Sonntag, 29. Juli 2012

Was ist denn bloß in Passau los?


Hand aufs Herz: Wie viele meiner Leser wüssten aus dem Stand, ohne nachzuzählen, wie viele Diözesanbischöfe die katholische Kirche in Deutschland hat? Ich muss gestehen, ich hätte mich da ganz erheblich verschätzt. Auch beim Versuch, die deutschen Bistümer im Kopf durchzuzählen, bekam ich nicht alle zusammen; schließlich musste ich es nachlesen. Die Auflösung: 25 Diözesanbischöfe gibt es zur Zeit in Deutschland – eigentlich wären es sogar 27, aber die Bischofsstühle von Dresden-Meißen und Regensburg sind derzeit vakant.

Angesichts von rund 24,5 Mio. Katholiken in Deutschland erscheint die Anzahl von 27 Diözesen nicht gerade übertrieben hoch; dass ich dennoch überrascht über die Zahl der deutschen Bischöfe war, dürfte in erster Linie daran liegen, dass man von den meisten von ihnen so gut wie nie etwas hört.

Wen kennt man denn so aus dem deutschen Episkopat? – Zu den bekanntesten deutschen Bischöfen zählen sicherlich die vier Kardinäle unter ihnen: der Bischof von Mainz, Karl Kardinal Lehmann, der als langjähriger  Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz (1997-2008) sowie als Träger schier zahlloser Ehrendoktortitel, Honorarprofessuren, Ehrenbüger- und -mitgliedschaften und Verdienstorden geradezu als elder statesman gelten kann, um den es in den letzten Jahren jedoch, seit seinem gesundheitlich bedingten Rücktritt vom Vorsitz der DBK, etwas ruhiger geworden ist; sein Antipode Joachim Kardinal Meisner,  Erzbischof von Köln seit 1989, zuvor neun Jahre in Berlin, Kardinal seit 1983 und dank seiner gern in provokante Äußerungen gekleideten kompromisslosen Bekenntnisse zur katholischen Glaubens- und Sittenlehre eine Art Lieblingsfeind von Kirchengegnern und 'Reformkatholiken' - vom Grünen-Politiker Volker Beck wurde er schon mal als 'Hassprediger' tituliert -; Reinhard Kardinal Marx, als Erzbischof von München-Freising (seit 2007) quasi Oberhirte des kirchlichen Bayern und schon vor seiner Kardinalserhebung als 'shooting star' des deutschen Episkopats gehandelt; und schließlich der mit 55 Jahren weltweit jüngste Kardinal Rainer Maria Woelki, der vor bzw. bei seinem Amtsantritt als Erzbischof von Berlin als erzkonservativer Hardliner verschrieen war und dem enge Kontakte zum Opus Dei nachgesagt wurden (worunter sich speziell jene, die das Opus Dei nur aus Dan Browns Da Vinci Code kennen, natürlich etwas ganz Furchtbares vorstellen), der aber seitdem durch seine lockere, sympathische und kommunikative Art die Herzen vieler Berliner im Sturm erobert hat. -- Neben oder z.T. auch noch vor diesen vier Kardinälen kommt natürlich dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz - seit 2008 Robert Zollitsch, Erzbischof von Freiburg - eine Schlüsselrolle für die öffentliche Repräsentation der katholischen Kirche in Deutschland zu.

Relativ bekannt ist auch der Bischof von Essen, Franz-Josef Overbeck; nicht nur, weil er gleichzeitig Militärbischof für die Bundeswehr ist oder weil er mal bei Anne Will zu Gast war, sondern nicht zuletzt auch, weil sein Bistum eine sehr rege Öffentlichkeitsarbeit unter intensiver Einbeziehung sozialer Netzwerke wie Facebook und Twitter betreibt. Dem jungen Bischof von Trier, Stephan Ackermann, wird eine gewisse mediale Aufmerksamkeit dadurch zuteil, dass er die wenig beneidenswerte Position des "Missbrauchsbeauftragten" (ein grässliches Wort) der deutschen Bischofskonferenz innehat und gleichzeitig wiederholt mit Missbrauchsfällen in seiner eigenen Diözese konfrontiert wurde. -- Darüber hinaus wird man von praktizierenden Katholiken erwarten dürfen, dass sie den Bischof ihrer jeweiligen Diözese namentlich kennen – mindestens mit Vornamen, da sie allsonntäglich dazu angehalten werden, für ihn zu beten.

Da bleibt aber immer noch eine beträchtliche Anzahl von Bischöfen, die zumindest außerhalb ihrer Diözese weitestgehend unbekannt sind; größere Aufmerksamkeit ziehen sie in der Regel nur dann auf sich, wenn es Proteste gegen sie gibt, denn so etwas interessiert die Medien natürlich immer. So ging es Konrad Zdarsa, dem Nachfolger des skandalumwitterten Walter Mixa auf dem bischöflichen Stuhl von Augsburg, als er eine tief greifende Strukturreform in seinem Bistum in Angriff nahm; und so ergeht es derzeit Wilhelm Schraml, dem 84. Bischof von Passau. – Passau hat von allen deutschen Diözesen den höchsten katholischen Bevölkerungsanteil: Rund 89% der Einwohner gehören hier der katholischen Kirche an. Man könnte also meinen, im Bistum Passau sei die katholische Welt noch in Ordnung; jüngste Ereignisse dort zeichnen jedoch ein entschieden anderes Bild.

So fand am Sonntag, dem 22. Juli 2012, vor dem Passauer Dom - in dem währenddessen rund 100 Gläubige die Heilige Messe feierten - eine Demonstration mit rund 500 Teilnehmern statt, bei der der Bischof unmissverständlich zum Rücktritt aufgefordert wurde: "Herr Schraml, machen Sie eine Neuanfang, schnell und weit weg!"; Jugendliche warfen "wütend Ministrantenkutten vor die Tür des Bischöflichen Ordinariats".

Auslöser dieser Proteste war die Abberufung des bei seiner Gemeinde sehr beliebten Pfarrers von Ruhstorf, Andreas Artinger. – Nun ist es ja grundsätzlich schön und begrüßenswert, wenn eine Gemeinde solidarisch hinter ihrem Pfarrer steht, und wenn die Ruhstorfer so sehr an ihrem Pfarrer hängen, dass sie auf die Straße gehen, um lautstark für seinen Verbleib in der Gemeinde zu demonstrieren, dann wird man wohl unterstellen dürfen, dass Hochwürden Artinger in seiner Amtsführung als Gemeindepfarrer einiges gut und richtig gemacht hat. Dass er einiges aber auch falsch gemacht hat, liegt indes auf der Hand:

Im Zuge von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Passau gegen die ehemalige Leiterin des Kirchlichen Jugendbüros Ruhstorf wegen Veruntreuung von Kirchengeldern geriet Pfarrer Artinger als Mitschuldiger ins Visier der Ermittlungsbehörden: Da er die fingierten Rechnungen der Mitarbeiterin hatte gegenzeichnen müssen, wären deren Betrügereien ohne seine Duldung bzw. Mithilfe gar nicht möglich gewesen; die Folge war ein Strafbefehl wegen Beihilfe zur Untreue in 15 (!) Fällen. Nun mag es durchaus sein, dass der Pfarrer - der beteuert hat, sich in dieser Affäre nicht persönlich bereichert zu haben - seiner Mitarbeiterin gegenüber lediglich etwas zu vertrauensselig gewesen ist. Das ändert aber nichts daran, dass er mit dieser Missachtung seiner Verantwortung für die Finanzen seiner Pfarrgemeinde der Kirche erheblichen Schaden zugefügt hat - was als Grund für eine Entfernung Artingers von seinem Posten eigentlich schon hinreichend sein sollte. Zusätzliche Brisanz gewinnt der Fall allerdings dadurch, dass die besagte Mitarbeiterin laut eigener Aussage sieben Jahre lang Pfarrer Artingers Geliebte gewesen ist und davon fünf Jahre lang mit ihm zusammengelebt hat. Verbrechen aus Liebe also? Und schuld an allem ist letzten Endes wieder einmal der böse, böse Zölibat? -- Ehe wir Tränen der Rührung in die Augen bekommen, sei daran erinnert, dass wir hier nicht bei den Dornenvögeln sind, sondern es mit einem Betrugsfall zu tun haben. Auch wenn wir einmal ganz davon absehen, dass Pfarrer Artingers Verstoß gegen das Keuschheitsgelübde aus Sicht seiner Vorgesetzten eher als strafverschärfend angesehen werden dürfte: Die Tatsache, dass Haupttäterin und Mittäter dieser Veruntreuungsaffäre ein Pärchen waren, lässt dann wohl doch den Verdacht aufkommen, dass es sich eher um bewusste Komplizenschaft gehandelt hat als um bloße Fahrlässigkeit seitens des Pfarrers; und wenn die beiden in einer Art Gütergemeinschaft miteinander gelebt haben, relativieren sich auch Hochwürden Artingers Beteuerungen, er habe sich nicht persönlich bereichert.

Es dürfte so ziemlich außer Zweifel stehen, dass für jedes Unternehmen, jeden Verein oder Verband, jede öffentliche Einrichtung solche Verfehlungen eines Mitarbeiters Grund genug gewesen wären, diesen zu entlassen. Was also hätte Bischof Schraml anderes tun sollen, tun können? Man kann sich ausmalen, was für ein Geschrei in der Öffentlichkeit, sprich: den Medien erhoben worden wäre, hätte der Passauer Oberhirte dieses schwarze Schaf in seiner Herde ungeschoren lassen wollen. Der Aussage der Bistumsleitung, zur Suspendierung Pfarrer Artingers habe es schlicht und ergreifend keine Alternative gegeben, ist ohne Einschränkung zuzustimmen. Der Geist der öffentlichen Sympathie jedoch weht, wo er will – so erlangte ja auch die ehemalige Bischöfin der evangelischen Landeskirche Hannover, Margot Käßmann, den Zenit ihrer Popularität, nachdem sie einen Strafbefehl wegen Trunkenheit am Steuer kassiert hatte. Kleine Sünden, so scheint es, machen einen Geistlichen nur umso menschlicher; und wie groß eine solche „kleine Sünde“ gerade noch sein darf, das entscheidet die öffentliche Meinung von Fall zu Fall Pi mal Daumen.

Im Fall Artinger scheint aber noch mehr dahinter zu stecken. Unter den rebellierenden Katholiken im Bistum Passau hält sich hartnäckig die Theorie, die Veruntreuungsaffäre sei nur ein willkommener Vorwand gewesen, Pfarrer Artinger kaltzustellen; in Wirklichkeit sei er dem Bistum wegen seiner liberalen Ansichten ein Dorn im Auge gewesen.

Tatsächlich hatte Hochwürden Artinger mit seiner demonstrativen Unterstützung des "Aufrufs zum Ungehorsam" der österreichischen Pfarrerinitiative Aufsehen erregt. Doch damit ist er kein Einzelfall. Der österreichischen Pfarrerinitiative gehören rund 400 Geistliche an, und im Erzbistum Freiburg haben bereits mehrere Hundert Priester und Diakone die den Anliegen der Pfarrerinitiative nahe stehende Freiburger Erklärung unterzeichnet. Natürlich kann man die nicht alle aus ihren Ämtern entfernen; sie wären einfach nicht zu ersetzen, schon gar nicht in Zeiten grassierenden Priestermangels. Hat das Bistum Passau also die Ruhstorfer Veruntreuungsaffäre lediglich zum Anlass genommen, um an Pfarrer Artinger ein Exempel zu statuieren?

Es riecht ein wenig nach Verschwörungsdenken, wenn angesichts eines so offenkundigen Suspendierungsgrundes, wie ein 15facher Strafbefehl wegen Beihilfe zum Betrug es ist, noch nach verborgenen Motiven gesucht wird; aber nehmen wir einmal an, es wäre so gewesen. -- Nun stelle man sich einen Moment lang vor, ein Mitarbeiter irgendeines Unternehmens, Vereins, Verbandes, irgendeiner Organisation würde sich gegen die Unternehmenshierarchie auflehnen und nicht nur gegen dienstliche Vorschriften und gegen Wertvorstellungen verstoßen, die seine 'Firma' in der Öffentlichkeit vertritt und die zu ihrer corporate identity gehören, sondern würde sogar öffentlich erkläen, er lehne diese Vorschriften und Wertvorstellungen ab. Wäre das ein Kündigungsgrund? -- In der Tat; es würde sogar eine fristlose Kündigung rechtfertigen. In unserem Fall geht es aber nicht um irgendeinen Mitarbeiter irgendeiner Firma, sondern um einen geweihten Priester der katholischen Kirche, der bei seiner Weihe dem Bischof Gehorsam gelobt hat. Ein Akt des Ungehorsams bedeutet mithin den Bruch eines Gelübdes, ein Aufruf zum Ungehorsam geradezu einen schismatischen Akt, einen Angriff auf die Einheit der Kirche. Vor diesem Hintergrund gesehen belegt der Umstand, dass Maßregelungen rebellischer Priester insgesamt die Ausnahme sind, eindrucksvoll die außergewöhnliche Langmut und Toleranz der katholischen Kirche gegenüber internen Kritikern bzw. Abweichlern - auch wenn vielfach das Gegenteil behauptet wird: Man kann durchaus behaupten - und ein Bekannter von mir, der in einer katholischen Erwachsenenbildungs-Einrichtung tätig ist, hat mir das aus eigener Erfahrung ausdrücklich bestätigt -, dass kaum jemand so relativ gefahrlos gegen seinen eigenen Arbeitgeber opponieren kann wie Kirchenmitarbeiter.

Andererseits: Hat man eine Position inne, in der man auf ein gewisses Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit rechnen kann, dann lohnt sich das Rebellieren gegen die eigenen Leute immer. Zwar wird man vielleicht gefeuert, aber dafür kommt man in die Zeitung und wird in Talkshows eingeladen. Die Medien - und, so muss man demnach annehmen, auch die Medienkonsumenten - lieben den maverick, den unbeugsamen Nonkonformisten und Einzelkämpfer, der sich nicht scheut, anzuecken, auch und schon gar nicht in den eigenen Reihen. Ungehorsam wirkt sexy, so scheint es. Rebellion gegen Autoritäten erzeugt Sympathie, unabhängig davon, worum es inhaltlich geht. Man fragt sich, was das eigentlich über unsere Gesellschaft aussagt. Bei Teenagern wäre eine solche Einstellung - Rebellion aus Prinzip - verständlich, wahrscheinlich sogar eine notwendige Entwicklungsphase; wobei man schon aus Standardwerken wie dem James-Dean-Klassiker Denn sie wissen nicht, was sie tun (Rebel Without A Cause, 1955) lernen kann, dass sich hinter der pubertären Rebellen-Attitüde oft nur die Sehnsucht nach einer legitimen Autorität verbirgt: Mit ihren Provokationen wollen die Heranwachsenden letztlich nur die - leiblichen oder auch metaphorischen - Väter dazu treiben, ihrer Rolle gerecht zu werden. Gilt das auch für die ungehorsamen Priester in Österreich, Freiburg, Passau und anderswo? Sehnen auch die sich womöglich nur nach jemandem, der ihnen mal zünftig den Hosenboden versohlt?

Nun, ganz so simpel ist es wohl doch nicht. Selbstverständlich hat die Rebellion der österreichischen Pfarrerinitiative und ihrer deutschen Gesinnungsgenossen auch eine inhaltliche Seite, die man vielleicht nicht ganz vernächlässigen sollte. Schaut man sich die Forderungen der aufrührerischen Pfarrer an, entsteht allerdings der Eindruck, es handle sich in allererster Linie um eine Klage über die vom Priestermangel geprägten Arbeitsbedingungen: etwa darüber, dass der einzelne Pfarrer in Folge von  Schließungen bzw. Zusammenlegungen von Pfarreien mehrere Gemeinden nebeneinander betreuen oder "liturgische Gastspielreisen" in vakante Pfarreien unternehmen muss. Wo sich die Forderungen der Pfarrerinitiative mit denen von 'reformorientierten' Laieninitiativen und professionellen Kirchenkritikern aus dem Bereich der akademischen Theologie berühren - in Stichworten: Stärkung der Rolle von Laien in der Kirche, Zulassung von Frauen und Verheirateten zum Priesteramt -, da ist dies seitens der Pfarrerinitiative offenbar dadurch motiviert, dass man sich von solchen Maßnahmen eine Verringerung der Arbeitsbelastung erhofft. Ein einziger Punkt der Agenda von Pfarrerinitiative wie Freiburger Erklärung fällt in dieser Hinsicht aus dem Rahmen und hat vielleicht deshalb besonders große Breitenwirkung entfalten können: die Frage der Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion. Im "Aufruf zum Ungehorsam" heißt es: "Wir werden gutwilligen Gläubigen grundsätzlich die Eucharistie nicht verweigern. Das gilt besonders für Geschieden-Wiederverheiratete, für Mitglieder anderer christlicher Kirchen und fallweise auch für Ausgetretene." Klingt mutig, nicht? Dieser Eindruck relativiert sich allerdings erheblich, wenn man bedenkt, dass es gängige pastorale Praxis ist, niemandem die Kommunion zu verweigern, der um sie bittet; so hat es auch Papst Benedikt XVI. gehalten, als der zum zweiten Mal verheiratete Horst Seehofer bei ihm zur Kommunion ging - worüber es anschließend allerlei Diskussionen gab. Erst recht erregt es aber Aufsehen, wenn tatsächlich mal ein Priester jemandem die Kommunion verweigert. In der Praxis dürfte das schon allein deshalb selten vorkommen, weil ein Pfarrer ja nicht unbedingt alle, die bei ihm zur Kommunion gehen, so genau kennt, dass er weiß, wer theoretisch von der Kommunion auszuschließen wäre. Der Erklärung der Pfarrerinitiative haftet somit etwas unverkennbar Populistisches an, und sie wird weder den erheblichen theologischen und kirchenrechtlichen Komplikationen der Frage gerecht, unter welchen Bedingungen ein Pfarrer jemandem die Kommunion verweigern kann oder muss, noch auch der Tatsache, dass der Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen auf allen Ebenen der kirchlichen Hierarchie intensiv diskutiert wird: Erzbischof Zollitsch sprach das Thema im Vorfeld des letztjährigen Papstebesuchs in Deutschland - mit Blick auf den damaligen Bundespräsidenten Wulff - an; der Papst selbst thematisierte es anlässlich des internationalen Familientreffens in Mailand; auch die Kardinäle Marx und Woelki mahnten einen offeneren Umgang der Kirche mit wiederverheirateten Geschiedenen an. Das Thema steht also unübersehbar auf der Agenda - aber den rebellischen Priestern genügt das nicht: Mit ihrem "Aufruf zum Ungehorsam" dokumentieren sie, dass sie den - wie sie es sehen - 'Reformstau' in der Kirche satt haben, dass sie nicht mehr auf eine Lösung dieser und anderer Fragen und Probleme 'von oben', 'von Rom aus' warten, sondern selbst Tatsachen schaffen wollen. Anders ausgedrückt, sie dokumentieren damit die Überzeugung, dass sie besser wüssten, welchen Kurs die Kirche zu steuern habe, als Papst, Kurie und Bischöfe zusammen. Man müsste diesen Grad an Vermessenheit verblüffend nennen, wäre man dergleichen nicht bereits von einigen Laieninitiativen gewöhnt - die sich beispielsweise Wir sind Kirche nennen, worin ja nur allzu deutlich mitschwingt: "und ihr nicht."

Dass sich im Fall Artinger der Protest von Gemeindemitgliedern gegen die Amtsenthebung eines straffällig gewordenen Priesters mit allgemeinen Forderungen nach 'Modernisierung' der Kirche verbindet, dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, dass dieser Fall auch über die Grenzen der kleinen niederbayerischen Gemeinde Ruhstorf hinaus auf Interesse stößt; so waren auf der oben erwähnten Demonstration Transparente zu sehen, auf denen beispielsweise die Zulassung von Frauen zum Priesteramt gefordert wurde, und ein Schüler hatte auf sein Plakat geschrieben, die Kirche brauche dringend ein 'Update'. Diese Beobachtungen ändern jedoch nichts daran, dass es den Ruhstorfern selbst offenbar tatsächlich in allererster Linie um die Person 'ihres' Pfarrers Andreas Artinger geht. An der Auffassung, dieser sei dem Bischof gerade wegen seiner Beliebtheit ein Dorn im Auge gewesen, mag durchaus etwas Wahres sein - womit durchaus nicht gesagt sein soll, dass der Passauer Oberhirte von Missgunst oder Neid auf Artingers Popularität getrieben gewesen wäre. Tatsächlich stellt der Fall Artinger ein illustratives Beispiel dafür dar, dass allzu große Beliebtheit eines Pfarrers bei seiner Gemeinde auch ihre prolematischen Aspekte haben kann. Bezeichnend hierfür ist ein auf der Passauer Demonstration gezeigtes Plakat mit der Aufschrift "Andreas ist der Weinstock für uns Reben, ohne ihn dürren wir aus" - eine unverkennbare Anspielung auf Joh 15,5, wo allerdings Jesus Christus von sich selbst sagt: "Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen". Dass die Ruhstorfer nun ihren abgesetzten Pfarrer mit dem Heiland verwechseln und ihn zu demjenigen erklären, ohne den sie "nichts vollbrigen" können, grenzt nicht nur an Blasphemie, es überschreitet diese Grenze bereits. In Ruhstorf selbst wurde ein vier mal vier Meter großes Transparent aufgestellt, dessen Inschrift in dieselbe Richtung weist: "Wir beten für alle Schramls dieser Welt: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (vgl. Lk 23,34).

Dafür, dass Hochwürden Artinger sich in der ihm von den Ruhstorfern zugewiesenen messianischen Rolle recht wohl fühlte, spricht u.a. der Umstand, dass er am 24.96.12 eine Heilige Messe dazu nutzte, vor rund 800 Gemeindemitgliedern zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen und zu seiner persönlichen Zukunft Stellung zu nehmen. "Genau genommen handelte es sich [...] um keinen Gottesdienst, sondern um eine Demonstration für einen Mann, der weder selbst gehen will, noch möchte seine Gemeinde ihn ziehen lassen."-- Als Margarethe Schreinemakers am 22.08.1996 ihre Sendung Schreinemakers live dazu nutzen wollte, zu dem gegen sie erhobenen Vorwurf der Steuerhinterziehung Stellung zu nehmen, wurde ihr dies seitens des Senders untersagt, und als sie sich anschickte, dieses Verbot zu missachten, brach Sat1 die Live-Übertragung der Sendung ab. Dergleichen war in der Ruhstorfer Pfarrkirche natürlich schwer möglich, aber dennoch, und so sehr sich die Aufgaben eines Priesters auch von denen eines TV-Moderators unterscheiden, ist der Vergleich erhellend. Sat1 hatte begriffen, was für die Kirche erst recht gelten sollte: Wer das Wort seines Herrn zu verkünden hat, der soll nicht seine eigene Person in den Vordergrund stellen. An jenem 24. Juni machte Pfarrer Artinger sich selbst zu seiner eigenen Botschaft, inszenierte die Heilige Messe zu seiner ganz persönlichen Passion, und die Gemeinde reagierte entsprechend: Auf die Ankündigung des Pfarrers hin, er gebe sein Amt mit Wirkung zum 1. September auf, um einem Amtsenthebungsverfahren zuvor zu kommen, trat der Ruhstorfer Kirchenvorstand geschlossen zurück.

Wie es im Blog Klosterneuburger Marginalien treffend auf den Punkt gebracht wurde, stellt dieses Verhalten der Ruhstorfer geradezu ein Paradebeispiel für solche vermeintlich 'kritischen' und 'aufgeklärten' Katholiken dar, die nicht etwa "keinen Hirten haben möchten, sondern [...] sich ihren Hirten entweder selber backen möchten oder - wenn er ihnen gestellt wird - ihn wenigstens so zurechtschrauben wollen, daß er IHNEN immer gibt, was SIE wollen". Wenn ein einfacher und - auch wenn das zynisch klingen mag - in Hinblick auf seine Funktion in der Kirche prinzipiell austauschbarer Gemeindepfarrer in seiner Gemeinde so sehr verehrt wird, dass die Person dieses Pfarrers den Gemeindemitgliedern letztlich wichtiger ist als die ganze Kirche, dann liegt die Gefahr des Schismas und der Sektenbildung offen zu Tage; denn eine solche Verehrung lässt den Priester nur allzu leicht vergessen, dass er sein Amt nicht aus eigener Machtvollkommenheit, sondern allein aufgrund der ihm von der Kirche im Namen Jesu Christi übertragenen Autorität ausübt. Und dies allein wäre schon Grund genug, den betreffenden Pfarrer aus seiner Gemeinde abzuberufen - auch zu seinem eigenen Besten.

Mittwoch, 25. Juli 2012

The Rabbit Diaries, Pt. I


Für die nächsten zwei Wochen habe ich eine neue Lebensaufgabe, oder sagen wir: Teil-Lebensaufgabe. Ich habe einer Freundin (nennen wir sie mal Kati) versprochen, mich um ihre Kaninchen zu kümmern, während sie im Urlaub ist. Es handelt sich dabei um zwei Zwergkaninchen – auch wenn ich mir unter dieser Bezeichnung etwas wesentlich Kleineres vorgestellt hätte – namens Flocke und König Friedrich. Flocke ist eine alte Dame, weiß mit vereinzelten schwarzen Flecken; sie strahlt eine stoische Ruhe aus und scheint keine anderen Leidenschaften als Fressen und Schlafen zu haben.


König Friedrich ist hellbraun und schlappohrig und gemessen an seiner Pummeligkeit ziemlich beweglich, allerdings sehr menschenscheu. Er kommt aus einem Tierheim, und man weiß nicht so genau, was er früher so alles hat durchmachen müssen. Jedenfalls versteckt er sich gern unter dem Bett oder dem Sofa. Kati sagt, es sei ziemlich aussichtslos, ihn per Hand einfangen zu wollen; mehr Erfolg verspreche es, ihn mit einer Schale Trockenfutter anzulocken.


-- Dass ich mich, als Kati für die Dauer ihres Urlaubs einen „Kaninchensitter“ suchte, freiwillig meldete, war zunächst einmal dadurch motiviert, dass ich ihr gern einen Gefallen tun bzw. eine Sorge abnehmen wollte. Schließlich ist sie eine sehr gute Freundin, auf die ich mich immer verlassen kann, also fand ich, dies sei eine willkommene Gelegenheit, auch einmal etwas für sie zu tun. Ihre erste Reaktion auf mein Anerbieten ließ mir allerdings ein wenig die Luft raus: "Bist du dir sicher? Überleg' dir das bitte gut!"

Vermutlich meinte sie es nur gut, nicht nur mit ihren Kaninchen, sondern auch mit mir. Aber sie erwischte mich da an einem empfindlichen Punkt: Ich meinte da gewisse Zweifel an meiner Eignung zum Kaninchensitter herauszuhören, an meiner Verlässlichkeit, meiner Fürsorglichkeit. Das spornte mich letztlich aber nur umso mehr an. Ich bin ein erwachsener Mann, sagte ich mir; ich bin sehr wohl in der Lage, Verantwortung für mich und andere zu übernehmen, und ich werde es beweisen!

-- Gleichzeitig gab diese trotzige Empfindlichkeit, die mich da so plötzlich überkam, mir aber auch zu denken. Denn es liegt ja auf der Hand, dass es mit Eigenschaften oder Fähigkeiten, die man sich selbst und anderen beweisen zu müssen glaubt, meist nicht zum Besten steht.

Ich beschloss also, die mir von Kati verordnete Bedenkzeit gut zu nutzen, und suchte erst einmal – wie ich es oft tue – Rat in einem Buch. In diesem Fall handelte es sich um das Tagebuch eines frommen Chaoten von Adrian Plass (deutsch von Andreas Ebert, 6. Aufl. Moers 1993). Der Erzähler, der – wohl um dem Buch den Anschein von Authentizität zu geben – denselben Namen wie der Autor trägt, ist Mitglied einer nicht näher spezifizierten evangelikalen Freikirche und schildert in hinreißend komischem Stil seine Bemühungen, ein guter Christ zu sein und gleichzeitig die alltäglichen Herausforderungen des modernen Lebens zu meistern. Und wie ich mich von früherer Lektüre her erinnere, enthält dieses Buch eine Episode, die mit der mir blühenden Situation bemerkenswerte Ähnlichkeit hat:

Frau und Sohn des Erzählers verreisen für ein paar Tage, um Bekannte zu besuchen; der Erzähler selbst kann nicht mit, da er arbeiten muss. Zum Abschied schärft seine Frau ihm ein:

"Was du auch sonst machst – vergiß nicht, das Kaninchen zu füttern, und wenn du vielleicht einen Blick auf die Waschmaschine werfen könntest – das wird immer schlimmer. Hauptsache ist aber das Kaninchen. Du wirst Brenda nicht vergessen, ja?"

Indigniert kommentiert der Erzähler:

"Wirklich – als wäre ich ein Vollidiot! Ich mag mich ja sonst nicht viel um Brenda, unsere Kaninchendame, kümmern (gewöhnlich füttert Anne sie), aber ich werde kaum vergessen, ihr was zu fressen zu geben." (S. 135)

Aber es kommt, wie es kommen muss: Der Tagebucheintrag vom nächsten Tag beginnt mit den Worten "Habe gestern glatt vergessen, das Kaninchen zu füttern" (ebd.). Infolgedessen ist Brenda über Nacht aus dem Stall ausgebüxt und in den Garten der Nachbarin, Miss Seed, geflüchtet, wo sie sich an deren kostbaren Pflanzen gütlich getan hat. Es folgen zerknirschte Entschuldigungen an die Adresse der Nachbarin und von Tag zu Tag intensivierte Bemühungen, den Kaninchenstall ausbruchssicher zu machen; aber Brenda, die wie "ihr eigenes Ein-Karnickel-Flucht-Komitee" (S. 137) hinter dem Maschendraht brütet, gelingt wieder und wieder die Flucht, "in welchem Super-Kaninchen-Kostüm auch immer, das sie sich überwirft, wenn keiner guckt" (S. 138). Wieder und wieder muss der Erzähler zunehmend groteske Anstrengungen unternehmen, Brenda wieder einzufangen:

"Kroch unter der Hecke am Ende unseres Gartens entlang, klapperte mit dem Futter im Freßnapf und zischte: 'Komm zurück, Brenda! Ich habe Herrschaft über dich!'
Brenda muß die betreffende Bibelstelle unbekannt sein." (S. 136)

Obendrein muss der geplagte Erzähler auch immer wieder die Nachbarin besänftigen, die über die regelmäßigen Fressattacken auf ihren mit großem Stolz gepflegten Garten begreiflicherweise wenig erbaut ist.

" 'Ich nagle den Stall an die Mauer', versprach ich wildentschlossen.
'Weshalb nageln Sie nicht lieber das Kaninchen an die Mauer?', schlug Miss Seed sauertöpfisch vor."(S. 138)

Nun ja: "Das Ganze schließt freudig", wie Carl Maria von Weber einst seiner Verlobten über die Handlung seiner Oper Der Freischütz mitzuteilen wusste. Der Kaninchenstall wird endlich ausbruchssicher gemacht, man freundet sich mit der Nachbarin an, und auch als der heimgekehrte Teenager-Sohn des Erzählers sich den Scherz erlaubt, zu behaupten, er habe Brenda "auf 'ne kleine Hoppelrunde raus gelassen", (S. 139), kann der Vater gerade noch davon abgehalten werden, seinem Filius den Hals umzudrehen.

Dennoch: Bedenken blieben, nachdem ich dies gelesen hatte. Ich fragte mich: Was, wenn den Kaninchen etwas zustößt, ausgerechnet während ich die Verantwortung für sie habe? Gerade Flocke, die schon so alt und gebrechlich ist? Wenn irgendetwas Schlimmes passiert – werde ich mir das jemals verzeihen? -- Wird Kati mir das jemals verzeihen? -- Mitten in solche Überlegungen hinein erhielt ich eine elektronische Nachricht von Kati. Beruhigend teilte sie mir mit, so furchtbar viel Arbeit würde ich mit den lieben Tierchen gar nicht haben: Es genüge, ihnen einmal am Tag Futter zu geben, sie jeden Tag ein Weilchen in der Wohnung herumhoppeln zu lassen – unter Aufsicht, damit sie keine Kabel anknabbern oder sonstigen Unfug anstellen – und alle paar Tage mal den Laufstall auszumisten. Obendrein bräuchte ich mich auch nur zwei statt wie ursprünglich geplant vier Wochen um die Kaninchen zu kümmern, da sich danach eine Freundin, quasi zur Zwischenmiete, in der Wohnung einquartieren und somit auch das 'Kaninchensitting' übernehmen werde. Ich schlief noch eine Nacht über die Angelegenheit, dann sagte ich zu.

Und nun sitze ich in Katis Küche und blogge, während sie auf dem Weg nach Frankreich ist; schaue aber alle paar Minuten mal rüber zu den Kaninchen -- habe den Käfig vor einer guten Stunde aufgemacht, damit sie ein bisschen Auslauf bekommen, aber so richtig trauen sie sich nicht raus. Haben womöglich Angst vor mir. Großer, fremder, Furcht erregender Mann in der Wohnung, da ist man als Kaninchen lieber vorsichtig. Na ja -- in einer halben Stunde kriegen sie frische Möhren und aus dem Abfall bei Lidl geklaubte Kohlrabiblätter. Dann avanciere ich in den Augen der Kaninchen hoffentlich zum Großen, fremden Mann, der uns füttert.

Ich glaube, es gefällt mir, Verantwortung für kleine Mitgeschöpfe zu übernehmen. Ob es ihnen auch gefällt, wird sich noch zeigen müssen, aber ich denke, wir werden uns schon miteinander arrangieren. Und für einen Anfänger wie mich sind zwei alles in allem doch eher behäbige Zwergkaninchen sicherlich leichter zu handhaben als ein junger Hund -- oder gar ein Kind...

(Fortsetzung folgt!)

Samstag, 21. Juli 2012

Die Vorhaut der Anderen

In den letzten Tagen und Wochen ist viel über Beschneidung gestritten worden - bei Twitter, bei Anne Will, im Bundestag und sogar auch im wirklichen Leben. Nachdem sämtliche Argumente für und gegen ein Verbot der religiös begründeten Vorhautbeschneidung männlicher Kleinkinder gründlich durchdiskutiert wurden, könnte man denken, es sei Zeit, die Debatte zu beenden. Aber wie es in solchen Fällen nicht selten zu gehen scheint, ist das Gegenteil der Fall: Die Debatte geht erst richtig los. Wenn alle Argumente ausgetauscht sind, schlägt die Stunde der Polemik. Dann können sich endlich auch die an der Debatte beteiligen, die keine Argumente haben und für Argumente Anderer nicht zugänglich sind.

In diesem Stadium öffentlicher Auseinandersetzungen wird gern vergessen, was eigentlich ihre Ursache oder ihr Anlass war. Darum noch einmal zur Erinnerung: Die aktuelle Beschneidungsdebatte wurde ausgelöst durch ein Urteil des Landgerichts Köln, in dem die Beschneidung eines muslimischen Jungen als rechtswidrige Körperverletzung beurteilt wurde. Es handelte sich wohlgemerkt um eine Einzelfallentscheidung, nicht um ein Grundsatzurteil; dennoch lag der Gedanke nicht fern, das Urteil könne Schule machen und zu einem generellen Beschneidungsverbot in Deutschland führen. Juden und Muslime, für die die Beschneidung von Knaben einen wesentlichen Bestandteil ihrer religiösen Praxis und religiösen Identität darstellt, reagierten begreiflicherweise beunruhigt bis empört; auf der anderen Seite meldeten sich nun viele zu Wort, die das Kölner Urteil begrüßten und forderten, das archaische Ritual der Beschneidung gehöre ein für allemal abgeschafft.

Wie eingangs bereits festegestellt, liegen sämtliche Pro- und Contra-Argumente in dieser Frage längst auf dem Tisch, und ich will sie hier nicht noch einmal wiederholen; ich begnüge mich daher damit, auf einige Kommentare zu verweisen, die den Sachverhalt für mein Empfinden sehr sachgerecht, ausgewogen und umfassend darstellen und beurteilen: die Kommentare von

- Matthias Drobinski in qantara.de (27.06.12)
- Hans Michael Heinig in verfassungsblog.de (27.06.12)
-Jörg Lau in Zeit Online (13.07.12)
und
- Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung (16.07.12).

Kritiker mögen hier die Frage aufwerfen, inwieweit es denn "ausgewogen" sein solle, wenn ich hier nur solche Kommentare verlinke, die sich gegen ein Beschneidungsverbot aussprechen; ich empfehle dennoch, sie einfach mal zu lesen und sich dann die Frage zu stellen, was von den so genannten Argumenten für ein Beschneidungsverbot dann noch übrig bleibt.

Ich gebe zu: Persönlich bin ich ganz froh darüber, einer Religionsgemeinschaft anzugehören, in der Knaben nicht beschnitten werden. Andererseits: Wäre ich in eine jüdische Familie hineingeboren worden und somit acht Tage nach meiner Geburt beschnitten worden, wüsste ich nicht, wie es sich anfühlt, eine Vorhaut zu haben, und würde folglich nichts vermissen. Jetzt im Erwachsenenalter würde ich mich nicht mehr von meiner Vorhaut trennen mögen - tatsächlich bin ich mal an einen Arzt geraten, der mir lang und breit die gesundheitlichen Vorzüge einer Vorhautbeschneidung anpries, aber ich habe mich dennoch nicht dazu verstehen können, diesem ärztlichen Rat zu folgen. Doch darum geht es letztlich nicht.

Ein für mich sehr bezeichnender Aspekt der aktuellen Debatte ist dieser: Dass im Judentum und im Islam die Vorhautbeschneidung bei männlichen Kleinkindern eine Jahrhunderte alte religiöse Praxis ist, hätte man mit einem Mindestmaß an Allgemeinbildung auch schon vor dem Kölner Urteil wissen können. Ich kann mich jedoch nicht daran erinnern, dass jemand diese Praxis kritisiert hätte, geschweige denn, dass es darum eine solche Aufregung gegeben hätte wie jetzt. Auf einmal ist allerorten von "Verstümmelung" und "religiösem Wahn" die Rede. Für mich ist das ein klares Indiz dafür, dass es dem Großteil der Beschneidungskritiker um etwas ganz anderes geht als darum, kleinen jüdischen und muslimischen Jungen die Vorhaut zu erhalten. Vielmehr sieht es ganz danach aus, dass interessierte Kreise das Kölner Urteil als Steilvorlage nutzen, um gegen die Religionsfreiheit zu Felde zu ziehen. Unmissverständlich deutlich wird dies beim Betrachten einer Karikatur von Jacques Tilly, die die fanatisch antireligiöse Giordano-Bruno-Stiftung im Internet verbreitet - einer Karikatur, die nicht ohne Grund einige Kommentatoren an den Stil des NS-Hetzblatts Der Stürmer erinnerte; man sollte vielleicht wirklich mal prüfen, ob sie den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt. -- Zu sehen sind ein Mullah und ein Rabbiner, die, in der ursprünglichen Fassung des Bildes blutige Messer, in einer abgemilderten Version dann Nagelscheren reckend, vor dem Plenum des Deutschen Bundestages für das "Recht auf Beschneidung kleiner Jungs" demonstrieren, und die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen verneigen sich in islamischer Gebetshaltung vor ihnen. In der Mitte zwischen Mullah und Rabbi steht ein katholischer Bischof in vollem Ornat, der zwar kein Messer bzw. keine Schere trägt - in den christlichen Kirchen wird schließlich nicht beschnitten -, dafür aber das Transparent mit der oben zitierten Forderung tragen hilft. Die Karikatur appelliert somit nicht nur an antijudaistische und antiislamische Ressentiments der krudesten Art, sondern stellt - wie die Giordano-Bruno-Stiftung und ähnlich gesinnte Gruppierungen es ja auch sonst bei kaum einer Gelegenheit zu tun versäumen - das Christentum, pars pro toto vertreten durch die katholische Kirche, gleich mit an den Pranger. Das kann als Reaktion auf die klare Positionierung von Vertretern der Kirche(n) in der Beschneidungsfrage verstanden werden, dokumentiert aber zugleich, dass gläubige Christen allen Grund haben, sich solidarisch mit ihren jüdischen und muslimischen Mitbürgern zu zeigen. Auch wenn man meinen könnte, christliche Religionsausübung würde durch ein mögliches Beschneidungsverbot gar nicht berührt.

Einmal davon abgesehen, dass das Thema Vorhautbeschneidung ohne Zweifel mehr "unter die Haut geht" als andere Fragen der Religionsausübung und bei manch einem vielleicht geheime Kastrationsängste wachruft (vgl. dazu einen Kommentar aus der SZ vom 11.07.12), fügt sich die Kampagne atheistischer bzw. laizistischer Interessenguppen für ein Verbot der Beschneidung stimmig in das allgemeine Bild einer sich zunehmend rabiat gebärdenden öffentlichen Religionsfeindlichkeit ein - markiert aber gleichzeitig einen qualitativen Sprung: Während Forderungen nach der Verbannung religiöser Symbole aus öffentlichen Gebäuden, nach Abschaffung des konfessionellen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen usw. sich auf das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche berufen und religiöse Äußerungen möglichst weitgehend aus dem öffentlichen Raum verbannen möchten, Religion als "Privatangelegenheit" aber gerade noch zu dulden bereit sind, zeigt die Beschneidungsdebatte, dass das grundgesetzlich garantierte Recht auf ungestörte Religionsausübung nicht einmal mehr im privaten Raum der Familie unangefochten ist. Dass zum elterlichen Sorgerecht auch das Recht zur religiösen Unterweisung der Kinder gehört, wird tendenziell in Abrede gestellt - unter Verweis auf die Religionsmündigkeit, die nach deutschem Recht mit dem vollendeten 14. Lebensjahr erreicht wird. Bis zu diesem Zeitpunkt, so wird argumentiert, sollten die Kinder von religiöser Indoktrination verschont bleiben. -- Diese Auffassung verkennt nicht nur, dass es schlechterdings gar nicht möglich (geschweige denn sinnvoll) ist, ein Kind "weltanschaulich neutral" zu erziehen; sie verrät auch die generelle Unfähigkeit der so Argumentierenden, im Eingebundensein in eine religiöse Gemeinschaft irgend etwas Positives zu sehen. Religionsgemeinschaften erscheinen aus dieser Perspektive als reine Zwangsanstalten, als Instrumente der Unterdrückung, der Einengung von Individualität; wer sich dem freiwillig unterwirft, erntet ein im wahrsten Sinne des Wortes ungläubiges Kopfschütteln, aber man lässt ihn gewähren, er will es schließlich so.

In diesem Sinne wird auch verschiedentlich argumentiert, wenn Judentum und Islam partout am Ritus der Beschneidung festhalten wollten, dann sollten sie diesen Akt wenigstens auf ein lebensalter verschieben, in dem der junge Jude oder Muslim selbst entscheiden kann, ob er das mit sich machen lassen will. Wenn, wie man dieser Tage immer häufiger liest, die Vorhautbeschneidung eine "Verstümmelung" ist, dann bleibt sie das zwar auch, wenn sie an einem Jugendlichen oder Erwachsenen durchgeführt wird; aber wenn der es selbst so will, was soll man dagegen sagen? Das Recht auf Selbstverstümmelung ist dem modernen Menschen heilig, sei es in Form von Piercing, Tattoos, Schönheitsoperationen oder gar Amputationen zur Befriedigung spezieller sexueller Neigungen. Auch Selbstmord wird weithin als ethisch legitim angesehen. Mit sich selbst, so scheint es, kann und darf ein mündiger Mensch so ziemlich alles machen; da waltet ein radikaler Individualismus, der davon ausgeht, der Mensch sei nur und allein sich selbst verantwortlich. Den abrahamitischen Religionen ist diese Auffassung allerdings vom Ansatz her fremd, und auch darüber hinaus mag die Frage berechtigt sein, wie man auf einem solchen schrankenlosen Individualismus ein solidarisches Gemeinwesen aufbauen können sollte. Das wäre vielleicht mal ein spannendes Thema für den "weltanschaulich neutralen" Ethikunterricht, der in Berlin Pflichtfach auch für konfessionell gebundene Schüler ist. Aber ich schweife ab.

Um zum Schluss zu kommen: Letzlich drehen sich alle Pro- und Contra-Argumente in der Beschneidungsdebatte um die Frage, ob die Unversehrtheit der männlichen Vorhaut ein höheres Gut ist als die Einbindung in eine religiöse Gemeinschaft. Genau dies ist aber eine Glaubensfrage und kann darum nicht vor Gericht entschieden werden. Fairnesshalber sei einmal davon ausgegangen, dass unter den Beschneidungsgegnern auch solche sind, denen es nicht um einen Generalangriff auf die Religionsfreiheit zu tun ist, sondern wirklich allein um das Wohl der betroffenen Kinder. Diese, sagen wir einmal, gemäßigten Beschneidungskritiker dürften an dieser Stelle die Frage aufwerfen, ob es denn wirklich notwendig sei, die Einbindung in die religiösen Gemeinschaften von Judentum und Islam von einem irreversiblen operativen Eingriff abhängig zu machen. Die Frage ist berechtigt, aber eine Antwort darauf müssen die betreffenden Religionsgemeinschaften für sich selbst finden, sie kann ihnen nicht von außen diktiert werden.

Der deutsche Bundestag hat sich in einer Resolution mit großer Mehrheit für die Straffreiheit religiös begründeter Beschneidungen ausgesprochen; nach der Sommerpause soll ein entsprechendes Gesetz verabschiedet werden. Es ist schon jetzt absehbar, dass gegen dieses Gesetz, wenn es denn kommt, geklagt werden wird; die letztgültige Entscheidung dürfte also wieder einmal in Karlsruhe fallen. Dass ein höchstrichterlicher Spruch die durch das Urteil einer untergeordneten Instanz losgetretene Debatte tatsächlich beenden könnte, steht jedoch zu bezweifeln.