Donnerstag, der 22. September 2011. Das heute-journal im ZDF zeigt einen Beitrag von der Protestdemonstration gegen den Papstbesuch in Berlin. Eine junge Frau, vielleicht zwanzig Jahre alt, wird interviewt; in Tonfall und Mimik irgendwo zwischen Lachen und Weinen, zuweilen leicht stockend, nach den richtigen Worten suchend, erklärt sie: „Ich denke, dass der Papst ein Vorbild für sehr viele Menschen ist. Und wenn so jemand solche Hasspredigten verbreitet, diskriminierende Worte spricht – das finde ich ganz schlimm.“
Die emotionale Betroffenheit, die aus diesen Worten spricht, ist ohne Zweifel echt; aber ich frage mich: Wann hätte Papst Benedikt XVI. jemals Hass gepredigt oder sich mit diskriminierenden Äußerungen hervorgetan? Wie kommt diese sympathische junge Frau auf so etwas? – Fast zeitgleich zu dieser Demonstration hält der Papst eine Rede vor dem Deutschen Bundestag. Manch einer wird diese Rede als allzu akademisch und professoral empfinden, aber ohne Zweifel enthält sie eine Reihe sehr beachtenswerter Gedanken zum Verhältnis zwischen Macht und Recht sowie zum Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Schade, dass rund 100 Parlamentarier diese Rede nicht miterleben, da sie es vorgezogen haben, dem Auftritt des Papstes im Bundestag aus Protest fern zu bleiben. Einige von ihnen gehen stattdessen zu der Demonstration, zusammen mit idealistischen jungen Menschen, die buchstäblich nichts über diesen Papst wissen, außer dass er Papst ist – was ihnen aber offenbar schon genügt, um ihn abzulehnen – und die sich im Namen von Aufgeklärtheit und Toleranz vor den Karren wirklicher Hassprediger spannen lassen. Solchen wie Michael Schmidt-Salomon, der zu den Initiatoren der Demonstration und zu den Hauptrednern bei der Kundgebung gehört. Schmidt-Salomon, Vorstandssprecher der atheistischen Giordano Bruno Stiftung, bezeichnet sich als Philosoph, was insoweit korrekt ist, als er dieses Fach studiert hat; aber bei einem originellen oder tiefsinnigen Gedanken habe ich ihn noch nie ertappt. Stattdessen sieht man ihn zuweilen in Talkshows, wo er jeden, der es wagt, anderer Meinung zu sein als er, entweder beschimpft oder sich über ihn lustig macht. Interessant, dass jemand wie er anderen Intoleranz vorwirft und damit ernst genommen wird.
Wie das demonstrative Fernbleiben rund 100 Abgeordneter von der Papstrede im Bundestag zeigt, fällt es auch manch einem gestandenen Politiker offenbar leichter, den Papst zu schmähen, wenn sie das, was er zu sagen hat, gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. Aber auch von denen, die die Rede gehört oder hinterher nachgelesen haben, haben viele etwas zu kritisieren. Nicht an dem, was Benedikt XVI. vor dem Parlament gesagt hat – dafür findet selbst der SPIEGEL anerkennende Worte. Die Kritik entzündet sich vielmehr an dem, was er nicht gesagt hat – also daran, dass er nicht das gesagt hat, was er nach Meinung seiner Kritiker hätte sagen sollen. Er hätte zum Missbrauchsskandal Stellung nehmen sollen, zum Reformbedarf innerhalb der katholischen Kirche, zur Ökumene… Liest man diesen Forderungskatalog in voller Länge, dann entsteht der Eindruck, manch ein Papstkritiker hätte erwartet, dass Benedikt seinen Auftritt vor dem Bundestag für eine Art Regierungserklärung nutzt – was allerdings schon deshalb keine realistische Erwartung ist, weil ein Papst, selbst ein deutscher, dem Deutschen Bundestag keine Rechenschaft über seine Amtsführung schuldig ist. Zur Rechenschaft ziehen wollen ihn aber viele, allen voran der erwähnte Schmidt-Salomon, der auf der Kundgebung der Anti-Papst-Demonstration verkündet, der Papst gehöre „nicht in den Bundestag, sondern vor Gericht“.
Die Speerspitze der Papstgegner ist also, wie diese Äußerung zeigt, weit darüber hinaus, irgendwelche positiven Erwartungen an den Besuch des Kirchenoberhaupts zu knüpfen. Das ist immerhin eine konsequentere Haltung als die derjenigen Papst- und Kirchenkritiker aus Politik und Gesellschaft, die sich „enttäuscht“ darüber äußern, dass der Papst sich nicht ihren Vorstellungen gemäß verhält. Dass diese Enttäuschung zu einem großen Teil aus einer von vornherein unrealistischen und einer Apostolischen Reise des Papstes nicht angemessenen Erwartungshaltung resultiert, betont u.a. der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), ein engagierter, dabei durchaus kritischer Katholik. Solche Einsichten – die Kretschmann mehrfach unerschrocken vor Fernsehjournalisten wiederholt, die nur zu gern ein bisschen Papstschelte von ihm hören wollen – hindern die unentwegten Missvergnügten, und mit ihnen einen großen Teil der Medien, jedoch nicht daran, diese Erwartungshaltung während des viertägigen Deutschland-Aufenthalts des Papstes wieder und wieder zu bekräftigen und schließlich den „Erfolg“ des Papstbesuchs daran zu messen. Noch während Benedikt XVI. sich am Abend des 25.09. zum Rückflug nach Rom rüstet, bilanziert im Bericht aus Berlin spezial der SPIEGEL-Autor Peter Wensierski, was die Reise des Papstes in sein Heimatland „gebracht“ habe: Enttäuschungen, verpasste Chancen, Stillstand. Auf der Habenseite allenfalls ein paar „stimmungsvolle Bilder“. Die Krise der katholischen Kirche sei so aber nicht zu überwinden. Kaum auszudenken, was hätte passieren müssen, damit ein Journalist vom SPIEGEL zu einem anderen Fazit käme…
Aber schalten wir noch einmal zwei Tage zurück: In seiner Predigt bei einem ökumenischen Gottesdienst mit Vertretern der evangelischen Kirche in Erfurt nimmt Papst Benedikt XVI. Bezug auf Erwartungen, er würde zu dieser Veranstaltung ein „ökumenisches Gastgeschenk“ mitbringen, und bezeichnet diese Erwartungen als „politisches Missverständnis des Glaubens“. Das ist eine durchaus profunde Aussage. Dass große Teile der deutschen Öffentlichkeit den Papst in erster Linie als einen Politiker wahrnehmen und beurteilen, liegt auf der Hand; und ganz unberechtigt ist das auch nicht, denn selbstverständlich hat das Papstamt auch seine politischen Aspekte. Dennoch kann es nicht deutlich genug betont werden, dass das Selbstverständnis des Papstes, der Maßstab und die Richtschnur seines Handelns letztlich nicht politisch, sondern religiös bestimmt sind; nicht ausgerichtet an Meinungsumfragen, Mehrheitsverhältnissen und Machbarkeitserwägungen, sondern an GOTT. Bei rechtem Hinsehen bzw. –hören kann man Klarstellungen zu diesem Punkt geradezu als roten Faden der diversen Ansprachen und Predigten Benedikts XVI. in diesen Tagen ausmachen. Als Oberhaupt der katholischen Kirche sieht der Papst sich der katholischen Glaubenslehre mit ihrer fast zwei volle Jahrtausende umfassenden Tradition verpflichtet; ohne diesen Hintergrund müsste es in der Tat unverständlich bleiben, ja geradezu verbohrt wirken, wie wenig er seinen Kritikern entgegenzukommen bereit ist.
Nun kann man natürlich nicht verlangen, dass jeder, der am Papst und der Kirche etwas zu kritisieren hat, erst einmal katholische Theologie und Kirchengeschichte studieren soll, ehe er sich zu Wort meldet. In einer Demokratie, die das Recht auf freie Meinungsäußerung garantiert, versteht es sich von selbst, dass jeder, der in der Öffentlichkeit steht, auch öffentlicher Kritik ausgesetzt ist, und das Recht zur Kritik steht jedem zu, unabhängig von seinem Sachverstand. Dennoch wäre es für eine wirklich gedeihliche öffentliche Diskussion sicher wünschenswert, wenn der lautstark vorgetragenen Kritik ein Mindestmaß an ernsthafter Auseinandersetzung mit dem kritisierten Gegenstand vorausginge. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, was Benedikt XVI. im Vorwort zum ersten Band seines Buches Jesus von Nazareth schreibt: „Es steht […] jedermann frei, mir zu widersprechen. Ich bitte […] nur um jenen Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt.“
Umso bedauerlicher, dass dieser „Vorschuss an Sympathie“ dem Papst zum Teil sogar innerhalb seiner eigenen Kirche verweigert wird. Wann immer der Papst oder die katholische Kirche zeitweilig im Fokus der Medien stehen, melden sich auch Vertreter einer Art innerkirchlicher „Oppositionsbewegung“ mit dem etwas anmaßend wirkenden Namen Wir sind Kirche zu Wort und mahnen Reformen an. Für die Medien sind solche „Dissidenten“ in den Reihen der katholischen Kirche begreiflicherweise ein gefundenes Fressen, zumal sie mit ihren liberalen Positionen zu Themen wie Zölibat und Frauenpriestertum, Ehescheidung und Homosexualität, Empfängnisverhütung und Abtreibung und mit ihren Forderungen nach mehr Ökumene und nach einer „Demokratisierung“ der Kirche ganz auf der Linie jener externen Kritiker liegen, die meinen, die katholische Kirche müsse „zeitgemäßer“ werden, „im 21. Jahrhundert ankommen“. Kein Wunder also, dass Vertreter von Wir sind Kirche gern und oft interviewt werden; und das Ergebnis sind Schlagzeilen à la „Papst enttäuscht viele Gläubige“.
Wie viele das nun wirklich sind, bleibt allerdings eine unbekannte Größe – gerade im Verhältnis zu den Hunderttausenden, die in Berlin, Erfurt, Etzelsbach und Freiburg mit dem Papst die Heilige Messe gefeiert, mit ihnen gebetet und mit ihm ihren Glauben bekannt haben. Laut Medienberichten waren dies:
- bei der Messe im Berliner Olympiastadion (23.09.): rd. 60 000 Teilnehmer;
- bei der Marianischen Vesper in Etzelsbach (24.09.): rd. 90 000 Teilnehmer;
- bei der Messe auf dem Domplatz in Erfurt (25.09.): rd. 30 000 Teilnehmer;
- bei der Gebetsvigil in Freiburg (25.09.): rd. 30 000 Teilnehmer;
- bei der Messe auf dem Flughafengelände in Freiburg (26.09.): rd. 90 000 Teilnehmer.
In der Summe macht das also ca. 300 000 Personen, das beläuft sich auf rund 1,2% aller Katholiken in Deutschland – und das innerhalb von nur vier Tagen und trotz des Umstands, dass der Papst diejenigen Gegenden Deutschlands, in denen die meisten Katholiken leben, gar nicht besucht hat. Möglicherweise haben die Botschaften Benedikts XVI. also doch mehr Gehör gefunden, als das überwiegend von Kritik geprägte mediale Echo glauben machen will.
Oder geht es vielleicht gar nicht um Botschaften? Hat am Ende Peter Wensierski vom SPIEGEL Recht, wenn er die Anziehungskraft der genannten Veranstaltungen lediglich auf „stimmungsvolle Bilder“ zurückführt? – Ohne diese Frage eindeutig beantworten zu wollen oder zu können, möchte ich in diesem Zusammenhang doch betonen, dass Kirche nicht nur und nicht in erster Linie eine Organisation, ein „Apparat“ ist und dass ihre Botschaft nicht allein in theologischen Dogmen und ethischen Ge- und Verboten besteht; vor allem ist Kirche die Gemeinschaft der Gläubigen, und wenn der Besuch des Papstes hunderttausende Menschen dazu bewegt, zusammenzukommen, um gemeinsam ihren Glauben zu bekennen, gemeinsam zu Gott zu beten und gemeinsam die Eucharistie – Leib und Blut Jesu Christi – zu empfangen, dann ist das ohne Zweifel ein starkes Signal. Darum greift die nicht nur von Peter Wensierski geäußerte Einschätzung, „so“ sei die Krise der katholischen Kirche nicht zu überwinden, zu kurz. Sie wäre zu ergänzen durch die Feststellung, dass der Weg aus der Krise auch nicht allein durch äußerliche Reformen zu finden ist. Kirche als Organisation, als „Apparat“, ist wie jede andere Institution stets mit Fehlern und Schwächen behaftet und bedarf daher immer wieder der Reform. Noch weit mehr bedarf die Kirche aber des lebendigen Glaubens ihrer Mitglieder, und für diesen haben die Gläubigen, die in Berlin, Erfurt, Etzelsbach und Freiburg mit dem Papst gefeiert haben, ein starkes Zeugnis abgelegt.
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