Halleluja, Brüder (und Schwestern): Wovon man keine Ahnung hat, darüber kann man trotzdem umfangreiche Reportagen für den Berliner Tagesspiegel schreiben. Zumindest wenn es sich um so abseitige Themen wie Religion handelt, denn da fällt es der angepeilten Zielgruppe ja nicht weiter auf. Jüngster Beweis hierfür ist ein am 14. August erschienener Beitrag aus der Feder von Julia Kopatzki mit der Überschrift "Jesu junge Jünger - Wie die Evangelikalen Berlin erobern". Jawohl, erobern. Nehmt dies, ihr gottlosen Berliner. Wenn demnächst ein großes Kreuz auf der Kuppel des Fernsehturms prangt, sagt nicht, der Tagesspiegel hätte euch nicht gewarnt.
(Bild von "Tobi85", Bildquelle und Lizenz hier.) |
Freunde, ich wohne in Berlin - zwar eher am Stadtrand, aber hin und wieder komme ich schon auch mal ein bisschen innerhalb der Stadt rum -, und ich kann euch versichern, Anzeichen für eine dramatisch durchschlagende Christianisierung der Spreemetropole sind nicht zu entdecken. Dennoch: Allein die Tatsache, dass es in Berlin christliche Glaubensgemeinschaften gibt, die wachsen, ist für den Tagesspiegel reportagewürdig.
"Bisher kannte man evangelikale Kirchen vor allem aus ohnehin christlichen Bundesländern wie Bayern und Baden-Württemberg, wo neue Ausprägungen des Glaubens nicht weiter überraschen. Berlin hingegen hat den Ruf, ein gottloser Ort zu sein, die Menschen treten aus den Kirchen aus, nicht ein – eigentlich."
Also hat die renommierte Berliner Tageszeitung die Jungjournalistin Julia Kopatzki - eine Art Valerie in dunkelhaarig, die u.a. auch für bento schreibt - losgeschickt, um in dieser Szene zu recherchieren. Der Valerie-Methode scheint es übrigens zu entsprechen, möglichst nichts zu recherchieren, bevor man sich zu den Objekten der Reportage auf den Weg macht. Um sich den "fremden Blick" auf den Reportagegegenstand zu bewahren. So schreibt die junge Dame also über "Evangelikale", ohne sich recht im Klaren darüber zu sein, was dieser Begriff eigentlich bezeichnet. Sie meint, es mit "einer relativ neuen christlichen Bewegung im
Protestantismus" zu tun zu haben; na sicher, das 18. Jahrhundert war ja praktisch vorgestern. -- Ich gebe an dieser Stelle gern zu, dass meine Kenntnisse über die Geschichte der evangelikalen Bewegung weder besonders umfangreich noch besonders detailliert sind, aber wenn ich über das Thema schreiben sollte - professionell -, dann würde ich doch erst mal ein paar Grundbegriffe nachschlagen. Und mich beispielsweise ein bisschen über das Great Awakening belesen. Nicht so Julia Kopatzki. Sie operiert lieber mit einer Arbeitsdefinition, die ich in meinen eigenen Worten etwa so umschreiben würde: 'Evangelikal' sind Christen, die sich in kleinen, aber stark wachstumsorientierten Gemeinden ohne staatskirchenrechtlichen Körperschaftsstatus organisieren und deren Gottesdienste nicht so aussehen, wie man es aus den Großkirchen kennt, sondern eher nach Disco u./o. Rockkonzert. Wobei das wahrscheinlich noch nicht mal eine Arbeitsdefinition a priori war, sondern einfach das, was sie im Laufe ihrer Vor-Ort-Recherche zu sehen bekommen hat.
In ihrer Reportage stellt sie drei boomende Gemeindegründungen in Berlin vor: Hillsong Berlin, die ihre Gottesdienste im Kino in der Kulturbrauerei feiern (in einem "Saal mit 450 Plätzen", und das "drei Mal am Sonntag"); Saddleback Berlin, deren Gottesdienste in der Kalkscheune stattfinden, und die ICF Friedrichshain. Es fällt auf, dass es sich bei allen drei Fallbeispielen um "Ableger" internationaler Megachurches handelt:
Auch in anderer Hinsicht macht es sich bemerkbar, dass eine etwas größere Vertrautheit der Verfasserin mit dem Phänomen Religion und insbesondere mit dem christlichen Glauben gerade für eine kritische Auseinandersetzung mit den wachsenden Freikirchen hilfreich gewesen wäre. So bemerkt Julia Kopatzki etwa:
Was die Autorin an den von ihr beschriebenen Gemeinden hingegen wirklich entschieden kritisiert, ist, dass sie eben christliche Glaubensgemeinschaften sind. Dass das das eigentlich Problematische an ihnen sei, sagt sie ganz explizit: "Modern, hilfsbereit, alltagsnah muten die Evangelikalen an, man vergisst fast, was sie alle zusammenhält: der christliche Glaube." Und was Julia Kopatzki an diesem auszusetzen hat, verrät sie uns sogleich: "Abtreibung: Sünde. Homosexualität: Sünde. Sex vor der Ehe: Sünde. Scheidung: Sünde. Positionen, die weder in das 21. Jahrhundert passen, noch zu einer Stadt wie Berlin".
Nun ja: Die Annahme, bestimmte Überzeugungen seien schon allein deshalb abzulehnen, weil sie angeblich nicht "in das 21. Jahrhundert passen", ist zweifellos eine der dümmsten in der Geschichte der Menschheit - dicht gefolgt von der Annahme, bestimmte Überzeugungen passten nicht ins 20. Jahrhundert, und dazu hat G.K. Chesterton schon ziemlich zu Beginn jenes Jahrhunderts alles Nötige gesagt:
Okay. Genug der Polemik und zurück zum Inhaltlichen. Indem die Verfasserin es als Tatsache darstellt, dass bestimmte Überzeugungen im aktuellen Jahrhundert, und in Berlin erst recht, nichts zu suchen haben, und gleichzeitig zu erkennen gibt, dass sie genau diese Überzeugungen als kennzeichnend für den christlichen Glauben betrachtet, sagt sie letztlich in beeindruckender Deutlichkeit, dass es im Berlin des 21. Jahrhunderts keinen Platz für Christen gibt oder geben sollte. (Man versuche so etwas mal über irgendeine andere Religion zu sagen, beispielsweise eine, die zu Themen wie Abtreibung oder Homosexualität ähnliche Positionen vertritt wie die hier gescholtenen. Tatsächlich trifft das nämlich auf bemerkenswert viele Religionsgemeinschaften zu. Man könnte dies zum Anlass für einen Exkurs über Naturrecht nehmen, aber das spare ich mir an dieser Stelle.)
Überhaupt ist es einigermaßen bezeichnend, dass dies die Themen sind, die der Reporterin zum Stichwort "christlicher Glaube" als erstes einfallen (und dann auch im weiteren Verlauf des Artikels eine prominente Rolle spielen). Interessant ist dieser Umstand nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass sie eine der drei geschilderten Gemeinden, nämlich die ICF Friedrichshain, in Hinblick auf diese Themen als überraschend liberal darstellt (was mich zu der Frage veranlasst: Kann jemand, der - wie ICF-Gemeindeleiter Tino Dross - Sätze sagt wie "Nur weil etwas in der Bibel steht, glaube ich es nicht einfach" und bekräftigt, "[i]n der Bibel stehe so viel absurdes Zeug, das könne man nicht unhinterfragt glauben", noch als "evangelikal" bezeichnet werden? Aber das wäre mal ein Thema für sich...) -- sowie auch der Tatsache, dass sie, wie weiter oben bereits angemerkt, den Evangelikalen die in diesen Fragen ja nun wirklich ausgesprochen liberale Landeskirche EKBO quasi als den "Normalfall" des Christseins gegenüberstellt.
Warum eigentlich? Weil die EKBO die größte Religionsgemeinschaft in Berlin ist? Nun ja, hinsichtlich der absoluten Mitgliederzahl ist sie das: Laut Stand vom Jahreswechsel 2013/2014 hatte diese Landeskirche innerhalb der Stadtgrenzen Berlins 614 355 Mitglieder, die katholische Kirche 326 197 (diese Zahlen stammen aus einem anderen Artikel des Tagesspiegels). Hinsichtlich der praktizierenden Gläubigen sieht das jedoch ganz anders aus:
Diese Zahlenverhältnisse geben natürlich auch der EKBO zu denken. "Man beobachte die neuen Gemeinden interessiert", erfährt man in der Tagesspiegel-Reportage; schließlich "will die evangelische Landeskirche nicht untätig zuschauen, wie sie immer mehr Mitglieder verliert".
Damit wären wir nun also wieder beim vor einiger Zeit bereits behandelten Thema "Wie viel Gemeinschaft darf's denn sein?" angekommen, und tatsächlich findet sich dazu eine ganze Menge Material in Julia Kopatzkis Tagesspiegel-Reportage. Deswegen werde ich wohl in einem künftigen Artikel nochmals darauf zurückkommen. Für jetzt mache ich aber mal einen Punkt. Schließlich muss ich mich zwischendurch, sofern ich Zeit dafür finde, auch noch um die Fährnisse einer gewissen eingekerkerten Nonne kümmern...
In ihrer Reportage stellt sie drei boomende Gemeindegründungen in Berlin vor: Hillsong Berlin, die ihre Gottesdienste im Kino in der Kulturbrauerei feiern (in einem "Saal mit 450 Plätzen", und das "drei Mal am Sonntag"); Saddleback Berlin, deren Gottesdienste in der Kalkscheune stattfinden, und die ICF Friedrichshain. Es fällt auf, dass es sich bei allen drei Fallbeispielen um "Ableger" internationaler Megachurches handelt:
- "Hillsong Berlin, die bis Juli noch Berlin Connect hießen, gehören zur Hillsong Church aus Australien. Eine sogenannte Megakirche, deren Gottesdienste allein in Australien mehr als 40 000 Menschen besuchen, weltweit sind es gut 100 000. Vier Ableger gibt es in Deutschland, seit 2008 hält die Berliner Gemeinde Gottesdienste ab."
- "Saddleback Berlin hat vor allem aus den USA gelernt, wie man eine Kirche groß macht. Die Gemeinde ist, wenn man so will, eine Franchise-Kirche der kalifornischen Saddleback Church, einer weiteren Megakirche. Mehr als 20 000 Menschen kommen wöchentlich zu einem der 15 Gottesdienste in Kalifornien. […] Neben Kalifornien gibt es vier internationale Ableger: In Buenos Aires, Hong Kong, Manila – und seit Oktober 2013 auch in Berlin."
- Und ICF Friedrichshain schließlich ist ein "Ableger der ICF-Kirche aus Zürich, die 15 000 Menschen in ihre Gottesdienste zieht".
"Warum wollen die Gemeinden nicht einfach klein und beschaulich bleiben? Anders als die Landeskirchen werden Freikirchen nicht durch Steuergelder finanziert, sondern über freiwillige Spenden ihrer Mitglieder. Jeder Neuzugang ist auch immer die Aussicht auf mehr Geld für die Gemeinde."Klar, worum sollte es auch sonst gehen? Im Umkehrschluss meint Julia Kopatzki, "die Landeskirchen" seien "nicht darauf angewiesen, dass jemand bei ihnen Mitglied wird". Na gut, bei der EKBO könnte man wirklich diesen Eindruck haben. Aber wie gesagt, darauf komme ich noch.
Auch in anderer Hinsicht macht es sich bemerkbar, dass eine etwas größere Vertrautheit der Verfasserin mit dem Phänomen Religion und insbesondere mit dem christlichen Glauben gerade für eine kritische Auseinandersetzung mit den wachsenden Freikirchen hilfreich gewesen wäre. So bemerkt Julia Kopatzki etwa:
"Die Bibel wird bei den Evangelikalen alltagsnah, fast schon profan. Es geht nicht um die großen Fragen, um Himmel und Hölle, Sünde und Vergebung, sondern darum, wie man es schafft, eine gesunde Beziehung zu führen, oder wie man weniger ausgelaugt durch den Tag kommt. Die Antwort: durch eine Beziehung zu Jesus."Den Begriff "profan" benutzt sie hier vermutlich eher im alltagssprachlichen, nicht im spezifisch religiösen Sinne; aber davon mal abgesehen: An der hier beschriebenen Glaubensauffassung gäbe es allerlei kritisch zu betrachten, so beispielsweise den individualistischen und letztlich auf eine verschrobene Art sogar hedonistischen Ansatz, die quasi-therapeutische Verengung, fast möchte man sagen: Verzweckung des Glaubens im Dienste des persönlichen Wohlergehens, garniert mit mehr als nur einer Prise prosperity gospel. Das alles findet Julia Kopatzki zwar erkennbar irgendwie skurril, aber man hat nicht den Eindruck, dass sie das ernsthaft kritisieren möchte. Wahrscheinlich, weil sie - wie gesagt - keine klare Vorstellung davon hat, dass es auch anders sein könnte. An anderer Stelle zitiert sie die Leitstelle für Sektenfragen in Berlin mit der Einschätzung, in manchen evangelikalen Gruppen würden "Gläubige psychisch belastet, wenn vermittelt wird, Armut, Misserfolg, Krankheit und Leid würden in Verbindung stehen mit einer dämonischen Besessenheit, mangelndem Glauben oder Homosexualität"; aber dass das bloß die logische Kehrseite des weiter oben skizzierten Glaubensverständnisses dieser Gemeinden ist, sieht sie anscheinend nicht, sonst hätte sie wohl kaum darauf verzichtet, darauf hinzuweisen.
Was die Autorin an den von ihr beschriebenen Gemeinden hingegen wirklich entschieden kritisiert, ist, dass sie eben christliche Glaubensgemeinschaften sind. Dass das das eigentlich Problematische an ihnen sei, sagt sie ganz explizit: "Modern, hilfsbereit, alltagsnah muten die Evangelikalen an, man vergisst fast, was sie alle zusammenhält: der christliche Glaube." Und was Julia Kopatzki an diesem auszusetzen hat, verrät sie uns sogleich: "Abtreibung: Sünde. Homosexualität: Sünde. Sex vor der Ehe: Sünde. Scheidung: Sünde. Positionen, die weder in das 21. Jahrhundert passen, noch zu einer Stadt wie Berlin".
Nun ja: Die Annahme, bestimmte Überzeugungen seien schon allein deshalb abzulehnen, weil sie angeblich nicht "in das 21. Jahrhundert passen", ist zweifellos eine der dümmsten in der Geschichte der Menschheit - dicht gefolgt von der Annahme, bestimmte Überzeugungen passten nicht ins 20. Jahrhundert, und dazu hat G.K. Chesterton schon ziemlich zu Beginn jenes Jahrhunderts alles Nötige gesagt:
"Genausogut könnte man sagen, eine bestimmte Ansicht sei am Montag vertretbar, am Dienstag dagegen nicht. Ebensogut könnte man von einer bestimmten These über die Welt sagen, sie sei um halb vier angebracht, um halb fünf indes fehl am Platze. Was einem Menschen glaubwürdig erscheint, hängt von seiner Grundeinstellung ab, nicht von der Uhrzeit oder dem Jahrhundert."Man muss allerdings zugeben, dass die Gewohnheit, Überzeugungen danach zu beurteilen, ob sie als "zeitgemäß" gelten oder nicht, der perfekte shortcut für Leute ist, die entweder zu faul zum Denken sind oder einfach keine Übung darin haben. Und, seien wir ehrlich: Solche Leute produziert unser Bildungssystem am laufenden Band. Ärgerlich ist freilich, dass allzu viele davon Journalisten werden.
Okay. Genug der Polemik und zurück zum Inhaltlichen. Indem die Verfasserin es als Tatsache darstellt, dass bestimmte Überzeugungen im aktuellen Jahrhundert, und in Berlin erst recht, nichts zu suchen haben, und gleichzeitig zu erkennen gibt, dass sie genau diese Überzeugungen als kennzeichnend für den christlichen Glauben betrachtet, sagt sie letztlich in beeindruckender Deutlichkeit, dass es im Berlin des 21. Jahrhunderts keinen Platz für Christen gibt oder geben sollte. (Man versuche so etwas mal über irgendeine andere Religion zu sagen, beispielsweise eine, die zu Themen wie Abtreibung oder Homosexualität ähnliche Positionen vertritt wie die hier gescholtenen. Tatsächlich trifft das nämlich auf bemerkenswert viele Religionsgemeinschaften zu. Man könnte dies zum Anlass für einen Exkurs über Naturrecht nehmen, aber das spare ich mir an dieser Stelle.)
Überhaupt ist es einigermaßen bezeichnend, dass dies die Themen sind, die der Reporterin zum Stichwort "christlicher Glaube" als erstes einfallen (und dann auch im weiteren Verlauf des Artikels eine prominente Rolle spielen). Interessant ist dieser Umstand nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass sie eine der drei geschilderten Gemeinden, nämlich die ICF Friedrichshain, in Hinblick auf diese Themen als überraschend liberal darstellt (was mich zu der Frage veranlasst: Kann jemand, der - wie ICF-Gemeindeleiter Tino Dross - Sätze sagt wie "Nur weil etwas in der Bibel steht, glaube ich es nicht einfach" und bekräftigt, "[i]n der Bibel stehe so viel absurdes Zeug, das könne man nicht unhinterfragt glauben", noch als "evangelikal" bezeichnet werden? Aber das wäre mal ein Thema für sich...) -- sowie auch der Tatsache, dass sie, wie weiter oben bereits angemerkt, den Evangelikalen die in diesen Fragen ja nun wirklich ausgesprochen liberale Landeskirche EKBO quasi als den "Normalfall" des Christseins gegenüberstellt.
Warum eigentlich? Weil die EKBO die größte Religionsgemeinschaft in Berlin ist? Nun ja, hinsichtlich der absoluten Mitgliederzahl ist sie das: Laut Stand vom Jahreswechsel 2013/2014 hatte diese Landeskirche innerhalb der Stadtgrenzen Berlins 614 355 Mitglieder, die katholische Kirche 326 197 (diese Zahlen stammen aus einem anderen Artikel des Tagesspiegels). Hinsichtlich der praktizierenden Gläubigen sieht das jedoch ganz anders aus:
"Die Landeskirchen haben zwar nach wie vor deutlich mehr Mitglieder als die Freikirchen, aber die wenigsten sind in ihren Gemeinden aktiv. In Berlin besuchen nur 2,5 Prozent der Mitglieder regelmäßig einen evangelischen Gottesdienst, bei den Katholiken sind es immerhin fast zehn Prozent. Der Bund evangelisch-freikirchlicher Gemeinden vermeldet hingegen, dass durchschnittlich 88 Prozent der Mitglieder regelmäßig im Gottesdienst sitzen."Wenn das so stimmt, dann heißt das, dass katholische Messen in Berlin allsonntäglich rund doppelt so viele Teilnehmer anlocken wie evangelisch-landeskirchliche Gottesdienste; und was die Freikirchen angeht, fehlen zwar konkrete Angaben zur Mitgliederzahl, aber bei einer Gottesdienstbesuchsquote von 88% würde es mich nicht wundern, wenn der Evangelikalismus tatsächlich die "meist-praktizierte" christliche Glaubensrichtung Berlins wäre.
Diese Zahlenverhältnisse geben natürlich auch der EKBO zu denken. "Man beobachte die neuen Gemeinden interessiert", erfährt man in der Tagesspiegel-Reportage; schließlich "will die evangelische Landeskirche nicht untätig zuschauen, wie sie immer mehr Mitglieder verliert".
Der Religionswissenschaftler Martin Radermacher von
der Ruhr-Universität Bochum und Mitherausgeber eines "Handbuchs
Evangelikalismus" wird mit der Aussage zitiert: "Entscheidend ist gar nicht so sehr, was
vermittelt wird, sondern wie". "Denn", so führt die Reporterin diesen Gedanken in eigenen Worten näher aus: "Es ist der
selbe Gott, an den die Christen glauben, an das selbe Buch, ob
landeskirchlich oder frei. Der Unterschied liegt also nicht im
Inhalt, sondern in der Verpackung." -- Und das ist ja nun so falsch, dass ich beim Lesen beinahe laut lachen musste. Bemühen wir abermals Chesterton:
"Was unsere Progressiven vor riesigen Zuhörermassen mit ruhiger Gewißheit erklären, ist meistens das Gegenteil der Tatsachen; gerade unsere Binsenwahrheiten sind unwahr. Hier ein Beispiel. In jeder 'Ethischen Gesellschaft' und jedem 'Religionsparlament' hört man die bequeme liberale Phrase: 'Die Religionen unserer Erde unterscheiden sich zwar in Riten und Formen, aber in dem, was sie lehren, stimmen sie überein.' Diese Aussage ist falsch; sie widerstreitet den Tatsachen. In Riten und Formen unterscheiden sich die Religionen unserer Erde gar nicht erheblich; erheblich unterscheiden sie sich in dem, was sie lehren."
Was Chesterton hier über verschiedene Religionen sagt (im weiteren Verlauf seiner Ausführungen stellt er Christentum und Buddhismus einander gegenüber), ist natürlich etwas zu relativieren, wenn es um den Vergleich zwischen Frei- und Landeskirchlern geht, die sich ja beide als Christen (und sogar beide als evangelische Christen) verstehen. Natürlich ist der Gott der Evangelikalen dem Namen nach derselbe wie der der landeskirchlichen Protestanten, und hier wie dort wird auch dieselbe Bibel (wenn auch in unterschiedlichen Übersetzungen) benutzt; aber verglichen mit den Unterschieden, ja Gegensätzen in der Lehre sind das Äußerlichkeiten.
Einige Vertreter der EKBO, mit denen Julia Kopatzki für ihre Reportage gesprochen hat, scheinen indes tatsächlich zu glauben, sie bräuchten den Freikirchen nur darin zu folgen, die "Verpackung" ein bisschen hipper zu machen, um an ihrem Erfolg zu partizipieren. "Social Media Profile werden eingerichtet, andere
Musik im Gottesdienst diskutiert, in manchen Gemeinden gibt es jetzt
Tauffeste für Alleinerziehende." Hammer, wie innovativ. "Die Landeskirche hat dabei aber ein Problem: Die
Hälfte der Mitglieder ist über fünfzig, und wünscht sich in der
Regel keinen jungen, modernen Gottesdienst, keine Änderungen. Es
droht die Gefahr, im Bemühen um neue Mitglieder alte zu vergraulen."
Also, Entschuldigung: Wen genau fürchtet man denn bitte zu "vergraulen"? Die 2,5% der Mitglieder, die regelmäßig in den Gottesdienst kommen? Die übrigen 97,5% würden von etwaigen Veränderungen schließlich kaum etwas mitbekommen. Fast versteht man, wie Reinhard Hempelmann, der Vorsitzende, der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, zu der Einschätzung kommt, die "neuen Freikirchen" seien "ein Protestphänomen gegen die fehlende Flexibilität" der Landeskirchen. Nun kann ich mir zwar vorstellen, dass der Befund der 'fehlenden Flexibilität' auf die institutionellen Strukturen landeskirchlicher Gemeinden und vielerorts womöglich auch auf die Gottesdienstpraxis durchaus zutrifft (und über die katholische Kirche könnte man dasselbe sagen); aber den Fokus allein darauf zu legen, lenkt wieder einmal von inhaltlichen Fragen ab. Und da, möchte ich mal behaupten, kranken die evangelischen Landeskirchen eher an zu viel Flexibilität; will sagen: an einem Mangel an festen Standpunkten. Christian Stäblein, Propst (Julia K. schreibt allerdings "Probst") in der EKBO, grenzt sich explizit ab von "manchen Gemeinden im evangelikalen Spektrum", in denen "bisweilen eng definiert" werde, "was christlich ist und was nicht". Also bitte, Freunde: Was christlich ist und was nicht, das ist doch wohl eine Frage, auf die Menschen, die im Zuge ihrer Suche nach Sinn und Wahrheit auf das Christentum stoßen, zu Recht eine Antwort haben wollen. Und bei der EKBO bekommen sie diese Antwort nicht -- denn das würde, so Propst Stäblein, "nicht mit unserem auf Freiheit ausgerichteten Begriff von Frömmigkeit zusammen gehen". Zu dieser "Freiheit" gehört es auch, keinen "überhohe[n] Druck von Bindungserwartung" aufkommen zu lassen:
Stellen wir uns zum besseren Verständnis mal vor, jemand erhält eine Einladung zu einer Hochzeit, und auf der Rückseite der Einladungskarte entdeckt er ein P.S., das besagt: "Ob du kommst oder nicht, ist uns eigentlich egal." Wie wertgeschätzt wird der sich wohl fühlen? Kein Wunder, wenn Leute, die auf der Suche nach spiritueller Orientierung sind, lieber in eine Gemeinde gehen, in der man ihnen das Gefühl gibt, willkommen zu sein. Auch wenn diese Gemeinde höhere Anforderungen stellt, ja möglicherweise gerade dann: Wenn man ihnen nicht nur sagt "Toll, dass du da bist", sondern zugleich auch zu verstehen gibt: "Wir können dich gebrauchen, wir haben eine Aufgabe für dich." Die Volkskirchen haben eher das Problem, dass sie, selbst wenn plötzlich von irgendwoher Scharen neuer Mitglieder in ihre Gemeinden kämen, gar nicht wüssten, was sie mit ihnen anfangen sollten. (Man könnte sogar argwöhnen, dass sie deswegen mehr oder weniger unbewusst darauf hinarbeiten, dass gar nicht erst welche kommen.)
Also, Entschuldigung: Wen genau fürchtet man denn bitte zu "vergraulen"? Die 2,5% der Mitglieder, die regelmäßig in den Gottesdienst kommen? Die übrigen 97,5% würden von etwaigen Veränderungen schließlich kaum etwas mitbekommen. Fast versteht man, wie Reinhard Hempelmann, der Vorsitzende, der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, zu der Einschätzung kommt, die "neuen Freikirchen" seien "ein Protestphänomen gegen die fehlende Flexibilität" der Landeskirchen. Nun kann ich mir zwar vorstellen, dass der Befund der 'fehlenden Flexibilität' auf die institutionellen Strukturen landeskirchlicher Gemeinden und vielerorts womöglich auch auf die Gottesdienstpraxis durchaus zutrifft (und über die katholische Kirche könnte man dasselbe sagen); aber den Fokus allein darauf zu legen, lenkt wieder einmal von inhaltlichen Fragen ab. Und da, möchte ich mal behaupten, kranken die evangelischen Landeskirchen eher an zu viel Flexibilität; will sagen: an einem Mangel an festen Standpunkten. Christian Stäblein, Propst (Julia K. schreibt allerdings "Probst") in der EKBO, grenzt sich explizit ab von "manchen Gemeinden im evangelikalen Spektrum", in denen "bisweilen eng definiert" werde, "was christlich ist und was nicht". Also bitte, Freunde: Was christlich ist und was nicht, das ist doch wohl eine Frage, auf die Menschen, die im Zuge ihrer Suche nach Sinn und Wahrheit auf das Christentum stoßen, zu Recht eine Antwort haben wollen. Und bei der EKBO bekommen sie diese Antwort nicht -- denn das würde, so Propst Stäblein, "nicht mit unserem auf Freiheit ausgerichteten Begriff von Frömmigkeit zusammen gehen". Zu dieser "Freiheit" gehört es auch, keinen "überhohe[n] Druck von Bindungserwartung" aufkommen zu lassen:
"Das Wesen der Landeskirche [...] sei [...] gerade, dass die Mitglieder ihr Verhältnis von Nähe und Distanz frei bestimmen könnten. 'Da gibt es Leute, die kommen einmal im Jahr zum Gottesdienst, dreimal oder auch 52 Mal.'"Das, geschätzter Leser, ist straight from the book -- nämlich aus dem EKD-Impulspapier "Kirche der Freiheit" von 2006. Darin spielt die "distanzierte Kirchenmitgliedschaft" als Ausdrucksform der in der Überschrift beschworenen "Freiheit" eine wichtige Rolle -- und geistert seither beharrlich als "die Kirche stabilisierende[r] Faktor" (D. Pollack) durch kirchliche Mitgliedschaftsstudien. Ja, sie wird sogar - etwa durch Jan Hermelink - "theologisch gewürdigt [...] als eine legitime Form, den Kontakt mit Gott nicht im Alltag der lebensweltlichen Interaktion zu suchen, sondern an den sozialen Grenzen (und Abgründen) dieses Alltags" und mit Vokabeln wie "Teilhabe ohne Teilnahme" (R. Schieder) bekränzt. Wer so redet und das ernst meint, dem sollte man meiner Einschätzung zufolge schnell zwei bis drei Ohrfeigen verabreichen und schauen, ob er wieder zu sich kommt.
Stellen wir uns zum besseren Verständnis mal vor, jemand erhält eine Einladung zu einer Hochzeit, und auf der Rückseite der Einladungskarte entdeckt er ein P.S., das besagt: "Ob du kommst oder nicht, ist uns eigentlich egal." Wie wertgeschätzt wird der sich wohl fühlen? Kein Wunder, wenn Leute, die auf der Suche nach spiritueller Orientierung sind, lieber in eine Gemeinde gehen, in der man ihnen das Gefühl gibt, willkommen zu sein. Auch wenn diese Gemeinde höhere Anforderungen stellt, ja möglicherweise gerade dann: Wenn man ihnen nicht nur sagt "Toll, dass du da bist", sondern zugleich auch zu verstehen gibt: "Wir können dich gebrauchen, wir haben eine Aufgabe für dich." Die Volkskirchen haben eher das Problem, dass sie, selbst wenn plötzlich von irgendwoher Scharen neuer Mitglieder in ihre Gemeinden kämen, gar nicht wüssten, was sie mit ihnen anfangen sollten. (Man könnte sogar argwöhnen, dass sie deswegen mehr oder weniger unbewusst darauf hinarbeiten, dass gar nicht erst welche kommen.)
Damit wären wir nun also wieder beim vor einiger Zeit bereits behandelten Thema "Wie viel Gemeinschaft darf's denn sein?" angekommen, und tatsächlich findet sich dazu eine ganze Menge Material in Julia Kopatzkis Tagesspiegel-Reportage. Deswegen werde ich wohl in einem künftigen Artikel nochmals darauf zurückkommen. Für jetzt mache ich aber mal einen Punkt. Schließlich muss ich mich zwischendurch, sofern ich Zeit dafür finde, auch noch um die Fährnisse einer gewissen eingekerkerten Nonne kümmern...
Ich habe die Kritik gelesen und mich zunehmend gefragt, was eigentlich der entscheidende Punkt ist. Dass die Autorin wenig Ahnung von der Kirchenszene in Berlin und von Kirche im Allgemeinen hat? Mag ja sein.
AntwortenLöschenHinterher habe ich den Beitrag im Tagesspiegel, um den es ging, gelesen, und fand ihn ganz interessant. Ich wusste bis dahin nicht, dass diese Organisationen in Berlin am Start sind und wie es da zugeht. Ich fand das interessant und informativ.