Freitag, 10. August 2012

Frohe Ostern, Deutschland! - Teil 4: Durch Deutschland muss ein Rock gehen!

Zunächst einmal muss ich mich entschuldigen. Entschuldigen dafür, dass ich mich diesem Thema mit so erheblicher Verspätung zuwende. Die diesjährige Wallfahrt zum Heiligen Rock in Trier fand vom 13. April bis 13. Mai statt, und ich komme erst jetzt, im August, dazu, darüber zu schreiben. Nun gut, der Reihentitel verrät, dass ich einen Beitrag zu diesem Thema schon so ungefähr seit Ostern geplant hatte. Aber manche Dinge dauern eben etwas länger, als man es gern hätte; andere Themen haben sich zwischenzeitlich in den Vordergrund gedrängt, aber das soll nun kein Grund sein, den Beitrag über die Rockfahrt gänzlich fallen zu lassen, nur weil er nicht mehr ganz so "aktuell" ist.

Der Heilige Rock - ein Gewand, das Fragmente der Tunika Jesu Christi enthalten soll - dürfte die wohl berühmteste und bedeutendste Reliquie auf deutschem Boden sein. Nachdem das Gewand zuletzt 1996 öffentlich ausgestellt worden war, kündigte der Trierer Bischof Reinhard Marx im Jahr 2007 an, zum 500. Jubiläum der ersten Wallfahrt zum Heiligen Rock solle es 2012 erneut eine große Wallfahrt geben. Nicht lange nach dieser Ankündigung wurde Marx jedoch zum Erzbischof von München und Freising ernannt, sodass die Aufgabe, die Jubiläums-Rockfahrt zu organisieren, im Wesentlichen seinem Nachfolger auf dem bischöflichen Stuhl von Trier, Stephan Ackermann, zufiel. Es ist eine interessante, wenn auch letztlich müßige Frage, ob Bischof (jetzt Kardinal) Marx, wäre die Rockfahrt unter seiner Federführung veranstaltet worden, andere Schwerpunkte gesetzt hätte, als es sein Nachfolger Ackermann dann tat. Darauf wird noch zurückzukommen sein; wenden wir uns jedoch zunächst der Geschichte der illustren Reliquie zu.

Die enorme Bedeutung des Heiligen Rocks etwa im Vergleich zu den Sandalen Christi, die in der Sankt-Salvator-Basilika in Prüm aufbewahrt werden, leitet sich sehr wesentlich davon her, dass dieses Kleidungsstück im Kreuzigungsbericht des Johannesevangeliums ausdrücklich erwähnt und hervorgehoben wird. In Joh 19,23-24 ist zu lesen:
"Nachdem die Soldaten Jesus ans Kreuz geschlagen hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile daraus, für jeden Soldaten einen. Sie nahmen auch sein Untergewand, das von oben her ganz durchgewebt und ohne Naht war. Sie sagten zueinander: Wir wollen es nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte sich das Schriftwort erfüllen: Sie verteilten meine Kleider unter sich und warfen das Los um mein Gewand. Dies führten die Soldaten aus."
Bei dem Schriftwort, auf das der Evangelist hier verweist, handelt es sich um Psalm 22,19; der Evangelist hebt somit hier wie auch an vielen anderen Stellen Jesus Christus als denjenigen hervor, in dessen Person sich die Prophezeiungen des Alten Testaments erfüllen. - Am Rande sei erwähnt, dass die oben zitierte Passage aus dem Johannesevangelium den US-amerikanischen lutherischen Pfarrer und Romanautor Lloyd C. Douglas zu dem Roman The Robe (1942; dt. Das Gewand des Erlösers) inspirierte, in dem der weitere Lebensweg jenes römischen Soldaten beschrieben wird, der die Tunika Christi beim Würfelspiel gewinnt; der Roman wurde 1953 verfilmt, 1954 folgte eine Fortsetzung unter dem Titel Die Gladiatoren. Dass die Tunika Christi in Douglas' Roman und dessen Verfilmung nach Rom gelangt, steht allerdings im Widerspruch zu jener Überlieferung, die sich an den Heiligen Rock von Trier knüpft: Der Legende nach soll nämlich Kaiserin Helena, die Mutter Konstantins des Großen, auf einer Wallfahrt ins Heilige Land im Jahr 324 oder 325 Ausgrabungen veranlasst haben, bei denen sie neben dem Kreuz Christi und den Kreuzesnägeln auch noch zahlreiche andere Reliquien aufgefunden haben soll - darunter eben auch die Tunika, die Helena ihrer Heimatstadt Trier geschenkt haben soll. - Eine eher skurrile Variante der Auffindungsgeschichte erzählt das gegen Ende des 12. Jhs. entstandene Spielmannsepos Orendel: Darin soll der Titelheld, der Sohn des Königs von Trier, die Königin von Jerusalem heiraten, erleidet jedoch infolge des Zusammenstoßes mit einem Eisberg (!) Schiffbruch und findet den Rock Christi im Bauch eines Wals!

Urkundlich bezeugt ist die Aufbewahrung des Heiligen Rocks im Dom zu Trier ab dem Jahr 1196; die Reliquie blieb jedoch noch Jahrhunderte lang unter Verschluss, bis Kaiser Maximilian I. sie im Jahr 1512 zu sehen wünschte, als er anlässlich eines Reichstags in Trier war. Der eben erst in sein Amt eingeführte Trierer Erzbischof und Kurfürst Richard von Greiffenklau entsprach diesem Wunsch, wie es heißt, nur widerstrebend; nun aber verlangte auch das Volk den Leibrock Christi zu sehen, woraufhin die Reliquie 23 Tage öffentlich ausgestellt wurde. Damit war der Anstoß für die Wallfahrten zum Heiligen Rock gegeben, die in der Folgezeit jährlich stattfanden, bis Papst Leo X. im Jahr 1517 bestimmte, der Heilige Rock solle künftig nur noch alle sieben Jahre gezeigt werden. Weitere Rockfahrten fanden also in den Jahren 1524, 1531, 1538 und 1545 statt, danach wurde der Siebenjahreszyklus infolge kriegerischer Ereignisse und reformationsbedingter Unruhen ausgesetzt. Im Jahre 1628 wurde der Heilige Rock auf die Festung Ehrenbreitstein bei Koblenz verbracht, wo er mit einigen Unterbrechungen insgesamt bis 1794 blieb; während dieser Zeit wurde er immerhin einmal, 1765, öffentlich ausgestellt und zum Ziel einer Wallfahrt. Der letzte Kurfürst von Trier, Clemens Wenzeslaus von Sachsen, nahm die Reliquie mit sich, als er infolge des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 sein Amt verlor und sich nach Augsburg zurückzog. 1810 kehrte der Heilige Rock jedoch nach Trier zurück, woraufhin dort auch die Wallfahrten wieder aufgenommen wurden - allerdings in erheblich größeren Zeitabständen als im 16. Jahrhundert.

Die Reformatoren, die Wallfahrtswesen und Reliquienverehrung ablehnten, polemisierten heftig gegen die Wallfahrten zum Heiligen Rock, die zu ihrer Zeit noch ein sehr junges Phänomen waren; so wetterte Dr. Martin Luther in der ihm eigenen derben Wortwahl gegen die "Bescheißerei zu Trier, mit Christi Rock", wo "der Teufel großen Jahrmarkt gehalten" habe: "Und das noch das Allerärgest ist, daß sie die Leute hiemit verführet und von Christo gezogen haben, auf solche Lügen zu trauen und bauen...". Die ablehnende Haltung der protestantischen Kirchen gegen die Rockfahrten blieb auch nach deren Wiederaufnahme im 19. Jh. ungebrochen. Umso überraschender mag es anmuten, dass anlässlich der Rockfahrt 1996 der damalige Trierer Bischof Hermann Josef Spital den Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Peter Beier, zur Teilnahme einlud; dieser nahm die Einladung nicht nur an, sondern dichtete sogar ein Pilgerlied für die Wallfahrt. Die Rockfahrt 2012 wurde unter das betont ökumenisch ausgerichtete Motto "...und führe zusammen, was getrennt ist" gestellt; das Motto nahm Bezug auf die Rolle des aus einem Stück gewebten Leibrocks Christi als Symbol für die Einheit der Kirche. Ende 2011 erklärte dann die für Ökumene zuständige Oberkirchenrätin der Evangelischen Kirche im Rheinland, Barbara Rudolph, bei einer Pressekonferenz: "Auf Einladung von Bischof Stephan Ackermann beteiligen wir uns an der Heilig-Rock-Wallfahrt im Jahr 2012". Diese ökumenische Ausrichtung der Rockfahrt erforderte allerdings - angesichts bleibender Vorbehalte der Protestanten gegen ebenjene religiösen Praktiken, gegen die schon die Reformatoren Stellung bezogen hatten - auf katholischer Seite einige Kompromisse; so verzichtete Bischof Ackermann entgegen der gängigen Praxis darauf, anlässlich der Rockfahrt 2012 in Rom die Genehmigung eines Ablasses zu erbitten - um "die ökumenischen Beziehungen nicht zu konterkarieren". Man kann in der Tat davon ausgehen, dass die Gewährung eines Ablasses die Bereitschaft der evangelischen Kirche, an der Rockfahrt teilzunehmen, erheblich beeinträchtigt hätte - gilt doch der Kampf gegen den Ablass weithin als Initialzündung der lutherischen Reformation in Deutschland (wenngleich, dies nur am Rande, Luther sich in seinen 95 Thesen keinesfalls so prinzipiell gegen den Ablass positionierte, wie vielfach angenommen wird - Näheres dazu hier). Der Verzicht auf den Ablass wie auch insgesamt die ökumenische Ausrichtung der Wallfahrt sorgten allerdings wiederum auf katholischer Seite für Irritationen - besonders in traditionalistischen Kreisen, die Bischof Ackermann eine "Uminterpretation der Heilig-Rock-Wallfahrt" vorwarfen. Angesichts solcher Auseinandersetzungen ging die Tatsache, dass letztlich - im Anschluss an ein von dem emeritierten Kardinal Walter Brandmüller zelebriertes Pontifikalamt - doch noch ein Ablass zu den üblichen Bedingungen verkündet wurde, in der öffentlichen Wahrnehmung beinahe unter.

Im Großen und Ganzen gewährleistete die ökumenische Ausrichtung der Rockfahrt aber doch eine von konfessionellen Animositäten unbeeinträchtigte Atmosphäre; Misstöne kamen von anderer Seite. Atheistische Organisationen riefen - wieder einmal, und wieder einmal ohne nennenswerte Resonanz - zum massenhaften Kirchenaustritt auf; wie schon 1996 wurde als eine Art "Gegenreliquie" die (keinen Anspruch auf Authentizität erhebende) Unterhose von Karl Marx ausgestellt; und unter dem Motto "Papst trifft Hitler" zogen die Aktionskünstler Wolfram P. Kastner und Linus Heilig, verkleidet als Hitler und Papst Pius XII., durch Trier - womit sie darauf anspielten, dass die mit über zwei Millionen Teilnehmern größte Wallfahrt zum Heiligen Rock 1933 anlässlich des Abschlusses des Reichskonkordats zwischen Heiligem Stuhl und Deutschem Reich stattfand; über diese historische Tatsache hinaus zielte diese "Kunstaktion" erkennbar darauf ab, die verbreiteten Vor- und Fehlurteile über eine angebliche Affinität der katholischen Kirche und insbesondere Papst Pius' XII. zum Nationalsozialismus zu bestärken. Alles in allem kann man diese Protestaktionen wohl kaum anders als läppisch und albern nennen; sie entfalteten auch keinerlei Breitenwirkung - sehr im Gegensatz zu Protesten gegen frühere Rockfahrten, insbesondere jene des Jahres 1844, auf die ich hier etwas ausführlicher eingehen möchte.
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Heilig-Rock-Wallfahrt: „Papst trifft Hitler“ – Protestaktion empört Trier - weiter lesen auf FOCUS Online: http://www.focus.de/panorama/welt/parodie-auf-die-heilig-rock-wallfahrt-papst-trifft-hitler-protestaktion-empoert-trier_aid_737551.html

1810 hatte es anlässlich der Rückführung des Heiligen Rocks nach Trier erstmals seit Langem wieder eine Wallfahrt gegeben; die nächste folgte 1844 und wurde weithin als "gegen den preußischen Staat gerichtete Machtdemonstration" der katholischen Kirche wahrgenommen (vgl. Sylvia Paletschek, Frauen und Dissens. Frauen im Deutschkatholizismus und in den freien Gemeinden 1841-1852. Göttingen 1990, S. 20). Vom 18. August bis zum 6. Oktober 1844 pilgerten zwischen einer halben und einer Million Menschen zum Heiligen Rock in Trier – die mit Abstand größte Massendemonstration im deutschen Vormärz:

"Wunder geschahen, am bekanntesten wurde die 'Heilung' der gelähmten Gräfin von Droste-Vischering, die zwar nicht lange anhielt, jedoch […] nicht so schnell in Vergessenheit geriet. Die Gastwirte, Bilderhändler, die Verkäufer von geweihten Bändchen, Schärpen und ähnlichen Gegenständen machten gute Geschäfte, während im Dom die Pilger die Reliquie mit dem Stoßseufzer 'Heiliger Rock, bitt' für uns' anbeteten. Die Rockfahrt hinterließ in ganz Deutschland einen starken Eindruck, allein schon wegen ihrer hohen Teilnehmerzahl, die von Befürwortern wie Kritikern als sensationell empfunden wurde, zumal Massenveranstaltungen angesichts staatlicher Verbote, ungenügender Verkehrsverbindungen und geringem Organisationsgrad der Bevölkerung keine alltägliche Erscheinung waren." (Paletschek, S. 19)

Kritiker der Rockfahrt tadelten den anachronistischen Charakter dieser Reliquienverehrung sowie "den krassen Aberglauben und die Ausbeutung der ungebildeten und armen Pilger" (Paletschek, S. 20); der katholischen Kirche wurde vorgeworfen, "die religiösen Gefühle der Menschen irrezuleiten und sie materiell auszubeuten" (ebd.). Zu den prominentesten Kritikern der Wallfahrt zählte der suspendierte katholische Kaplan Johannes Ronge, der in der Folge zum Mitbegründer einer der bedeutendsten religiösen Oppositionsbewegungen seiner Zeit, des so genannten Deutschkatholizismus, wurde. Eine der ersten deutschkatholichen Gemeinden wurde 1845 in Breslau gegründet; sie beschloss bereits in ihren "konstituierenden Versammlungen [...] [die] Lossagung von Rom, demokratische Selbstverwaltung der Gemeinde und Wahl des Predigers, Abschaffung der Ohrenbeichte, der lateinischen Sprache im Gottesdienst, des Zölibats, der Ablässe, der Wallfahrten, der Heiligenverehrung und des Sakramentes der Ehe" (Paletschek, S. 24). Wem dieser Forderungskatalog irgendwie bekannt vorkommt, der mag sich einerseits die Frage stellen, wie "modern" und "zeitgemäß" die Programmatik heutiger kirchenkritischer Initiativen tatsächlich ist, möge sich aber darüber hinaus auch vor Augen halten, wie schnell im Falle der deutschkatholischen Gemeinden der Bruch mit dem Lehramt der katholischen Kirche und die Auffassung, dass "nur Bibel und Vernunft das Fundament des christlichen Glaubens" bilden sollten (ebd.), dazu führten, dass sämtliche spezifisch christliche Glaubensinhalte über Bord geworfen wurden. Schon rund ein Jahrzehnt nach ihrer Entstehung verschmolz die deutschkatholische Bewegung mit den von den evangelischen Landeskirchen abgespaltenen Freien Gemeinden zum Bund Freireligiöser Gemeinden, der als Dachverband verschiedener 'freidenkerischer' bzw. 'humanistischer' Organisationen noch heute besteht, dem es aber noch immer nicht gelungen ist, die christlichen Kirchen abzuschaffen bzw. zu ersetzen. Anlässlich der Rockfahrt 2012 erinnerten sich verschiedene freireligiöse Gemeinden und Gemeindeverbände der Pfalz, Württembergs und Rheinhessens wieder ihrer Entstehungsgeschichte und schmiedeten ein Aktionsbündnis, das ein Gegenprogramm zur Wallfahrt organisierte, damit aber auf weit weniger Resonanz stieß als die Altvorderen ihrer Bewegung.

Insgesamt nahmen rund 500.000 Pilger an der diesjährigen Wallfahrt zum Heiligen Rock teil. Das waren bedeutend weniger als noch 1996; dennoch zogen die Veranstalter eine positive Bilanz: Bischof Ackermann sprach von einer "vierwöchigen Festzeit" und von einem "Glaubensereignis"; es sei "spürbar geworden, dass die Heilig-Rock-Wallfahrt ein Bekenntnis zu Jesus und eine wirkliche Christuswallfahrt sein wolle". Wallfahrtsleiter Georg Bätzing erklärte, "das Pilgertreffen habe Kirche als lebendige, freundliche, hilfreiche, tröstliche und bestärkende Gemeinschaft konkret gemacht"; er sei "jetzt fester denn je davon überzeugt, dass der Heilige Rock ein echtes Bild Jesu Christi sei, das die Herzen von Menschen unmittelbar berühre". Letzteres ist allen Beteiligten nur zu wünschen; festzuhalten ist aber allemal, dass die Rockfahrt - wie schon der Papstbesuch im vorigen Jahr - angesichts eines der öffentlichen Religionsausübung im Allgemeinen und der katholischen Kirche im Besonderen zunehmend feindseligen Klimas ein weithin sichtbares Zeugnis für einen lebendigen Glauben gesetzt hat, allen öffentlichen Anfeindungen zum Trotz.

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