es sind ausschließlich Männerfüße darauf zu sehen, aber, entgegen den Insinuationen der ZdK-Vizepräsidentin, keine einzige Socke!

Vielleicht hat die gute Frau einfach was verwechselt. Vielleicht bezieht sich ihre Äußerung, wie Bloggerkollegin Claudia mir auf Facebook schrieb, in Wirklichkeit auf "das in unseren Breiten in Vergessenheit geratene Sakrament der Sockensegnung", das "[ü]blicherweise [...] katholischen Wandergruppen gespendet" wird. Vielleicht handelt es sich, wie Alipius meint, um ein bislang völlig unbekanntes "Sockrament". Man weiß es nicht. Man kann nur staunen und sich fragen, was eine hochrangige Repräsentantin jenes Gremiums, das sich als Laienvertretung der Katholischen Kirche in Deutschland versteht, eine Repräsentatin übrigens, die außerdem Bundestagsabgeordnete für die CDU ist, geritten haben mag, öffentlich solchen hanebüchenen und, wie sich gezeigt hat, mühelos widerlegbaren Unfug zu behaupten. Und wozu.

Nun gut. Eins hat das ZdK damit jedenfalls geschafft: Die ganze Blogoezese - so jedenfalls mein zweifellos nicht gerade umfassender Eindruck - sammelt begeistert Bilder, die Benedikt XVI. zusammen mit nackten Männerfüßen zeigen, und bricht in kollektives Gekicher aus, sobald jemand "Socke" sagt. Möglicherweise hat jegliche ernsthafte Auseinandersetzung mit dem ZdK sich damit bis auf Weiteres erledigt. Wie Eckhard Henscheid einmal schrieb: "Derart hochartifiziellen Unfug sollte man vielmehr tunlichst schlichtweg loben"...


P.S.: Verbindlichsten Dank für die Überschrift zu diesem Artikel schulde ich Monika Gräfin Metternich!

[Update: Einen eindrucksvollen Überblick über die laufende Sockendebatte auf Facebook gibt's hier - bei Cicero...]

"Wo fass' ich dich, unendliche Natur? Euch Brüste, wo?"

In der Orestie des Aischylos (458 v.Chr.) - wie auch in einigen anderen literarischen Bearbeitungen desselben Stoffes - zeigt Klytämnestra ihrem Sohn Orest, als dieser sie auf Befehl des Gottes Apoll erschlagen will, ihre Brüste:
"Mein Sohn! Halt inne! Scheue diese Brust, mein Kind,
Aus der du oft mit deinen Lippen, halb im Schlaf,
Die Muttermilch gesogen, die dich wohl genährt."
(V. 896ff., Übersetzung: Emil Staiger)
Daran musste ich denken, als kürzlich auf Facebook ein Preis für eine halbwegs plausible Beantwortung der Frage ausgelobt wurde, "was das Präsentieren von Geschlechtsmerkmalen mit Befreiung der Frau zu tun hat".  Die Frage bezog sich, wie man sich vorstellen kann, auf die Praxis der Femen, bei ihren, nun ja, "Aktionen" prinzipiell barbusig aufzutreten. Bei dem versprochenen Preis handelte es sich zwar lediglich um ein Bonbon, aber man soll ja auch kleine Dinge zu schätzen wissen. Ich legte mich also einigermaßen ins Zeug und argumentierte unter Verweis auf die Klytämnestra-Orest-Situation, dass die weibliche Brust geradezu idealtypisch die dem Ewig-Weiblichen innewohnende lebensspendende und -erhaltende Kraft symbolisiere, von der schließlich auch der Mann existentiell abhängig sei. Na ja, oder so ähnlich halt.

Vielleicht muss man aber auch gar nicht so weit in die Ferne schweifen. Man könnte sich stattdessen auch an die Blütezeit der Blumenkinder erinnern, als die Jungs ihre Einberufungsbefehle zum Vietnamkrieg verbrannten und die Mädels ihre BHs. Irgendwo scheint es da ja einen Zusammenhang zu geben, zwischen dem Protest der Einen dagegen, in eine Uniform gesteckt zu werden, ein Gewehr in die Hand gedrückt zu bekommen und in einen Krieg geschickt zu werden, von dem sie nicht einmal wissen, worum es da geht und was er mit ihnen zu tun haben soll, und dem Protest der Anderen dagegen, ihren Körper dem Diktat von etwas so Nebelhaftem wie "Anstand" und "Sitte" zu unterwerfen. Es scheint mir ein ganz interessanter Gedanke, dass der Protest der Hippies gegen den Vietnamkrieg primär gar nicht politisch motiviert und auch nicht von einem prinzipiellen Pazifismus getragen war, sondern vielmehr, zusammen mit dem BH-Verbrennen und dem ausufernden Drogenkonsum, einfach Teil einer Jugendbewegung war, die dagegen aufbegehrte, dass "jemand anderes sie gürtet und dahin führt, wohin sie nicht will" (vgl. Joh 21,18). Hat das was mit den Femen zu tun? Vielleicht. Als "Jugendbewegung" im eigentlichen Sinne wird man sie zwar wohl nicht klassifizieren können, aber besonders erwachsen wirkt ihr Verhalten ja nun auch nicht gerade.

In der obbesagten Facebook-Diskussion wurden aber auch noch andere Erklärungsansätze für die habituelle Brustentblößung der Femen angeboten - darunter die, es gehe darum, sich als "sexuell a(ttra)ktiv zu präsentieren, ohne dass die Rezipienten dieser Botschaft darauf affirmativ reagieren dürfen" - was darauf hinausliefe, die Männer zu demütigen, indem man ihnen vor Augen führt, dass sie Sklaven ihrer sexuellen Gelüste und somit auch dem Objekt dieser Gelüste, der Frau eben, von Natur aus unterlegen seien. Klingt zugegebenermaßen auch nicht unplausibel. Andererseits wiederum sei daran erinnert, dass die frühen Protagonisten der Freikörperkultur noch meinten, das Verhältnis der Geschlechter zueinander gerade dadurch entsexualisieren zu können, dass sie den Anblick nackter Körper zu etwas Normalem und Alltäglichen zu machen strebten. Diesen Ansatz muss man wohl als gescheitert betrachten - zumindest in unseren Breiten ist es heute sehr viel einfacher, nackter Körper (auch des anderen Geschlechts) ansichtig zu werden, als es in früheren Jahrhunderten der Fall war, und ich sehe nicht, dass das einen "entsexualisierenden" Effekt hätte -; aber merken wir uns der Vollständigkeit halber auch dieses mögliche Motiv für den Hang zur öffentlichen  Entblößung.

Angesichts dieser Vielzahl möglicher Deutungen könnte man auf die Idee kommen, die Barbusigkeit der Femen sei ein komplexes Symbol; noch wahrscheinlicher ist es aber womöglich, dass sie überhaupt kein Symbol ist, insofern, als sie nichts symbolisiert. Dass sich tatsächlich nichts Anderes dahinter verbirgt als ein kalkuliertes Mittel, möglichst große mediale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Was ja, wie man mit großer Regelmäßigkeit beobachten kann, bestens funktioniert. Wenn sich mir und anderen dabei die Frage stellt, was das denn bitteschön für eine Botschaft sein soll, die auf nichts verweist als auf sich selbst, dann beweist das womöglich nur, dass wir noch nicht so richtig in der Postmoderne angekommen sind - und das rund ein halbes Jahrhundert nach Marshall McLuhan ("The Medium is the Message"). Traurig, traurig. Andererseits: Vielleicht wollen wir da ja gar nicht hin.

Was man aus den Körperbotschaften der Femen sonst noch so herauslesen könnte, ist eindrucksvoll bei Alipius zu besichtigen.


P.S.: Dank für die Überschrift dieses Artikels geht an einen gewissen J.W. Goethe. Die vielleicht unappetitlichsten Verse, die der alte Germanistenschreck je zu Papier gebracht hat (Faust. Der Tragödie erster Teil. V. 455f.). Chapeau! -- Alternativ hätte ich natürlich auch einen Songtext der Gruppe Fettes Brot variieren können:

"Femen, packt eure Brüste ein! Femen, zieht euch bitte etwas an!"

P.P.S.: "obbesagten" ist kein Tippfehler. Dieses Wort gibt es, es ist nur ein wenig aus der Mode gekommen. Man spricht es mit kurzem O aus. [Germanisten-Klugscheißer-Modus off.]

Sonntag, 21. April 2013

Fünfmal täglich oder öfter

Der Berliner Senat hat eine neue Integrationskampagne gestartet: Unter dem Motto "Einbürgerung jetzt!" soll dafür geworben werden, dass Immigranten die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben. "Berlin braucht Einbürgerung", betont die Integrationssenatorin Dilek Kolat; darum solle mit der neuen Kampagne ein "einbürgerungsfreundliches Klima" geschaffen werden.

Die "Einbürgerung jetzt!"-Plakate zeigen überwiegend junge, attraktive Menschen beiderlei Geschlechts, denen man ihre nichtdeutsche Herkunft an der Nasenspitze ansehen kann, und dazu den Text. "Ich bin DEUTSCHE/R und...", und dann halt irgendwas, was die betreffende Person außer deutsch noch so ist. Eins der Plakatmotive zeigt eine junge Frau mit Kopftuch, und hier lautet der Text: "Ich bin DEUTSCHE und bete fünfmal am Tag". Auf den ersten Blick sieht das nach einem klaren Fall von "Na und?" aus: Warum sollte eine Deutsche nicht fünfmal am Tag beten? Aber man ahnt natürlich, wie das gemeint ist. 'Fünfmal am Tag beten' steht hier pars pro toto für 'Muslim sein'. Dass es - selbst in Deutschland, ja, sogar in Berlin! - Menschen gibt, die fünfmal am Tag oder sogar noch öfter beten, ohne Muslime zu sein, kommt dabei gar nicht in den Blick. Ob beabsichtigt oder nicht, suggeriert das Plakat: Beten, erst recht fünfmal am Tag, ist etwas Fremdes und Sonderbares, aber die Muslime machen das nun mal so - das muss man tolerieren, im Interesse der Integration.

Beim Nachsinnen über diese Werbebotschaft hatte ich plötzlich eine Idee für eine kleine Variation des Plakatmotivs. Man nehme statt der jungen Muslima mit Kopftuch eine Ordensfrau im Habit, mit einem Brevier in der Hand, und dazu den Satz:

"Ich bin Deutsche und bete siebenmal am Tag."

Je länger ich über diesen Einfall nachdenke, desto besser gefällt er mir. Wäre doch mal ein hübscher Auftakt für eine Kampagne, die man - in Anlehnung an einen berühmten Satz eines ehemaligen Bundespräsidenten - "Das Christentum gehört zu Deutschland" nennen könnte - oder so ähnlich...

Samstag, 20. April 2013

Gloria.tv und ich

Vermisst hier eigentlich jemand kreuz.net? Also, ich ja nicht so. Auf ein Internetportal, das sich mit Vorliebe der Anpöbelei, Verleumdung und Verächtlichmachung von Menschen aufgrund deren Religion, politischer Einstellung oder sexueller Orientierung widmet und  das Ganze dann auch noch "katholische Nachrichten" nennt, kann ich sehr gut verzichten. Offenbar geht das aber nicht Allen so. Sicher: Der hohe Bekanntheitsgrad von kreuz.net, die enormen Zugriffszahlen, von denen die Betreiber vieler anderer Online-Plattformen nur träumen können, müssen ja irgendwoher gekommen sein. Und es liegt wohl nicht fern, unter den regelmäßigen kreuz.net-Lesern zwei große Gruppen zu vermuten: die einen, die in den Beiträgen des Portals ihre eigenen Anschauungen widergespiegelt sahen, und die anderen, die sich - wohl nicht ohne eine gewisse "Lust am Grauen" - darüber entsetzten, wie furchtbar das alles ist.

Dass beiden Gruppen seit der Abschaltung von kreuz.net irgendetwas fehlt, kann man nachvollziehen: Den Einen fehlt ein Sprachrohr für ihre Ansichten, den Anderen ein knalliges Feindbild. Die naheliegende Reaktion auf diesen Mangel ist für beide Gruppen dieselbe: Man schaut sich in den Weiten des Internets nach Ersatz um.

Zu den katholischen Internetpräsenzen, die schon zu "Lebzeiten" von kreuz.net verschiedentlich mit dieser Seite in einem Atemzug genannt wurden, gehören an prominenter Stelle kath.net und gloria.tv. Im Falle von kath.net habe ich das nie recht nachvollziehen können. Zwar wurde in manchen Leserkommentaren zuweilen eine Sprache geführt, die vermuten ließ, dass sich dort zum Teil dieselben Trolle tummelten wie bei kreuz.net; aber seine Leser sucht man sich ja nicht aus. Die redaktionellen Beiträge auf kath.net jedenfalls unterschieden sich für mein Empfinden ganz erheblich vom engstirnigen Ultra-Traditionalismus wie auch vom diffamierungsfreudigen Krawallstil von kreuz.net. Und nach der Abschaltung der letztgenannten Seite gilt das nicht minder - was freilich nicht verhindern konnte, dass, nachdem die nur zu berechtigte Wut und Empörung über kreuz.net in Folge des schändlichen Dirk Bach-"Nachrufs" einen mit teils mehr, teils weniger redlichen Mitteln geführten Feldzug gegen diese Seite ausgelöst hatte, auch kath.net wiederholt Opfer von Hackerangriffen wurde und wird. Aus Sicht einer kirchen- und allgemein religionsfernen medialen Öffentlichkeit erscheinen wohl einfach beide Webpräsenzen als Sprachrohre dunkelkatholischer Hardliner, da verwischen sich die Unterschiede, die bei genauerem Hinsehen eigentlich deutlich genug sein müssten.

Über gloria.tv kann ich aus persönlicher Sicht wesentlich weniger sagen - was zum Teil daran liegt, dass auf dieser Seite, wie die Domainendung schon andeutet, hauptsächlich Videos gepostet werden, und ich sehe mir selten Videos im Internet an - weiß auch nicht genau, warum. Aber man hört und liest ja so einiges. So etwa, dass auf gloria.tv Beiträge erschienen, die Solidarität mit kreuz.net ausdrückten. Und dann dieser Beitrag, in dem Bilder einiger deutscher Bischöfe mit einem Hakenkreuz "verziert" wurden - wegen ihrer aus Sicht mancher Hardcore-Katholiken zu "weichen" Haltung zur "Pille danach". Inwieweit man dadurch zum Nazi wird, dass man anmahnt, bei aller Entschiedenheit des Eintretens für den Schutz des ungeborenen Lebens nicht die Nöte von Vergewaltigungsopfern aus den Augen zu verlieren, wird wohl das Geheimnis der Macher dieses Beitrags bleiben müssen. Klar dürfte hingegen sein: Wenn ein Portal, das mit dem Slogan "the more catholic the better" für sich wirbt, zu derart verleumderischer Propaganda greift, tut man gerade als gläubiger Katholik gut daran, sich klar und unmissverständlich davon abzugrenzen.

Nun ist eine solche Abgrenzung allerdings in der Praxis gar nicht so einfach, wie man sich das vorstellen oder wünschen könnte - schon gar nicht in der Welt des Internets, in der Publizität sehr wesentlich durch Verlinkungen erzielt wird. Und verlinken kann schließlich jeder alles. Wer selbst erstellte Inhalte ins Internet stellt, wird sich im Allgemeinen auch nicht darüber beschweren, wenn diese irgendwo verlinkt werden, denn er will ja, dass seine Beiträge zur Kenntnis genommen werden. Passiert das nicht von alleine, dann sorgt man auch gern selbst dafür, Links zu seinen Beiträgen überall dort zu platzieren, wo es möglich ist und sinnvoll scheint. Zum Beispiel eben in Kommentarbereichen und Foren von Plattformen, mit deren inhaltlichen Ausrichtung man vielleicht nicht immer und überall übereinstimmt, wo man aber immerhin mit einem Publikum rechnen kann, das ein gewisses Interesse an den Inhalten haben könnte, die man dort verlinkt.

Es ist wohl nicht nur mir noch gut erinnerlich, wie im Zuge der Causa kreuz.net Personen ins Fadenkreuz der Öffentlichkeit gerieten, die sich durch Verlinkungen, Kommentare oder auch Gastbeiträge mit dieser Seite in Verbindung gebracht hatten. Auch dann, wenn die Beiträge der betreffenden Personen an sich durchaus nichts von Hass und Hetze an sich hatten, galt da: Mitgefangen, mitgehangen - oder: "Wer sich in die Bar begibt, bekommt darin Rum". Nun kann man im Falle von kreuz.net argumentieren, es hätte den Betreffenden - vielleicht nicht von Anfang an, aber ab einem gewissen Zeitpunkt dann doch - klar sein können und müssen, dass sie ein Hass- und Hetzportal vor sich haben, mit dem sie sich besser nicht gemein machen sollten. Ich würde aber grundsätzlich niemandem absprechen wollen, dass er in gutem Glauben und guter Absicht gehandelt hat. Was nun gloria.tv betrifft, kann ich aus oben genannten Gründen letztlich nicht beurteilen, ob die inkriminierten Beiträge repräsentativ für die Tendenzen der Seite oder nur schlimme "Ausrutscher" sind. Da aber festzustellen ist, dass auch Internet-Autoren, die auf oben beschriebene Art mit gloria.tv in Verbindung gebracht werden können, empfindliche Sanktionen blühen können, möchte ich lieber gleich gestehen: Wer gründlich genug sucht, wird auch eine Verbindung zwischen gloria.tv und diesem meinem Blog finden können. Diese Verbindung habe ich zwar nicht selbst hergestellt, habe mich aber auch nicht darüber beschwert. Meine Blogstatistik zeigt immer mal wieder nicht unerhebliche Zugriffe an, die von gloria.tv kommen. Wie Kompass? - In den Kommentaren zu verschiedenen Beiträgen auf gloria.tv wurden Artikel meines Blogs lobend erwähnt und verlinkt. Besonders mein Beitrag zum Thema Mund- und Handkommunion kam auf gloria.tv gut an. Ich unterstelle, dass meine Äußerungen zur Alten Messe dort auf weniger Gegenliebe stoßen werden, weiß es aber nicht. Aber wie dem auch sei: Ich habe im Allgemeinen nichts dagegen, wenn jemand meine Artikel gut findet und weiterempfiehlt. So eitel bin ich. Wenn jemand - siehe meinen vorigen Beitrag - Dinge, die ich geschrieben habe, einseitig (um)interpretiert, um auf meinem Herdfeuer sein eigenes Süppchen zu kochen, und zwar eines, das mir nicht schmeckt, dann lasse ich das nicht unkommentiert durchgehen. Das ist aber, soweit ich das überprüfen konnte, bei gloria.tv nicht der Fall gewesen, und deshalb empfinde ich keinerlei Zerknirschung darüber, dort verlinkt worden zu sein.

Abschließend und zusammenfassend: Ich schreibe in diesem Blog viel, wenn der Tag lang ist, aber ich glaube es verantworten zu können. Das, was ich schreibe, meine ich auch so (von Ironie einmal abgesehen, die kommt auch vor, sollte zumindest fürs geübte Auge aber als solche erkennbar sein) und stehe dazu. Werde ich missverstanden, kann ich das korrigieren. Wer nicht sicher ist, ob er mich richtig versteht, kann nachfragen. Dies alles vorausgesetzt, gilt: Ich habe ebensowenig gegen Zustimmung einzuwenden wie gegen Widerspruch. Ich gehe ohnehin nicht davon aus, dass es Leser gibt, die mit Allem einverstanden sind, was ich schreibe; aber ich will auch niemandem vorschreiben, ob er mit mir einverstanden sein darf oder nicht. Das gilt auch für die Autoren und Leser von gloria.tv. Und wie für mich selbst, so würde ich mir auch für andere Blogger (oder Autoren allgemein) wünschen, dass sie mehr danach beurteilt werden, was sie schreiben, als danach, wo ihre Artikel erscheinen, verlinkt oder nachgedruckt werden.

Wer sich in die Bar begibt, bekommt darin Rum

Über den methodistischen Erweckungsprediger John Wesley (1703-1791) ist die folgende Anekdote überliefert: Da er mit aller Welt in Frieden lebte, gedachte Wesley des Wortes Jesu "Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet" (Mt 5,11) und war zerknirscht, dass ihm die Gnade des Verfolgtwerdens versagt blieb. In seiner Not wandte er sich an den HERRN, indem er unter freiem Himmel zum Gebet niederkniete. Ein Passant, der dieses sah, wurde daraufhin von unheiligem Zorn gegen den Frömmler ergriffen und warf einen Stein nach ihm. Der Stein fuhr haarscharf am Kopf des Betenden vorüber, John Wesley aber dankte dem HERRN für die prompte Erfüllung seines Gebets, sprang auf und ging frohgemut wieder an sein Werk.

So lustig diese Anekdote - die wahr oder auch nur gut erfunden sein mag - zunächst einmal wirkt, sie hat doch einen ernst zu nehmenden Kern. Dass es dem Christen aufgegeben ist, sein Kreuz auf sich zu nehmen und Christus nachzufolgen, wird ja beispielsweise auch Papst Franziskus nicht müde zu betonen. Da kann man schon mal auf den Gedanken kommen, man mache womöglich etwas falsch, wenn man als Christ keinerlei Beschimpfung, Verachtung und Beschimpfung erfährt. Wobei: In den Zeiten sozialer Netzwerke dürfte sich das Problem für viele Christen erledigt haben.

Andererseits ist die Erfahrung, dass man sich nahezu zwangsläufig Feinde macht, wenn man öffentlich für seine Überzeugungen einsteht, aber auch kein "Privileg" von Christen. Winston Churchill wird gern mit dem Satz zitiert: "Du hast Feinde? Gut. Das bedeutet, dass du in deinem Leben für etwas eingetreten bist." Ein ermutigender Satz, zweifellos. Insofern gibt es für Menschen, die für ihre Überzeugungen eintreten, durchaus Schlimmeres, als dafür angefeindet werden. Und zu diesem Schlimmerem gehört, an prominenter Stelle: Beifall von der falschen Seite.

Die fatale Logik "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" kann zu abstrusen Allianzen führen; man muss das aber nicht unbedingt mitmachen. Wer zu irgendeinem Thema öffentlich seine Meinung sagt, muss darauf gefasst sein, dass eine einseitige, verzerrte oder vergröberte Wahrnehmung seiner Äußerungen nicht nur zu aggressivem, der Sache völlig unangemessenem Widerspruch führen kann, sondern auch zu aggressiver und der Sache völlig unangemessener Zustimmung. Nicht jeden, der einen für seinen Verbündeten hält, möchte man auch als Verbündeten haben.

So erging es mir kürzlich, als ich mal wieder eine kleine Recherche zu der Frage unternahm, auf welchen Wegen Leser auf meinen Blog aufmerksam werden. Dabei stellte fest, dass einer meiner Blogbeiträge auf einem Wordpress-Blog mit dem Titel Aufwachen! ... bevor es zu spät ist verlinkt wurde (den ich hier meinerseits nicht verlinke, aber wer ihn sich mal ansehen möchte, wird ihn schon zu finden wissen). Der Blogtitel prangt in roter Schrift auf schwarzem Grund - ein Farbschema, das man aus anarchistischen bzw. "autonomen" Kreisen kennt, aber das ist entweder Zufall oder aber gezielte Irreführung. Die aus dem Blogtitel sprechende brennende Sorge des Autors gilt dem deutschen Vaterlande - das er bedroht sieht, durch Migranten, den Islam, Linke und Grüne, "Gutmenschen" und den Euro. Was hat das nun alles mit mir zu tun?

Wie sich zeigte (und mich im Grunde nicht sehr überraschte), war es die Bandito-Rosso-Hausverbots-Affäre, die den Autor des Aufwachen!-Blogs auf mich aufmerksam gemacht hat - und ihn zu einem Beitrag mit dem Titel "Wo Abtreibungsgegner zu 'Nazis' gemacht werden..." inspiriert hat. Der Beitrag beginnt mit einer leicht vergröberten, im Wesentlichen aber zutreffenden Nacherzählung meines Erlebnisses in der besagten Autonomen-Kneipe - und geht dann dazu über, dieses Geschehen mit von "Gutmenschen-Wirte[n]" verhängten Lokalverboten für Rechtsextreme zu vergleichen und die Störaktionen gegen den "Marsch für das Leben" mit Protesten gegen NPD-Demos auf eine Stufe zu stellen. Mit anderen Worten, der Autor tut genau dasselbe, was er in der Artikelüberschrift den Linken vorwirft: Er wirft mich mit Nazis in einen Topf.

Ich bin nicht erbaut.

Bei näherem Hinsehen - und das finde ich dann schon wieder beruhigend - zeigt sich allerdings, dass der Autor sich nur scheinbar auf meine Seite stellt. Im letzten Absatz geht er dann unvermittelt dazu über, mich scharf zu attackieren: "Ein Christ, der die Linkspartei wählt oder linksautonome Strukturen unterstützt (und sei es durch den Besuch einer sog. Volxküche), ist wie ein Schaf, das dem Metzger hilft, das Schlachtmesser zu schärfen!" Herzlichen Dank.

Sagen wir es ganz deutlich: In der linksautonomen Kneipenszene begegne ich einerseits oft Menschen, die Einstellungen und Überzeugungen vertreten, die ich - teils aus religiösen, teils auch noch aus ganz anderen Gründen - nicht teilen kann; und wenn ich sehe, wie auf Flyern oder in Inschriften an Toilettenwänden zu Gewalt gegen Rechte aufgerufen wird (was es zweifellos umgekehrt genauso gibt, aber an den Treffpunkten der "anderen Seite" verkehre ich nun mal nicht), dann denke ich mir zuweilen: Das ist doch eigentlich nur ein Bandenkrieg, in dem die ganze ideologische Rechts-Links-Zuordnung nur einen notdürftigen Vorwand darstellt, um dem gegenseitigen Aufs-Maul-Hauen den Anschein eines höheren Ziels zu geben. Selbstverständlich gefällt mir das nicht. Genauso - und tendenziell eher öfter - treffe ich in diesen Kreisen aber auch Menschen, die ich schätze und mag, die mich ebenso respektieren wie ich sie und deren ehrliches Engagement für eine "bessere Welt" - wie sie sie sehen - ich auch da anerkennen kann, wo ich inhaltlich nicht damit übereinstimme. Zuweilen neige ich - in Anlehung an einen Satz von Chesterton - zu der Auffassung, dass die politischen Vorstellungen der radikalen Linken im Grunde nur "verrückt gewordene christliche Ideale" sind - "verrückt geworden" insofern, als sie durch die verloren gegangene Verankerung im Glauben ihren inneren Zusammenhang, ihr Maß und ihr Ziel verloren haben und darum allerorten ins Kraut schießen. Darüber kann man diskutieren - wenn man nicht gleich vor die Tür gesetzt wird, aber das ist mir ja bislang nur einmal passiert. Mit Rechtspopulisten vom Schlage des Aufwachen!-Bloggers, die die Welt nicht verbessern, sondern lediglich den Angehörigen der eigenen Rotte die besten Plätze darin sichern wollen, möchte ich hingegen nicht diskutieren. Was die mich können, bitte ich an einschlägiger Stelle im Götz von Berlichingen nachzulesen...

Mittwoch, 17. April 2013

God Gave Rock'n'Roll To You (I)

Dass ich selten und ungern etwas wegwerfe, was man "vielleicht irgendwann noch mal brauchen könnte", ist eine manchmal etwas lästige Angewohnheit, aber seit ich blogge, zahlt es sich doch immer mal wieder aus. So besitze ich z.B. heute noch ein vor ca. 8 Jahren als Magazin-Beilage zur Süddeutschen Zeitung erschienenes Heftchen über die "besten Anekdoten aus 50 Jahren Popgeschichte" - chronologisch geordnet, mit einer Anekdote aus jedem Jahr seit 1955. Da ist manches interessante Fundstück dabei, und nicht wenige davon beleuchten auch die religiöse Seite der Popkultur.

So bereits die Anekdote zum Jahr 1957, die sich um den Rock'n'Roll-Pionier und Profi-Exzentriker Little Richard (Richard Wayne Penniman, *1932) dreht. Der hielt im angegebenen Jahr den mit der Hündin Laika be"mann"ten Sputnik 2-Satelliten, den er während einer Australien-Tournee über den Himmel streifen sah, für einen Fingerzeig Gottes, dem Rock'n'Roll abzuschwören und sein Leben fortan der frommen Hingabe zu widmen; tatsächlich sagte er dem Showbusiness daraufhin Adieu und trat in eine Bibelschule in Huntsville/Alabama ein. Seine Abrechnung mit dem von ihm mitgeprägten Rock'n'Roll ist in  ihrer Griffigkeit und Prägnanz geradezu klassisch: "Rock'n'Roll ist vom Teufel, weil Rock'n'Roll dich dazu bringt, Drogen zu nehmen, und Drogen dich zu einem Homosexuellen machen." Chapeau - da könnte sich manch ein fundamentalistischer Traktatautor ein Beispiel dran nehmen.

Was in den 50er Jahren kulturelles Allgemeingut der bürgerlichen Gesellschaft war - dass Rockmusik die Jugend verroht, Gesetz und Ordnung untergräbt, die Moral zu Grunde richtet und den Verstand verwüstet, dass also, kurz gesagt, wer Rockmusik hört oder gar macht, auch kleine Kinder frisst -, ist eine Auffassung, die besonders in evangelikalen Freikirchen z.T. bis heute anzutreffen ist. Wer Rockmusik mag, sich aber trotzdem für keinen völlig degenerierten Menschen hält, mag sich über diese Sichtweise wundern. Da ist es gut, wenn einem mal jemand erklärt, was an Rockmusik eigentlich so schlimm ist. Etwas wortreicher als Little Richard tut dies der Schweizer Bibelschullehrer Roger Liebi in einer Broschüre, die ich einmal kostenlos in der Fußgängerzone von Celle in die Hand gedrückt bekam.

"Rockmusik!" ist die in sakralem Lila broschierte Schrift betitelt, darunter, in kleinerer Schrift: "Ausdruck einer Jugend in einem sterbenden Zeitalter". Der Untertitel ist aussagekräftig: Die Musik ist nicht das eigentliche Problem, sie ist nur ein Symptom, dessen Ursachen wesentlich tiefer liegen: Die Zeit ist kaputt. Auch das Ausrufezeichen im Titel ist bezeichnend: Dieses in der deutschen Schriftsprache normalerweise v.a. für Imperative und Interjektionen verwendete Satzzeichen benutzt Liebi gern und oft am Ende normaler Aussagesätze, offenbar, um damit Entrüstung, auch entrüstetes Erstaunen, auszudrücken bzw. beim Leser zu evozieren.

Monsieur Liebi holt weit aus, um die Rockmusik zu verdammen. Nach einer kurzen, im Großen und Ganzen korrekten Abhandlung über die Entstehung dieser Musikform lässt er sich über die kulturgeschichtlichen Voraussetzungen aus, die den immensen Erfolg dieser so barbarischen  Musik seiner Meinung nach erklären. Die Stichworte, in Form von Kapitelüberschriften: "Die Evolutionstheorie von Charles Darwin und die Krise des modernen Menschen"; "Existenzialismus" (auf einer halben Seite abgehandelt); "Aleister Crowley". Man könnte lachen, wenn's nicht so ernst gemeint wäre. Die Evolutionstheorie als Sündenfall des modernen Menschen gehört praktisch zwingend zum fundamentalistischen Repertoire: Eine Welt voller frommer, rechtschaffener Christen wird durch die gottlosen Lehren eines Darwin brutal vom rechten Weg gestoßen. Liebi folgert: Über die kurze Zwischenstufe des Existentialismus führt die Evolutionslehre geradewegs in den Satanismus.

Was das nun mit Rockmusik zu tun hat? - Mit wissenschaftlichem Anspruch erklärt Liebi seinen Lesern, dass Rockmusik durch ihre stilistischen Eigenarten und ihre Lautstärke körpereigene Rauschmittel freisetze, sexuell stimuliere und das kritische Bewusstsein ausschalte. Wer schon mal ein richtig gutes Rockkonzert miterlebt hat, wird wissen, dass da durchaus was Wahres dran ist. Einwenden könnte man hier freilich, dass dieses Freisetzen körpereigener Rauschmittel auch bei allerlei anderen Tätigkeiten ein durchaus erwünschter Effekt ist - beim Sport etwa, z.B. beim Marathonlauf; aber durchaus auch bei nicht wenigen religiösen Praktiken, zumal bei Bußübungen (Fasten, Schlafentzug...). In der Praxis des allem Anschein nach eher puritanisch inspirierten evangelikalen Fundamentalismus, wie ihn Roger Liebi vertritt, kommt dergleichen allerdings wohl eher weniger vor. Daher wäre es auch verfehlt, wenn etwa rationalistische Religionskritiker sich darüber mokieren wollten, dass gerade ein religiöser Fundi wie Liebi die Ausschaltung des kritischen Bewusstseins tadelt. Ich habe schon öfter darüber nachgesonnen - was hier und jetzt aber den Rahmen sprengen würde und daher nur angedeutet sei -, ob der strikte Buchstabenglaube, die, wenn man so will, Textfixiertheit evangelikaler Fundamentalisten nicht irgendwo sogar als ein (wenn auch illegitimes) Kind des Rationalismus betrachtet werden könne. Meiner persönlichen Erfahrung nach neigen Anhänger solcher ganz entschieden auf den Wortlaut der Schrift fixierten christlichen Glaubensrichtungen oft dazu, sehr "verkopft" zu sein und alles zu scheuen, was irgendwie nach Kontrollverlust riecht.

Das hat natürlich Gründe. Liebi verweist auf den Neurophysiologen und Nobelpreisträger Sir John Eccles (1903-1997), der die Existenz eines von der Materie des Gehirns unabhängigen Geists postulierte. "Wenn nun aber der Geist des Menschen passiv gemacht wird", argumentiert Liebi, "so kann sich ein 'anderer Geist' des Gehirncomputers bemächtigen" (S. 16). Zugegeben: Das ist durchaus auch gut biblisch. Denn wie sagte Jesus in Mt 12,43ff. über die Rückkehr der unreinen Geister:
"Ein unreiner Geist, der einen Menschen verlassen hat, wandert durch die Wüste und sucht einen Ort, wo er bleiben kann. Wenn er aber keinen findet, dann sagt er: Ich will in mein Haus zurückkehren, das ich verlassen habe. Und wenn er es bei seiner Rückkehr leer antrifft, sauber und geschmückt, dann geht er und holt sieben andere Geister, die noch schlimmer sind als er selbst. Sie ziehen dort ein und lassen sich nieder. So wird es mit diesem Menschen am Ende schlimmer werden als vorher."
Man tut also gut daran, seinen "Gehirncomputer" nicht unbeschäftigt zu lassen, auf dass die unreinen Geister es sich nicht gemütlich machen können. So weit, so gut. Zugunsten mehr oder minder 'berauschender' religiöser Praktiken, wie ich sie oben andeutungsweise angesprochen habe, ließe sich an dieser Stelle immerhin noch einwerfen, dass diese ja dazu dienen, sich Gott zu öffnen, und von Gott erfüllt zu sein - das heißt, im wörtlichen Sinne, "Enthusiasmus" - kann ja im Grunde nur gut sein. Wo aber Gott nicht ist, da lauert - zumindest im einigermaßen dualistisch anmutenden Weltbild mancher Glaubensgemeinschaften - allenthalben der Satan.

Und ganz besonders lauert er eben in der Rockmusik. Liebi betont, hier wie übrigens auch im Jazz seien afrikanische Einflüsse am Werk, die aus dem Kontext des "Götzendienstes" stammen. Eines Götzendienstes übrigens, zu dessen Kultpraxis auch etwas so Schauriges wie "Gruppensex" (S. 14) gehört habe. Dass die Anhänger von Naturreligionen - ohne sich dessen bewusst zu sein, die Armen - in Wirklichkeit den Teufel anbeten, steht für Liebi außer Frage, aber auch sonst ist interreligiöser Dialog seine Sache nicht - was z.B. deutlich wird, wenn er sich zu indischen Einflüssen in der Rockmusik (so bei den späten Beatles, bei Santana u.a.) äußert: "Durch all diese Einflüsse wurde das Denken unzähliger Jugendlicher hier im Westen durch hinduistische Ideen vernebelt" (S. 19f.). Nun gut, man sollte so fair sein, zuzugestehen, dass - da westliche Rock- und Jazzmusiker ihre persönlichen Zugänge zur hinduistischen Welt vielfach durch obskure Modegurus wie Maharishi Mahesh Yogi oder Sri Chinmoy vermittelt bekommen haben - an der Sache mit der "Vernebelung" im Einzelfall durchaus was dran sein mag. Aber so weit differenziert Liebi ja gar nicht erst. Lieber leitet er direkt über zu Okkultismus und Satanismus in der Rockmusik und behauptet in diesem Zusammenhang: "Im dem Song 'Sympathy for the Devil' beteten die Rolling Stones den Teufel an" (S. 20). Wer sich mal die Mühe macht, bei diesem, wie ich finde, höchst bemerkenswerten Song auf den Text zu achten, wird feststellen, dass das eine abstruse Unwahrheit ist.

Nun, die Eckpunkte der Debatte sind damit jedenfalls abgesteckt: Rausch, Ekstase, Drogen, Sex, der Teufel. Dass diese Themen sich in vielen Rock-Songtexten wiederfinden lassen, greift Liebi dankbar auf, weist aber mit Nachdruck darauf hin, dass es ihm nicht nur um die Texte geht, sondern noch viel mehr um die Musik selbst, die, "völlig unabhängig von ihrem Text, wegen der ihr eigentümlichen Stilmittel nicht wertneutral sein kann" (S. 28).

Mit dieser Auffassung, ich erwähnte es schon, steht Roger Liebi nicht allein. Von Verwandten und Bekannten, die freikirchlichen Gemeinden angehören, habe ich verschiedentlich gehört, was für heftige Auseinandersetzungen entstehen können, wenn jemand sich da anschickt, irgendwie rock-beeinflusste Musik ins Gemeindeleben zu integrieren, sei es direkt im Gottesdienst oder auch bei anderen Veranstaltungen. Immer wieder regen sich Stimmen, die insistieren, "christliche Rockmusik" könne es gar nicht geben, das sei ein Widerspruch in sich.

Es gibt sie aber natürlich doch. Und zwar gerade im freikirchlichen Milieu. Ebenso wie übrigens auch christlichen HipHop und vermutlich sogar christlichen Techno. Nun könnte man sich fragen, warum das so ist. Die Standardantwort derjenigen Christen, die diese Musik mögen oder selbst machen, lautet natürlich, man könne "jede Musik zur Ehre Gottes spielen". Da würden Liebi und seine Gesinnungsgenossen ja schon mal widersprechen; aber auch wenn man zustimmt, dass man das kann: Muss man? Zu welchem Zweck? Richtet sich die christliche Popmusikproduktion - es gibt da eigene Plattenlabels, eigene Festivals usw. - in erster Linie nach außen oder nach innen, will man dadurch Musikfans unterschiedlicher Couleur auf eine ihnen gemäße Weise an die christliche Botschaft heranführen oder eher vermeiden, dass die Jugendlichen aus den "eigenen Reihen" die Befriedigung ihrer musikalischen Vorlieben außerhalb des christlichen Spektrums suchen müssen (und somit über den Rock'n'Roll eben doch bei Sex & Drugs landen)? Und, die vielleicht gewichtigste Frage: warum ist christliche Rock- und Popmusik oft so uncool?

Fragen über Fragen. Ich schätze, dieser Beitrag will der Auftakt zu einer Serie werden. Bevor ich für heute schließe, muss ich jedoch noch einen Bogen zurück zum Anfang schlagen: zu Little Richards spektakulärer Bekehrung angesichts des Sputnik-Satelliten. Mancher Leser - so ging es jedenfalls mir, als ich die besagte Anekdote im SZ-Magazin las - wird sich gefragt haben: Ja Moment mal - schon 1957 hängte Little Richard seine Rock'n'Roll-Karriere an den Nagel und suchte seine Berufung in der Bibelschule? Da kann doch was nicht stimmen! - Stimmt aber doch; er ist nur nicht dabei geblieben. Schon fünf Jahre später stand Little Richard wieder auf der Bühne, unternahm eine Europa-Tournee, bei der - bei einem Auftritt in Hamburg - die noch wenig bekannten Beatles als Vorgruppe mit von der Partie waren, und nochmals einige Jahre später spielte Jimi Hendrix in seiner Begleitband. Letztlich bewirkte das Sputnik-Erlebnis somit lediglich eine vergleichsweise kurze Unterbrechung seiner Karriere; und wenn er nicht gestorben ist, dann rockt er noch heute...

Mittwoch, 10. April 2013

Dreht euch nicht um...

...denn der Tradi-Troll geht um!

Am Montagabend hatte der Herr Alipius im Kommentarbereich seines Blogs unliebsamen Besuch - von einer sehr, sehr schlecht gelaunten Dame, die sich als treue Leserin des ultra-traditionalistischen Blogs Rorate Caeli zu erkennen gab. Im Unterschied zu den "immer zutreffenden, mit Herzblut geschrieben Worte[n] von New Catholic auf Rorate Caeli" machte die Leserin nun bei Alipius nichts als "gutmenschige [...,] eifrige Seelchen" und "hechelnde Herzerl" aus und beklagte es, dass "Christen ebenso Neusprech hecheln [...] wie zB Claudia Roth oder etwas [!] vergleichbares". Bei dem Vergleich mit Claudia Roth musste ich ein wenig kichern; aber annähernd gleichzeitig wurde ich selbst eines Kommentars zu diesem Artikel gewürdigt und wurde darin als "nachkonziliarer Hinterwäldler" bezeichnet - da ich es gewagt hatte, meine nicht sonderlich erbaulichen Eindrücke vom Besuch einer Messe im Alten Ritus zu schildern. Zunächst suchte ich nach Anzeichen eines leisen Augenzwinkerns in diesem Kommentar, fand aber keine; und als derselbe Leser dann noch einen weiteren Kommentar folgen ließ, der die Liturgiereform und den Novus Ordo Missae als Wurzeln allen Übels in der katholischen Kirche von heute herausstellte, war ich mir sicher: Der meint das ernst.

Die annähernde Gleichzeitigkeit dieser Ereignisse war ziemlich sicher Zufall, aber dennoch stellt sich die Frage: Was war bzw. ist da los? Familienausflug der Tradi-Trolle? Und nach welchen Kriterien wählen diese ihre "Opfer" aus? - Fragen wir Hand Christian Andersen:

Nun war einmal ein alter Mann, den alle Leute Kribbel-Krabbel nannten, denn so hieß er. [...] Dieser Mann sitzt eines Tages und hält sein Vergrößerungsglas vor das Auge und betrachtete einen Wassertropfen, welcher von draußen aus einer Pfütze im Graben genommen war.
Wie es da kribbelte und krabbelte! Alle die tausend Tierchen hüpften und sprangen, zerrten an einander und fraßen von einander.
»Aber das ist ja abscheulich!« sagte der alte Kribbel-Krabbel, »kann man sie nicht dahin bringen, in Ruhe und Frieden zu leben, und daß sich jedes nur um sich bekümmert? [...] Ich muß ihnen Farbe geben, damit sie deutlicher gesehen werden können!« sagte er, und dann tröpfelte er etwas, einem kleinen Tropfen Rotwein ähnlich, in den Wassertropfen, aber das war Hexenblut, von der feinsten Gattung zu sechs Pfennigen; nun wurden aber die wunderbaren Tierchen über den ganzen Körper rosenrot, es sah aus wie eine ganze Stadt voller nackter, wilder Männer. [...] Es sah wirklich aus wie eine ganze Stadt, wo alle Menschen ohne Kleider herumliefen. Es war schauerlich, aber noch schauerlicher war es, zu sehen, wie der eine den andern puffte und stieß, wie sie gezwickt und gezupft, gebissen und gezaust wurden! Was unten war, sollte nach oben, und was oben war, sollte wieder nach unten! »Sieh! sieh! Sein Bein ist länger als meins! Baff. Weg damit!« Da ist einer, der hat eine kleine Beule hinter dem Ohr, ein kleines, unschuldiges Beulchen, aber sie quält ihn, und darum soll sie nicht noch mehrere quälen, sie hackten in dieselbe und sie zerrten ihn, und sie fraßen ihn der kleinen Beule wegen. Da saß einer so still, wie eine kleine Jungfrau und wünschte nur Ruhe und Frieden. Aber nun sollte die Jungfrau hervor, und sie zerrten an ihr und sie zerrissen und verschlangen sie!

(aus: H.C. Andersen, Der Wassertropfen)

- Was teilt uns dieses Märchen mit? Je mikroskopischer man den Bildausschnitt wählt, desto heftiger wirken häufig die internen Auseinandersetzungen. Aus der Sicht prinzipieller Kirchengegner etwa mag der Unterschied zwischen liberalen und konservativen Katholiken marginal sein - diese selbst sehen das aber naturgemäß anders, und daraus resultiert ein umso stärkeres Abgrenzungsbedürfnis. Man sitzt zwar im selben Boot, rudert aber in verschiedene Richtungen.

Derselbe Effekt wiederholt sich, wenn man den Bildausschnitt noch enger wählt und sich ganz auf jenes eher konservative Spektrum konzentriert, das - wie kürzlich schon einmal angesprochen - von  liberalen Katholiken neuerdings gern pauschal als "traditionalistisch" etikettiert wird. Auch da herrscht keinesfalls eitel Sonnenschein. Auseinandersetzungen nach dem Muster "Ich bin katholischer als du!" hat es früher natürlich auch schon gegeben; im Moment habe ich allerdings den Eindruck, dass der "Franziskus-Effekt" hier zu einer Verschärfung geführt hat. Jene Ultra-Traditionalisten, die in Papst Franziskus einen extremen Modernisten sehen, mit dessen Wahl der unwiderrufliche Niedergang des Katholizismus besiegelt sei, oder ihn gleich zum Häretiker und Apostaten stempeln, der gar nicht rechtmäßig Papst sein könne, scheinen in jener Gruppe von Katholiken, die ich jüngst als die "Nach-wie-vor-Papsttreuen" bezeichnet habe, ihren Hauptgegner zu sehen. Das entbehrt ja auch nicht einer gewissen Konsequenz. Wer überzeugt davon ist, dass das Pontifikat Franziskus' einen eklatanten Bruch mit den Traditionen der Kirche und des Papsttums und insbesondere mit der Amtsführung Benedikts XVI. darstellt, der kann in denjenigen, die bisher stets entschieden zu Benedikt gehalten haben, nun aber mit derselben Treue zum neuen Papst sehen, wohl nichts anderes sehen als "Überläufer" und "Verräter in den eigenen Reihen". Und solche Leute haben, das war schon immer so, nichts Besseres verdient als einen Eispickel zwischen die Augen.

Durchaus tragikomisch an dieser Situation ist, dass die Ultra-Traditionalisten sich in ihrer Wahrnehmung des Pontifikats Papst Franziskus' - speziell im Verhältnis zu dem seines Vorgängers - kaum von jenen liberalen Katholiken unterscheiden, die in Franziskus den lang ersehnten "Reformpapst" sehen. Unterschiedlich, ja entgegengesetzt ist nur die Bewertung dieser Wahrnehmung: Was die Einen fürchten und verabscheuen, ist weitgehend dasselbe, das die Anderen erhoffen und bejubeln. Diese Feststellung lässt es freilich nur umso plausibler erscheinen, dass die "Nach-wie-vor-Papsttreuen" gewissermaßen zwischen die Fronten geraten, indem sie die von beiden Seiten behauptete "Hermeneutik des Bruches" zwischen Benedikt XVI. und Franziskus rundweg bestreiten und ihr eine "Hermeneutik der Kontinuität" entgegensetzen. - Ich verwende diese Begriffe durchaus mit Bedacht, denn mtatis mutandis ähneln diese Reaktionen der "radikalliberalen Reformer", der "Ultra-Traditionalisten" und der "Papsttreuen" - die einander so zu sagen wie die Ecken eines gleichschenkligen (aber nicht unbedingt gleichseitigen) Dreiecks gegenüberstehen - auf Papst Franziskus durchaus der Rezeption des II. Vatikanischen Konzils, zu der sich ja gerade Benedikt XVI. mehrfach eindringlich geäußert hat. Was mich wieder auf die Einschätzung meiner Person als "nachkonziliarer Hinterwäldler" bringt.

Ich hatte durchaus Bedenken, meine Eindrücke von der Messe in St. Afra in einen Blogbeitrag einzubauen, in dem es doch eigentlich um Alexander Kisslers Buchvorstellung gehen sollte. Ich fragte mich: Gehört das überhaupt zum Thema? Wie sich nun gezeigt hat, gehört es eben irgendwie doch zum Thema - zumindest dann, wenn man meiner Auffassung folgen mag, dass die Frage, wie sich das Pontifikat Franziskus' zu demjenigen Benedikts XVI. verhält, ein zentrales Anliegen von Kisslers Vortrag darstellte. In diesem Zusammenhang gilt es anzumerken: Eine Vorliebe für die Alte Messe kann man als Kennzeichen von "Traditionalismus" betrachten, aber zwischen einer solchen Vorliebe und einer prinzipiellen Ablehnung der Neuen Messe besteht doch noch ein erheblicher qualitativer Unterschied. Das ist auch genau der Grund, weshalb ich hier mehrfach den Begriff "Ultra-Traditionalismus" verwendet habe - den ich gern mit einem Zitat von Victor Hugo erläutern möchte:

Ultra sein heißt darüber hinaus zu gehen, das Zepter im Namen des Thrones und die Mitra im Namen des Altars anzugreifen, der Sache hart zuzusetzen, die man mit sich schleppt, heißt im Geschirr ausschlagen, sich mit dem Scheiterhaufen um die Brattemperatur für Ketzer streiten, dem Abgott sein bisschen Abgötterei zum Vorwurf machen, heißt aus einem Übermaß an Ehrfurcht beschimpfen, heißt im Papst zu wenig Papsttum, im König zu wenig Königtum und in der Nacht zu viel Licht finden. Das heißt über den Alabaster, den Schnee, den Schwan und die Lilie im Namen des Weiß ungehalten sein. Das heißt so sehr Parteigänger der Dinge zu sein, dass man ihr Feind wird. Das heißt so sehr dafür sein, dass man dagegen ist.
(Hugo bezieht sich hier zwar auf eine politische Strömung im Frankreich der Restaurationszeit, aber ich denke, es wird deutlich, warum ich diese Worte auch auf eine radikale Ausprägung des katholischen Traditionalismus anwendbar finde.)

Traditionalisten, die nicht "ultra" sind, gibt es durchaus auch in den Reihen der "Nach-wie-vor-Papsttreuen"; und auch von solchen habe ich - hauptsächlich via Twitter - Reaktionen auf meinen Artikel erhalten. Sie fielen überwiegend freundlich aus. Der Tenor lautete. "Als erster Eindruck von der Alten Messe ist deine Reaktion verständlich, aber gib der Sache noch 'ne Chance". Das habe ich auch vor.

Eine besonders sympathische Reaktion auf die Mitteilung, man habe mich einen "nachkonziliaren Hinterwäldler" gescholten, erhielt ich von einem Twitter-Bekannten aus dem Bistum Regensburg - einem durchaus entschieden konservativen Katholiken. Zunächs merkte er an, statt "Hinterwäldler" müsse es "Hinterweltler" heißen - "das sind wir Christen nun mal, weil wir an eine Welt hinter der sichtbaren glauben". Dann fügte er hinzu: "Nachkonziliar sind wir doch alle; vorkonziliar geht ja wohl chronologisch nicht, oder?" Sein Fazit: Eigentlich müsse es schlicht "zeitgenössischer Christ" heißen.

Tja: Das bin ich wohl. Eine zeitgenössischer Christ. Mit allen Konsequenzen, im Guten wie im weniger Guten.



Samstag, 6. April 2013

Networking-Abend bei den Dunkelkatholen

Dass der Journalist Alexander Kissler, Ressortleiter für Kultur beim Monatsmagazin Cicero, ein Buch über das Pontifikat Benedikts XVI. mit dem Titel Papst im Widerspruch veröffentlicht hat, ist keine ganz neue Information mehr - schon gar nicht innerhalb der Blogoezese; in Elsas Nacht(b)revier waren bereits einige Auszüge zu lesen. Da ich diese durchweg sehr bemerkenswert fand und auch Kisslers Beiträge im Cicero oft sehr schätze, war ich ausgesprochen erfreut, zu erfahren, dass der Autor sein Werk am Abend des 5. April (mittlerweile also gestern) im Berliner Institut St. Philipp Neri (ISPN) vorstellen würde. Bei diesem Institut, das seinen Sitz im St.-Afra-Stift in Berlin-Wedding hat, handelt es sich um eine "Gesellschaft apostolischen Lebens päpstlichen Rechts", die laut Selbstaussage "die Pflege der katholischen Tradition mit einer zeitgemäßen Seelsorge verbindet". Zum Aspekt der Traditionspflege gehört es, dass in St. Afra die Heilige Messe "im klassischen römischen Ritus" gefeiert wird. Zur Verdeutlichung: Das ist diese vorsintflutliche Gottesdienstform, bei der der Zelebrant der Gemeinde den Rücken zukehrt, auf Latein vor sich hin murmelt und in der am Karfreitag die Juden verflucht werden, oder so ähnlich. Aus der Perspektive des durchschnittlichen BILD- oder SPIEGEL-Lesers ist das ISPN somit "sowas Ähnliches wie die Piusbruderschaft"; aber auch abzüglich aller schlecht informierten Polemik kann man diese Gemeinschaft wohl als "traditionalistisch" einordnen. Und da Alexander Kissler ja neuerdings - zusammen mit seinen Journalistenkollegen Matthias Matussek, Paul Badde und einer großen Schar ganz normaler Katholiken - ebenfalls zum traditionalistischen Lager gezählt wird, könnte man finden, dass er da mit seiner Buchvorstellung genau am richtigen Ort sei.

Um der Gefahr vorzubeugen, dass die ironischen Töne des obigen Absatzes nicht als solche erkannt werden, muss ich auf die letztere Bemerkung noch etwas näher eingehen. Nachdem die Medien - allem Anschein nach vor allem im deutschsprachigen Raum - in einer Weise über den Amtsverzicht Benedikts XVI. sowie die Wahl und die ersten Amtshandlungen seines Nachfolgers Franziskus berichtet wurde, als handle es sich um einen "Regierungswechsel im Vatikan" (und es würde mich gar nicht wundern, wenn genau diese Schlagzeile tatsächlich irgendwo erschienen wäre), kann es kaum verwundern, dass gewisse Kreise, die sich schon unter Johannes Paul II., vor allem aber unter Benedikt XVI. als "innerkirchliche Opposition" verstanden haben, sich einbilden, sie wären jetzt "an der Macht". Da passt es prima ins Bild, dass einige besonders konservative und/oder traditionalistische Katholiken, die unter Benedikt XVI. stets ihre Papsttreue betont hatten, praktisch von der ersten Stunde des Pontifikats Franziskus' massive Besorgnisse oder sogar scharfe Kritik an einigen Aspekten der Amtsführung des neuen Pontifex geäußert haben und äußern - von seinen Verstößen gegen die traditionelle Kleiderordnung der Päpste über liturgische Details der von ihm zelebrierten Messen bis hin zum Waschen von Frauenfüßen. Vermutlich deshalb, weil diese Äußerungen wie gesagt so gut ins Bild vom "Regierungswechsel im Vatikan" passen, wird so gern und viel darüber berichtet; wesentlich weniger gut ins Bild passen jene Katholiken, die genauso entschieden hinter Papst Franziskus stehen, wie sie zuvor hinter Benedikt gestanden haben - und darin überhaupt keinen Widerspruch sehen. Jene "reformorientierten" Katholiken, die in Franziskus gern "ihren" Papst und sich selbst somit als "die neuen Papsttreuen" sehen wollen, reagieren darauf, indem sie diese - wie ich sie mal nennen will - "Nach-wie-vor-Papsttreuen" zusammen mit Franziskus' konservativen Kritikern in dieselbe Schublade sperren und in Großbuchstaben "TRADITIONALISMUS" draufschreiben - ohne sich darum zu bekümmern, dass die Auffassungen "Franziskus steht im Widerspruch zu Benedikt, und deshalb lehnen wir ihn ab" und "Franziskus steht nicht im Widerspruch zu Benedikt, und wir stehen zu beiden" wohl kaum auf einen Nenner zu bringen sind. Ignorieren kann man die Gruppe der "Nach-wie-vor-Papsttreuen" zwar nicht - zumal sie einige prominente, für viel gelesene Blätter arbeitende Journalisten in ihren Reihen haben -, aber immerhin kann man versuchen, sie lächerlich zu machen, indem man ihre Argumentation, abgesehen von Fragen des persönlichen Stils bedeute das Pontifikat Franziskus' keinen Bruch zu dem seines Vorgängers, sondern stehe in Kontinuität zu diesem, als hilfloses Wunschdenken abstempelt.

Zu der Frage, wie es denn nun wirklich um die Kontinuität zwischen Benedikt und Franziskus steht, versprach Alexander Kisslers Buchvorstellung einige Aufschlüsse. Aber bevor diese begann, gab es in St. Afra erst mal eine Heilige Messe. Es war - so weit ich mich erinnern kann - die erste Messe im Alten Ritus, die ich besuchte, und ich war sehr gespannt. Ich glaube sagen zu können, ich hoffte auf ein beeindruckendes Erlebnis. Aber leider, leider - die Anhänger der Alten Messe unter meinen Lesern muss ich bitten, sich mal kurz an der Tischkante festzuhalten - stellte ich nur allzu schnell fest, dass das "überhaupt nicht mein Ding" war. Zugegeben, das lag wohl vor allem daran, dass dieser Ritus mir so vollkommen unvertraut ist. Ich hatte es auch versäumt, mich beim Eintritt mit der Broschüre mit den liturgischen Gesängen und Gebetstexten zu versehen. Aber viel hätte das wohl auch nicht geholfen. Ich bemühte mich redlich, die Messe korrekt mitzufeiern, strengte mich an, nachzuvollziehen, wann man niederzuknieen, wann sich zu verneigen, wann sich zu bekreuzigen hatte, aber ich blickte einfach nicht durch - und ich war wohl nicht der Einzige, denn rund um mich her herrschte ein vollkommen asynchrones, um nicht zu sagen chaotisches Gekniee, Verneige und Bekreuzige. Von dem nasalen Genuschel des Zelebranten verstand ich trotz eigentlich guter Lateinkenntnisse kaum ein Wort; nun gut, für seine Aussprache kann der gute Mann nichts - oder doch? Bei Evangelium und Predigt konnte man feststellen, dass er im Deutschen weniger stark näselte als im Lateinischen; ist dieser Sprachduktus also für die liturgischen Texte üblich bzw. vorgeschrieben? Was weiß ich schon? Von der Predigt war ich nicht sonderlich beeindruckt; überhaupt hatte ich das leise Gefühl, der Zelebrant empfinde die kurze Phase, in der er sich der Gemeinde zuzuwenden und auf Deutsch zu ihr zu sprechen hatte, als unwillkommene Unterbrechung der liturgischen Handlungen, und er hätte die Messe lieber allein mit seinen Akolythen und dem (wirklich guten) Organisten gefeiert, ohne die störende Anwesenheit banausischer Besucher. - Vermutlich tue ich ihm Unrecht. Ich will damit auch keinesfalls ein allgemeines Urteil über den antiquus ordo der Heiligen Messe fällen, ich schildere lediglich meine persönlichen Eindrücke. Mir erschien die Messe, wie sie hier zelebriert wurde, durchaus nicht als besonders feierlich, besonders ehrwürdig, besonders andächtig, sondern eher als routiniert 'runtergespult, theatralisch und museal. Ich hatte auch den Eindruck - könnte mich aber irren -, dass Alexander Kissler, der in der Bankreihe vor mir saß, sich hier kaum weniger fremd fühlte als ich. Meine unbeholfenen Versuche einer participatio actuosa versandeten kurz nach dem Sanctus jedenfalls sang- und klanglos. Zur Kommunion hätte ich ohnehin nicht gehen können, da ich weniger als eine Stunde zuvor ein belegtes Brötchen gegessen hatte. (Hinweis: Das meine ich ernst. Nichtkatholiken erläutere ich auf Nachfrage gern, was es damit auf sich hat.)

Kurz und gut: Alles in allem fühlte ich mich in St. Afra ausgesprochen unwohl. Die Buchvorstellung, angekündigt für 18:45 Uhr, begann erst gegen 19:30 Uhr, und sie fand in der Krypta statt. Haben die denn keinen ganz normalen Mehrzwecksaal hier?, fragte ich mich indigniert, aber der Ort des Geschehens war mit Bedacht gewählt: Die Veranstaltung fand im Rahmen des regelmäßigen freitäglichen Oratoriums statt, bei dem normalerweise geistliche Texte zum Vortrag kommen, und zwar in der Kirche. Nun ist eine Papstbiographie aber im engeren Sinne natürlich kein geistlicher Text, und so hatte man statt der Kirche die Krypta gewählt; dennoch musste auch diese Veranstaltung mit einem Gebet eröffnet und beschlossen werden. Man verstehe mich nicht falsch: Beten ist immer und überall eine gute Sache, aber die Art und Weise, wie man hier auf Kommando aufstehen, beten und sich wieder hinsetzen sollte, missfiel mir höchlich. Nach der vorangegangenen Messe war (und ist wohl noch auf einige Zeit) mein Bedarf an formalisierter Frömmigkeit gründlich gedeckt.

Es war eine Erleichterung, als Alexander Kissler das Wort ergriff und sofort eine Atmosphäre von Lockerheit und Humor ausstrahlte, wie ich sie an diesem Ort kaum mehr für möglich gehalten haben würde. Er leitete seinen Vortrag mit einem persönlichen Rückblick auf die Arbeit an seinem Buch ein - einem Buch, dessen Manuskript er laut Vertrag eigentlich zehn Tage nach dem Tod Benedikts hätte abliefern sollen. Diese etwas makaber anmutende Aufgabenstellung bedingte es natürlich, dass der Autor während der Arbeit niemals abschätzen konnte, wie viel Zeit er für die Fertigstellung haben würde. Letztlich wurden fünf Jahre daraus, und der unerwartete Amtsverzicht des Papstes führte dazu, dass das Buch, anders als geplant, noch zu Benedikts Lebzeiten erscheinen konnte. Reflexionen über diesen Amtsverzicht bildeten denn auch den ersten Schwerpunkt von Kisslers Buchvorstellung. In einem überaus schwungvollen und flüssigen Vortrag, bei dem man praktisch nicht unterscheiden konnte, ob Kissler gerade aus seinem Buch vorlas oder frei sprach, erinnerte der Autor zunächst an den Tod Johannes Pauls II. ("Er wurde Christus ähnlich") und deutete an, möglicherweise sei es gerade das Miterleben dieses langen, mehr oder minder öffentlichen Sterbens gewesen, das Benedikt XVI. veranlasst habe, für sich selbst ein anderes Ende zu wünschen; dann ging er auf Benedikts Rücktrittsbegründung an, auf die geschwundene Kraft ("vigor") des Körpers wie auch der Seele ("anima"). Er betonte, unter vigor animae seien nicht nur "geistige Fähigkeiten" zu verstehen - in dem Sinne, dass, wie verschiedentlich orakelt wurde, Benedikt XVI. ein Nachlassen seines intellektuellen Vermögens, womöglich gar beginnende Demenz befürchtet habe -, sondern ganz allgemein Lebenskraft bzw. -energie. Dass der bald 86 Jahre alte Benedikt diese Kraft nicht mehr in dem Maße hat, wie ein Papst sie seiner Auffassung nach in unseren Tagen benötigt, um sein Amt ausüben zu können, leuchtet ein - besonders, wenn man gesehen hat, wie hinfällig er in den letzten Tagen seines Pontifikats gewirkt hat. Dass sein Nachfolger Franziskus diese Kraft hat, erscheint ebenso offensichtlich.

In seinen weiteren Ausführungen nannte Alexander Kissler Benedikt XVI. einen "Mystiker aus Einsicht" und "zutiefst introvertierten Menschen", der "den guten Gedanken der guten Laune vorgezogen" habe, und zitierte zu meiner großen Freude den romantischen Dichter Novalis (über den ich seinerzeit meine Abiturklausur geschrieben habe, aber das nur am Rande) mit den Sätzen "Nach innen geht der geheimnisvolle Weg" und "Wohin  gehen wir? - Immer nach Hause". In einem Überblick über sein Buch empfahl Kissler - was mir an diesem Ort irgendwie bedeutsam erschien - nachdrücklich das Kapitel über die Piusbruderschaft, trug jedoch nicht daraus vor; er bezeichnete Spe salvi als die bedeutendste der drei Enzykliken Benedikts XVI., ging aber auch darauf leider kaum näher ein. Nun gut, eine Buchvorstellung ersetzt eben nicht das Lesen des Buches. Wenig überraschend - und ganz sicher gut und wichtig - war es, dass die Frage, wie sich das beginnende Pontifikat Franziskus' zu dem seines Vorgängers verhalte, einen mehr oder weniger "heimlichen" Schwerpunkt des Vortrags bildete. Kissler verwies auf eine "eschatologische Komponente" in den Äußerungen Benedikts XVI. in der Spätzeit seines Pontifikats; so habe der nun emeritierte Papst mehrfach einen bezeichnenden Satz des niederländischen Kirchenlehrers Petrus Canisius - "Petrus schläft, Judas aber ist wach" - zitiert und den Missbrauchsskandal und die "VatiLeaks"-Affäre als "Zeichen des Teufels" bezeichnet. Vor allem aber deutete Kissler eine Passage aus Joseph Ratzingers Habilitationsschrift über die Geschichtstheologie Bonaventuras als geradezu prophetisch in Hinblick auf das Pontifikat Franziskus': "In der Kirche der Endzeit wird sich die Lebensweise des heiligen Franziskus durchsetzen, der als simplex et idiota von Gott mehr wusste als alle Gelehrten seiner Zeit - weil er ihn mehr liebte." - "Und heute haben wir genau diesen simplex et idiota auf dem Papststuhl!", kommentierte Kissler. (Weiteres zu diesem Punkt siehe hier.)


Auch in Alexander Kisslers umfangreichen Ausführungen zur letzten Deutschlandreise Benedikts XVI. im Herbst 2011 bildete der Hinweis, Benedikt habe das Programm der "Entweltlichung" und der "armen Kirche", das in den ersten Predigten und Ansprachen Papst Franziskus' eine so prominente Rolle spielt, theologisch vorbereitet, einen roten Faden. Kissler fasste die großen, leider allzu wenig beachteten und verstandenen Ansprachen Benedikts während der genannten Reise pointiert zusammen und stellte darin insbesondere die Freiburger Konzerthausrede vom 25. September 2011 als programmatische Antizipation des Pontifikats Franziskus' heraus: Eben jene Entweltlichung, die Benedikt in dieser Rede anmahnte, nimmt sein Nachfolger tatkräftig in Angriff.

Was mich wieder auf die eingangs aufgeworfene Frage bringt, wessen Einschätzungen über Papst Franziskus denn nun wirklich als "Wunschdenken" zu klassifizieren seien. Wenn Alexander Kissler mit seiner Analyse Recht behält - und aus meiner Sicht spricht alles dafür -, dann werden sich so manche "Reformer", die im Moment noch glauben oder hoffen, Franziskus sei "ihr" Papst, noch gehörig umschauen. Nämlich dann, wenn sie feststellen, dass mit den Aufrufen zur Entweltlichung, zur Armut und Demut nicht nur die Dienstlimousinen der Bischöfe und die prächtigen Gewänder der Geistlichen gemeint sind, sondern auch und gerade die aus dem Kirchensäckel finanzierten Strukturen, in denen es sich gerade hierzulande nicht wenige "innerkirchliche Oppositionelle" so behaglich eingerichtet haben. Großes Gelächter erntete Alexander Kissler, als er in der Abschlussdiskussion beispielhaft auf "das grässliche Wort zum Sonntag" verwies - "wo immer jemand sitzt, der sagt, ich bin hier zwar im Auftrag der Kirche, aber die Kirche ist eigentlich der letzte Dreck. Aber neulich habe ich jemanden gesehen, der war zwar überhaupt nicht gläubig - aber wie er diesen Baum umarmt hat, das hat mich unheimlich beeindruckt." - "Der Schaden der Kirche kommt nicht von ihren Gegnern, sondern von den lauen Christen": Das ist ein Satz Benedikts XVI., den er ebenfalls in Freiburg gesagt hat, am Abend vor der Konzerthausrede bei einer Gebetsvigil mit rund 30.000 Jugendlichen; aber es soll keiner denken, dieser Satz sei nicht mehr gültig, nur weil jetzt ein Anderer auf dem Stuhl Petri sitzt...

(Nebenbei: Wer mich wegen meiner mangelnden Begeisterung für die Alte Messe selbst für einen "lauen Christen" hält, der kann das gerne tun. Andere halten mich für einen ausgesprochenen Hardliner und Dunkelkatholen, ich würde sagen, das gleicht sich aus.)

Im Anschluss an die Buchvorstellung gab es noch eine Runde "geselliges Beisammensein" bei Wein und Käsehäppchen, aber ich blieb nicht mehr lange. Ich hatte "noch was vor", außerdem sagte ich ja schon, dass ich mich in St. Afra nicht recht wohl fühlte. Leider war ich in Hinblick auf den aktuellen Inhalt meines Portemonnaies gerade etwas zu "entweltlicht", um mir Kisslers Buch gleich an Ort und Stelle zu kaufen; gut, das lässt sich nachholen, aber schade war's doch, denn es hätte mir Gelegenheit geboten, mit dem Autor ins Gespräch zu kommen. Vielleicht hätte ich ihn auch ansprechen können, ohne ihm dabei ein Buch zum Signieren hinhalten zu können, aber ich bin immer so schüchtern, wenn es darum geht, Menschen anzusprechen, die ich zwar kenne, sie mich aber nicht. Mir fehlte jemand, der mich auf zwanglose Weise mit anderen Anwesenden ins Gespräch gebracht hätte. Jemand wie Josef Bordat zum Beispiel. Man könnte sagen, in puncto Networking habe ich die Möglichkeiten des gestrigen Abends schlecht genutzt. Aber immerhin folgt Alexander Kissler mir seit gestern Abend auf Twitter...

Donnerstag, 4. April 2013

Juckreiz auf den Trommelfellen

Ich kann es nicht leugnen: Als gelernter Literaturwissenschaftler habe ich ein leidenschaftliches, mitunter fast schon libidinöses Verhältnis zur Sprache, das manchen meiner Mitmenschen zuweilen befremdlich erscheint. Wenn ich mich (was nicht ganz selten vorkommt) darüber echauffiere, dass bestimmte Formulierungen, Redewendungen oder grammatikalische Konstruktionen im allgemeinen Sprachgebrauch derart um sich greifen, dass sie schließlich quasi gewohnheitstrechtlich als korrekt akzeptiert werden, und darauf beharre, dass sie, auch wenn sie womöglich sogar in den Duden aufgenommen werden (Zitat Heinz Rudolf Kunze: "Der Duden! Früher ein penibler Landvermesser - heute der Shell-Atlas des landläufigen Lallens!"), nichtsdestoweniger schlicht falsch seien, wird mir gern mit mildem Tadel vorgehalten, Sprache sei schließlich etwas Lebendiges und entwickle sich. Gut und schön. Ob aber jede Veränderung die doch irgendwie nach Verbesserung klingende Bezeichnung Entwicklung verdient, wage ich von Fall zu Fall zu bezweifeln. Und wem daran liegt, dass unsere Sprache auch zukünftig noch in der Lage sein möge, sowohl poetische als auch analytisch-wissenschaftliche Äußerungen hervorzubringen, der täte in meinen Augen gut daran, die Entwicklung der Sprache nicht gänzlich den Produzenten von RTL-Reality-Soaps zu überlassen und den Wortschatz und die Grammatikkenntnisse von Acht- und Neuntklässlern an Integrierten Sekundarschulen nicht zum alleinigen Maßstab sprachlicher Korrektheit zu erheben. Sonst ist die Sprache irgendwann nicht mehr wirklich lebendig, sondern bestenfalls noch untot.

Ich übertreibe natürlich gerade fürchterlich. Ich hätte, statt eine derart apokalyptische Einleitung zu wählen, auch einfach zugeben können, dass ich diesen Beitrag aus lauter Spaß an der Freude schreibe, weil ich gerade Lust darauf habe und mit einem anderen Artikel, an dem ich schon länger arbeite, gerade nicht recht von der Stelle komme. Der von mir sehr geschätzte Max Goldt hat in mehreren seiner feinsinnigen und humorvollen Glossen Listen von Begriffen und Redewendungen aufgestellt, die man seiner Meinung nach tunlichst nicht verwenden sollte, und dasselbe möchte ich hier auch mal tun. Ich bin übrigens nicht in allen Fällen mit Max Goldt einer Meinung. Das ist eine durchaus wichtige Feststellung. Es geht hier nicht darum, die politisch korrekte durch eine ästhetisch korrekte Sprache zu ergänzen oder zu konterkarieren - was in der Theorie eine reizvolle Vorstellung, in der Praxis aber wohl doch eher ein Krampf wäre. Man tut gut daran, sich einzugestehen, dass solche Listen von "Dingen, die man nicht sagt" nur bedingt als allgemeine Regeln taugen; sie beruhen sehr stark auf individuellem Geschmack und Empfinden. Ich glaube, dass auch Max Goldt sich dessen sehr bewusst ist; zumindest verwendet er einige der Begriffe, die er an anderen tadelt, durchaus auch mal selbst - und das geht mir nicht anders. Deswegen verabscheue ich diese Begriffe nicht weniger - eher sogar mehr. Denn das ist eben das Perfide an dieser "Entwicklung" von Sprache: Bei bestimmten Ausdrücken erinnert man sich womöglich noch, wann und von wem man sie das erste Mal gehört hat und dabei befremdet dachte "Sowas sagt man doch nicht"; aber plötzlich griff diese Ausdrucksweise dann immer weiter um sich, und man lief Gefahr, sich daran zu gewöhnen. Irgendwann ist es dann soweit, dass diese Begriffe Anstalten machen, aus dem passiven in den aktiven Wortschatz hineinzuwuchern. Und da gilt es dann in aller Entschiedenheit einen Riegel vorzuschieben! Daher genug der Vorrede und ran an den Speck:

sukzessive.

Früher sagte man dafür gern "peu à peu", das klang ein bisschen frivol, auf eine tantig-schrullige Art - zumindest dann, wenn man es wie ich hauptsächlich aus dem Mund frivol sein wollender schrulliger alter Tanten gehört hat. Vermutlich genau deswegen ist dieser Begriff heutzutage auch out. Stattdessen sagt man "sukzessive". Okay, das stammt aus dem Lateinischen, was man im Grunde ja gern schön finden würde. Das für deutsche Augen und Ohren etwas fremd wirkende -e am Ende deutet darauf hin, dass es sich um ein Adverb handelt. Fein. Aber würde irgendjemand "intensive" sagen, wenn er "intensiv" als Adverb verwenden will? "Ich habe mich intensive mit dieser Frage auseinandergesetzt"? Das würde einem doch garantiert als Fehler angekreidet werden. Ich weiß, das ist kein Argument. In Wirklichkeit ist "sukzessive" ein total korrekter und untadeliger Begriff. Ich mag ihn nur einfach nicht.

Und wo wir schon bei aus dem Lateinischen übernommenen Adverbien sind, kommen wir gleich mal zu

realiter.

Das bedeutet ja eigentlich nichts anderes als "tatsächlich" oder "in Wirklichkeit", klingt aber eleganter. Außer wenn es falsch betont wird. Also auf den ungeraden Silben, mit dem Hauptakzent auf der Drei. Bitte merken: realiter wird auf den geraden Silben betont, mit dem Hauptakzent auf der Zwei! Ich muss da immer an Harald Schmidt denken, der in einer Verstehen Sie Spaß?-Sendung einmal ein jazzig angehauchtes Klavierstück zu Gehör brachte und es dem Studiopublikum streng verwies, falsch mitzuklatschen: "Eins und Drei ist Stadl, Zwei und Vier ist Blues." Und überhaupt: Selbst wenn man weder von Blues noch von Latein eine Ahnung hat, sollte man bemerken können, dass ein falsch betontes realiter klingt wie Vor- und Nachname einer mythologischen Gestalt, nur dass mythologische Gestalten in der Regel keinen Nachnamen haben. Rhea Liter, die Gattin des Titanenfürsten Kronos Kubikmeter. Und ihre vier unehelichen Kinder Hekto, Dezi, Zenti und Milli.

Ganz ganz schlimm ist übrigens auch

der nicht-reflexive Gebrauch von "erinnern".

Ich erinnere das. Wirklich? Ich nicht. Dass die gute alte Grammatikregel "Wer brauchen nicht mit 'zu' gebraucht, der braucht es gar nicht zu gebrauchen" langsam aber sicher der Vergessenheit anheimfällt, ist mindestens ebenso bedauerlich wie das schwindende Wissen um den Unterschied zwischen "scheinbar" und "anscheinend", zwischen "das gleiche" und "dasselbe", zwischen "her" und "hin"; aber der nicht-reflexive (und gleichzeitig präpositionsfreie) Gebrauch von "erinnern" ist wirklich eine Pest. Liebe Leute, schreibt es euch hinter die Ohren: Man kann jemanden an etwas erinnern, man kann sich an etwas erinnern, aber man kann NICHT etwas erinnern. Im Englischen geht das, okay, aber da sind to remember und to remind schließlich zwei grundverschiedene Verben, auch wenn zu befürchten steht, dass die "ich erinnere das"-Sager sie kaum werden unterscheiden können. Mit anderen Worten, "ich erinnere das" ist ein missverstandener, halbgarer Anglismus. Und übrigens kein

Anglizismus.

Es ist ein klares Kennzeichen von Halbbildung, Fremdwörter noch imposanter klingen lassen zu wollen, indem man sie mit überflüssig komplizierten Endungen aufbläht. Max Goldt spottete dereinst weidlich über Leute, die grundsätzlich "Thematik" statt "Thema" und "Problematik" statt "Problem" sagen. Wobei "Thematik" und "Problematik" ja durchaus korrekte und legitime Begriffe sind, die sich in ihrer Bedeutung durchaus (wenn auch nicht ganz einfach) von "Thema" und "Problem" abgrenzen lassen. "Anglizismus" hingegen ist - auch wenn es sich inzwischen eingebürgert hat und als korrekt gilt - schlicht und einfach Bullshit. Das Wort heißt Anglismus, und damit basta.

Nebenbei, da ich den Begriff gerade selbst verwendet habe:

Halbbildung.

Sollte man auch nicht sagen. An der Auffassung, oberflächliche und ungenügend reflektierte Bildung mache die Menschen eher dümmer als klüger, ist ja durchaus was Wahres dran. Aber der Begriff "Halbbildung" erweckt den Eindruck, Bildung sei quantifizierbar, und man könne erst ab einer bestimmten Quantität von "echter" Bildung sprechen, alles unterhalb dieser Grenze sei "Halbbildung" und ergo schlecht. Das ist diskriminierend, elitär und eitel. Eine Runde schämen! (Damit meine ich gerade mich selbst.)

humanitäre Katastrophe.

Blanker Unsinn. Kommt zustande, wenn man Adjektive und Adverbien nicht unterscheiden kann. Ein Ereignis kann in humanitärer Hinsicht eine Katastrophe sein, aber eine Katastrophe ist als solche ganz sicher nicht humanitär.

antialkoholisches Getränk.

Wäre ja ganz schön, wenn es das wirklich gäbe. Am Freitagabend ein bisschen zu tief ins Glas geschaut? Kein Problem, schnell ein, zwei antialkoholische Getränke hinterher, schon ist man wieder stocknüchtern. Hin und wieder wird ja, gerade in der Werbung, der Eindruck vermittelt, das gäbe es tatsächlich. Gibt es aber nicht - ich weiß das, ich habe wirklich alles probiert. - Scherz beiseite: Was mit diesem Schrottausdruck in der Regel gemeint ist, ist "alkoholfreies Getränk". Wenn man - siehe oben unter "Anglizismus" - partout mit Fremdwortkenntnissen glänzen will, kann man auch "analkoholisches Getränk" sagen (und auch hier bitte ganz unbedingt auf die richtige Betonung achten!!). Aber antialkoholische Getränke, nein, die gibt es nicht.

dritte Alternative.

Darauf musste mich - vielleicht, weil das Englische hier tendenziell genauer ist als das Deutsche - mal mein Englischlehrer auf dem Gymnasium aufmerksam machen: Der Begriff Alternative impliziert, dass es genau zwei davon gibt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, Frau Merkel!

Beamtin.
Man sieht es dem Begriff "der/die Beamte" auf den ersten Blick nicht unbedingt an, aber von der Wortbildung her handelt es sich dabei um ein substantiviertes Partizip, ähnlich wie "der/die Delegierte" oder "der/die Abgeordnete". Ja, ich weiß, man sagt nicht "beamt", sondern "beamtet". Demnach würde man eigentlich erwarten, dass es "der/die Beamtete" heißt, aber das klänge wiederum ein bisschen wie gestottert. Wie dem auch sei, der Begriff "Beamtin" ist rein lexisch gesehen ein Monstrum, eine Chimäre. Ein Geschöpf aus dem Laboratorium linguistischer Frankensteine. Ich war auch schon mal bei einer Versammlung, bei der die Anwesende als "liebe Delegierte und Delegiertinnen" begrüßt wurden. Wenn man erst mal so weit ist, kommt als nächstes "Mitglieder und Mitgliederinnen". Und ich verkneife mir wohlweislich sämtliche Zoten, die einem dazu einfallen könnten.

Und ehe ich hier noch politisch inkorrekter werde, schlage ich schnell mal einen Bogen zurück zum geistigen Vater dieses Beitrags und vollende meine Zehn-Punkte-Liste mit dem Begriff

Wellness.

"Wellness ist wie früher Fitness, nur dass jetzt auch die Seele mitmachen muss." (Max Goldt)

In diesem Sinne wünsche ich meinen Lesern einen entspannten Abend...