Samstag, 21. Juli 2012

Die Vorhaut der Anderen

In den letzten Tagen und Wochen ist viel über Beschneidung gestritten worden - bei Twitter, bei Anne Will, im Bundestag und sogar auch im wirklichen Leben. Nachdem sämtliche Argumente für und gegen ein Verbot der religiös begründeten Vorhautbeschneidung männlicher Kleinkinder gründlich durchdiskutiert wurden, könnte man denken, es sei Zeit, die Debatte zu beenden. Aber wie es in solchen Fällen nicht selten zu gehen scheint, ist das Gegenteil der Fall: Die Debatte geht erst richtig los. Wenn alle Argumente ausgetauscht sind, schlägt die Stunde der Polemik. Dann können sich endlich auch die an der Debatte beteiligen, die keine Argumente haben und für Argumente Anderer nicht zugänglich sind.

In diesem Stadium öffentlicher Auseinandersetzungen wird gern vergessen, was eigentlich ihre Ursache oder ihr Anlass war. Darum noch einmal zur Erinnerung: Die aktuelle Beschneidungsdebatte wurde ausgelöst durch ein Urteil des Landgerichts Köln, in dem die Beschneidung eines muslimischen Jungen als rechtswidrige Körperverletzung beurteilt wurde. Es handelte sich wohlgemerkt um eine Einzelfallentscheidung, nicht um ein Grundsatzurteil; dennoch lag der Gedanke nicht fern, das Urteil könne Schule machen und zu einem generellen Beschneidungsverbot in Deutschland führen. Juden und Muslime, für die die Beschneidung von Knaben einen wesentlichen Bestandteil ihrer religiösen Praxis und religiösen Identität darstellt, reagierten begreiflicherweise beunruhigt bis empört; auf der anderen Seite meldeten sich nun viele zu Wort, die das Kölner Urteil begrüßten und forderten, das archaische Ritual der Beschneidung gehöre ein für allemal abgeschafft.

Wie eingangs bereits festegestellt, liegen sämtliche Pro- und Contra-Argumente in dieser Frage längst auf dem Tisch, und ich will sie hier nicht noch einmal wiederholen; ich begnüge mich daher damit, auf einige Kommentare zu verweisen, die den Sachverhalt für mein Empfinden sehr sachgerecht, ausgewogen und umfassend darstellen und beurteilen: die Kommentare von

- Matthias Drobinski in qantara.de (27.06.12)
- Hans Michael Heinig in verfassungsblog.de (27.06.12)
-Jörg Lau in Zeit Online (13.07.12)
und
- Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung (16.07.12).

Kritiker mögen hier die Frage aufwerfen, inwieweit es denn "ausgewogen" sein solle, wenn ich hier nur solche Kommentare verlinke, die sich gegen ein Beschneidungsverbot aussprechen; ich empfehle dennoch, sie einfach mal zu lesen und sich dann die Frage zu stellen, was von den so genannten Argumenten für ein Beschneidungsverbot dann noch übrig bleibt.

Ich gebe zu: Persönlich bin ich ganz froh darüber, einer Religionsgemeinschaft anzugehören, in der Knaben nicht beschnitten werden. Andererseits: Wäre ich in eine jüdische Familie hineingeboren worden und somit acht Tage nach meiner Geburt beschnitten worden, wüsste ich nicht, wie es sich anfühlt, eine Vorhaut zu haben, und würde folglich nichts vermissen. Jetzt im Erwachsenenalter würde ich mich nicht mehr von meiner Vorhaut trennen mögen - tatsächlich bin ich mal an einen Arzt geraten, der mir lang und breit die gesundheitlichen Vorzüge einer Vorhautbeschneidung anpries, aber ich habe mich dennoch nicht dazu verstehen können, diesem ärztlichen Rat zu folgen. Doch darum geht es letztlich nicht.

Ein für mich sehr bezeichnender Aspekt der aktuellen Debatte ist dieser: Dass im Judentum und im Islam die Vorhautbeschneidung bei männlichen Kleinkindern eine Jahrhunderte alte religiöse Praxis ist, hätte man mit einem Mindestmaß an Allgemeinbildung auch schon vor dem Kölner Urteil wissen können. Ich kann mich jedoch nicht daran erinnern, dass jemand diese Praxis kritisiert hätte, geschweige denn, dass es darum eine solche Aufregung gegeben hätte wie jetzt. Auf einmal ist allerorten von "Verstümmelung" und "religiösem Wahn" die Rede. Für mich ist das ein klares Indiz dafür, dass es dem Großteil der Beschneidungskritiker um etwas ganz anderes geht als darum, kleinen jüdischen und muslimischen Jungen die Vorhaut zu erhalten. Vielmehr sieht es ganz danach aus, dass interessierte Kreise das Kölner Urteil als Steilvorlage nutzen, um gegen die Religionsfreiheit zu Felde zu ziehen. Unmissverständlich deutlich wird dies beim Betrachten einer Karikatur von Jacques Tilly, die die fanatisch antireligiöse Giordano-Bruno-Stiftung im Internet verbreitet - einer Karikatur, die nicht ohne Grund einige Kommentatoren an den Stil des NS-Hetzblatts Der Stürmer erinnerte; man sollte vielleicht wirklich mal prüfen, ob sie den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt. -- Zu sehen sind ein Mullah und ein Rabbiner, die, in der ursprünglichen Fassung des Bildes blutige Messer, in einer abgemilderten Version dann Nagelscheren reckend, vor dem Plenum des Deutschen Bundestages für das "Recht auf Beschneidung kleiner Jungs" demonstrieren, und die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen verneigen sich in islamischer Gebetshaltung vor ihnen. In der Mitte zwischen Mullah und Rabbi steht ein katholischer Bischof in vollem Ornat, der zwar kein Messer bzw. keine Schere trägt - in den christlichen Kirchen wird schließlich nicht beschnitten -, dafür aber das Transparent mit der oben zitierten Forderung tragen hilft. Die Karikatur appelliert somit nicht nur an antijudaistische und antiislamische Ressentiments der krudesten Art, sondern stellt - wie die Giordano-Bruno-Stiftung und ähnlich gesinnte Gruppierungen es ja auch sonst bei kaum einer Gelegenheit zu tun versäumen - das Christentum, pars pro toto vertreten durch die katholische Kirche, gleich mit an den Pranger. Das kann als Reaktion auf die klare Positionierung von Vertretern der Kirche(n) in der Beschneidungsfrage verstanden werden, dokumentiert aber zugleich, dass gläubige Christen allen Grund haben, sich solidarisch mit ihren jüdischen und muslimischen Mitbürgern zu zeigen. Auch wenn man meinen könnte, christliche Religionsausübung würde durch ein mögliches Beschneidungsverbot gar nicht berührt.

Einmal davon abgesehen, dass das Thema Vorhautbeschneidung ohne Zweifel mehr "unter die Haut geht" als andere Fragen der Religionsausübung und bei manch einem vielleicht geheime Kastrationsängste wachruft (vgl. dazu einen Kommentar aus der SZ vom 11.07.12), fügt sich die Kampagne atheistischer bzw. laizistischer Interessenguppen für ein Verbot der Beschneidung stimmig in das allgemeine Bild einer sich zunehmend rabiat gebärdenden öffentlichen Religionsfeindlichkeit ein - markiert aber gleichzeitig einen qualitativen Sprung: Während Forderungen nach der Verbannung religiöser Symbole aus öffentlichen Gebäuden, nach Abschaffung des konfessionellen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen usw. sich auf das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche berufen und religiöse Äußerungen möglichst weitgehend aus dem öffentlichen Raum verbannen möchten, Religion als "Privatangelegenheit" aber gerade noch zu dulden bereit sind, zeigt die Beschneidungsdebatte, dass das grundgesetzlich garantierte Recht auf ungestörte Religionsausübung nicht einmal mehr im privaten Raum der Familie unangefochten ist. Dass zum elterlichen Sorgerecht auch das Recht zur religiösen Unterweisung der Kinder gehört, wird tendenziell in Abrede gestellt - unter Verweis auf die Religionsmündigkeit, die nach deutschem Recht mit dem vollendeten 14. Lebensjahr erreicht wird. Bis zu diesem Zeitpunkt, so wird argumentiert, sollten die Kinder von religiöser Indoktrination verschont bleiben. -- Diese Auffassung verkennt nicht nur, dass es schlechterdings gar nicht möglich (geschweige denn sinnvoll) ist, ein Kind "weltanschaulich neutral" zu erziehen; sie verrät auch die generelle Unfähigkeit der so Argumentierenden, im Eingebundensein in eine religiöse Gemeinschaft irgend etwas Positives zu sehen. Religionsgemeinschaften erscheinen aus dieser Perspektive als reine Zwangsanstalten, als Instrumente der Unterdrückung, der Einengung von Individualität; wer sich dem freiwillig unterwirft, erntet ein im wahrsten Sinne des Wortes ungläubiges Kopfschütteln, aber man lässt ihn gewähren, er will es schließlich so.

In diesem Sinne wird auch verschiedentlich argumentiert, wenn Judentum und Islam partout am Ritus der Beschneidung festhalten wollten, dann sollten sie diesen Akt wenigstens auf ein lebensalter verschieben, in dem der junge Jude oder Muslim selbst entscheiden kann, ob er das mit sich machen lassen will. Wenn, wie man dieser Tage immer häufiger liest, die Vorhautbeschneidung eine "Verstümmelung" ist, dann bleibt sie das zwar auch, wenn sie an einem Jugendlichen oder Erwachsenen durchgeführt wird; aber wenn der es selbst so will, was soll man dagegen sagen? Das Recht auf Selbstverstümmelung ist dem modernen Menschen heilig, sei es in Form von Piercing, Tattoos, Schönheitsoperationen oder gar Amputationen zur Befriedigung spezieller sexueller Neigungen. Auch Selbstmord wird weithin als ethisch legitim angesehen. Mit sich selbst, so scheint es, kann und darf ein mündiger Mensch so ziemlich alles machen; da waltet ein radikaler Individualismus, der davon ausgeht, der Mensch sei nur und allein sich selbst verantwortlich. Den abrahamitischen Religionen ist diese Auffassung allerdings vom Ansatz her fremd, und auch darüber hinaus mag die Frage berechtigt sein, wie man auf einem solchen schrankenlosen Individualismus ein solidarisches Gemeinwesen aufbauen können sollte. Das wäre vielleicht mal ein spannendes Thema für den "weltanschaulich neutralen" Ethikunterricht, der in Berlin Pflichtfach auch für konfessionell gebundene Schüler ist. Aber ich schweife ab.

Um zum Schluss zu kommen: Letzlich drehen sich alle Pro- und Contra-Argumente in der Beschneidungsdebatte um die Frage, ob die Unversehrtheit der männlichen Vorhaut ein höheres Gut ist als die Einbindung in eine religiöse Gemeinschaft. Genau dies ist aber eine Glaubensfrage und kann darum nicht vor Gericht entschieden werden. Fairnesshalber sei einmal davon ausgegangen, dass unter den Beschneidungsgegnern auch solche sind, denen es nicht um einen Generalangriff auf die Religionsfreiheit zu tun ist, sondern wirklich allein um das Wohl der betroffenen Kinder. Diese, sagen wir einmal, gemäßigten Beschneidungskritiker dürften an dieser Stelle die Frage aufwerfen, ob es denn wirklich notwendig sei, die Einbindung in die religiösen Gemeinschaften von Judentum und Islam von einem irreversiblen operativen Eingriff abhängig zu machen. Die Frage ist berechtigt, aber eine Antwort darauf müssen die betreffenden Religionsgemeinschaften für sich selbst finden, sie kann ihnen nicht von außen diktiert werden.

Der deutsche Bundestag hat sich in einer Resolution mit großer Mehrheit für die Straffreiheit religiös begründeter Beschneidungen ausgesprochen; nach der Sommerpause soll ein entsprechendes Gesetz verabschiedet werden. Es ist schon jetzt absehbar, dass gegen dieses Gesetz, wenn es denn kommt, geklagt werden wird; die letztgültige Entscheidung dürfte also wieder einmal in Karlsruhe fallen. Dass ein höchstrichterlicher Spruch die durch das Urteil einer untergeordneten Instanz losgetretene Debatte tatsächlich beenden könnte, steht jedoch zu bezweifeln.

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