Freitag, 16. Dezember 2016

Eigentlich bin ich gar nicht so

Am vergangenen Samstagabend war mal wieder Nightfever in der Rosenkranz-Basilika in Steglitz. Wenn es sich irgendwie einrichten lässt, gehe ich immer - d.h. einmal im Monat - zum Nightfever. Weil's einfach immer super ist. Ich sag's immer wieder gern: Wenn ich vom Nightfever komme, fühle ich mich jedesmal so, als hätte ich Superkräfte. Aber in der Rosenkranz-Basilika war ich schon lange nicht mehr gewesen: Das letzte Mal, dass Nightfever an diesem Standort stattfand, war am Tag meiner Hochzeit gewesen, und davor war ich auf dem Jakobsweg - obwohl, ich glaube, da hatte Nightfever sowieso Sommerpause gehabt. 



Wenngleich die Gestaltung von Nightfever in den Grundzügen wohl überall auf der Welt gleich ist und die beiden Berliner Standorte obendrein vom selben Team "bespielt" werden, gibt es im Detail doch einige Unterschiede zwischen dem Nightfever in Steglitz und dem in Kreuzberg. Dazu gehört, dass in der Rosenkranz-Basilika das Allerheiligste schon während des Auszugslieds der Vorabendmesse ausgesetzt wird und die Anbetung sich somit unmittelbar an die Messe anschließt. Im Prinzip finde ich das schöner, als wenn - wie in St. Bonifatius in Kreuzberg - eine fast einstündige Unterbrechung dazwischen liegt. Diesmal allerdings - vielleicht, weil ich diese Unterbrechung inzwischen einfach gewöhnt bin - verspürte ich schon kurz nach dem Beginn der Anbetung das Bedürfnis, erst mal ein paar Minuten an die frische Luft zu gehen. Zum Anbeten blieben schließlich noch rund drei Stunden Zeit. 



Also ging ich raus, und das erwies sich als bemerkenswerte Fügung, denn draußen traf ich zu meiner Überraschung Valerie

-- Welche Valerie? Die Valerie von "Valerie und der Priester". Ich musste zweimal hinsehen, um mich zu vergewissern, dass sie es wirklich war; so unverwechselbar sieht sie schließlich nicht aus, und ich hatte sie ja erst einmal "in echt" gesehen - beim Kreis junger Erwachsener in der Pfarrei St. Antonius. Gleichwohl erkannte sie mich auch, also unterhielten wir uns ein bisschen. Sie wolle sich mal ansehen, wie Nightfever in Berlin so ablaufe, verriet sie. 
"Das heißt, du warst schon mal woanders beim Nightfever?", hakte ich nach. 
"Ja", bestätigte sie, "in Münster." 
Etwas später fragte sie mich, ob ich hier und heute auch zur Beichte gehen würde. Ich war überrascht, dass sie danach fragte, aber irgendwie fand ich es gut. -- Kurz darauf gesellte sich ihr Freund zu uns. Julius. Sehr sympathischer Typ. Die beiden waren auch schon in der Messe gewesen, und als ich auf ein paar liturgische Besonderheiten des Advents und insbesondere des dritten Adentssonntags, Gaudete, hinwies, sagte Julius: "Diese ganze Symbolik in der Kirche, besonders in der katholischen, da ist es gar nicht so leicht durchzusteigen." 
"Man wird auch nie wirklich fertig damit", erwiderte ich lächelnd. "Ich bin zwar total katholisch erzogen und aufgewachsen, aber ich entdecke trotzdem immer wieder etwas Neues." 
"Das macht's sicher auch spannend", meinte Julius, und ich stimmte ihm zu. 

Das Gespräch war insgesamt sehr nett, und hinterher - oder eigentlich schon währenddessen - hatte ich ein bisschen ein schlechtes Gewissen, denn ich fand, ich sei in meiner gebloggten Kritik an Valeries Auftritt beim Kreis junger Erwachsener, und insgesamt in meiner hier und da geäußerten Kritik an ihrem Blogprojekt, wohl zu streng gewesen.

Der bislang letzte Beitrag auf Valerie und der Priester, den ich gelesen habe, war "Briefe zur Halbzeit", erschienen am 22. November. Und den Brief, den Valerie da nach sechs Monaten Projektlaufzeit an Kaplan von Boeselager geschrieben hat, fand ich nicht nur enttäuschend, sondern ich war richtig verärgert. Wenn das alles ist, was bei diesem Projekt rauskommt, ist es ein Schuss in den Ofen, fand ich. Ich ärgerte mich, dass Valerie seit einem halben Jahr von der Deutschen Bischofskonferenz dafür bezahlt wird, einen Priester in seinem beruflichen Alltag zu begleiten, und in der ganzen Zeit nichts über das Wesen des christlichen Glaubens und der Kirche begriffen hat. Sich gleichzeitig aber einbildet, schon ganz viel begriffen zu haben - eine Einbildung, die sie zuverlässig von wirklichen Erkenntnissen abschirmt.

Dachte ich.

Und dann stand ich Valerie plötzlich leibhaftig gegenüber und hatte das Gefühl, ihr Unrecht getan zu haben.

Vielleicht ist mein Eindruck, sie habe nichts kapiert, falsch. Sie nähert sich, das sagt sie selbst, dem Phänomen des Glaubens bevorzugt von der emotionalen Seite her, aber das muss ja nicht heißen, dass sie unterstellt, der Glaube sei auch für die Gläubigen selbst eine rein emotionale Angelegenheit. Und vielleicht meint sie mit vielen ihrer Aussagen, die ich so falsch finde, eigentlich etwas Richtiges, das sie nur, mangels Vertrautheit mit dem Gegenstand, nicht besser ausdrücken kann - weil, wie es in Michael Endes Momo heißt, "die Worte in ihr erst wachsen müssen".
Vielleicht sind es auch nicht nur die Worte, die Zeit zum Wachsen brauchen. Vielleicht unterschätze ich einfach, wie fremd die Welt des Glaubens und der Kirche jemandem sein muss, der damit bisher nie "etwas am Hut hatte". Möglicherweise ist ein halbes Jahr, von solchen Voraussetzungen ausgehend, einfach zu kurz, um mehr als ein paar erste tastende Schritte zur Annäherung zu unternehmen (die sich dann subjektiv aber doch anfühlen wie "ein großer Sprung für die Menschheit"). Möglich, dass hier Samenkörner ausgestreut werden, die Jahre, vielleicht Jahrzehnte brauchen, um aufzukeimen. Für das Projekt "Valerie und der Priester" wäre das zu spät, aber den Initiatoren dieses Projekts geht es ja ohnehin um Anderes als um Valeries Seelenheil (was, wenn man es recht bedenkt, ziemlich gut auf den Punkt bringt, was an diesem Projekt grundsätzlich verkehrt läuft).

Und wenn nun gar nichts aufkeimt, auch nach Jahren nicht? - Nun, dann ist Valerie trotzdem eine sympathische Person - zumindest, wenn man von Angesicht zu Angesicht mit ihr zu tun hat und nicht nur ihren Blog liest.

Und das ist bei mir ja auch nicht unbedingt anders.

Jedenfalls nehme ich an, dass es manchen (vielen?) Menschen mit mir so geht. In meinem Freundeskreis gibt es durchaus so einige Menschen, die nicht nur meinen Glauben nicht teilen, sondern darüber hinaus auch in allerlei anderen Fragen von "überpersönlicher" Relevanz ganz anderer Meinung sind als ich; und das tut der Freundschaft nicht notwendigerweise Abbruch. Man ist ja primär nicht deshalb mit jemandem befreundet, weil man dieselben Ansichten hätte, sondern weil man einander persönlich schätzt und mag. Und günstigstenfalls helfen solche Freundschaften sogar dabei, Standpunkte respektieren zu lernen, die man persönlich falsch findet. Was nicht daran hindert, sie weiterhin falsch zu finden.

Wenn man jemanden aber nicht persönlich kennt, sondern ausschließlich als einen Vertreter von Standpunkten wahrnimmt, die man falsch findet, dann wird man vermutlich nicht so leicht Sympathie für diesen Jemand entwickeln.

Doch mir geht es hier noch um etwas Anderes. Die plötzliche Erkenntnis, ich sei in meinem Urteil über Valerie womöglich zu streng gewesen, führte mich binnen Kurzem zu dem Gedanken: Das passiert mir öfter. Dazu eine Anekdote: Während meines Studiums habe ich mal in einer Produktion von "Romeo und Julia" mitgespielt, und während eines Großteils der Probenphase war ich unverkennbar ein Außenseiter innerhalb des Ensembles. Als die Aufführungen näher rückten, besserte sich das allmählich, und irgendwann verriet mir dann einer der anderen Darsteller, warum mich anfangs so gut wie niemand aus der Gruppe hatte leiden können. Zu Beginn der Probenarbeit hatte es nämlich ein allgemeines Brainstorming über diverse Inszenierungsideen gegeben, und an einem Punkt der Diskussion war ich aufgestanden und hatte verkündet: "Wenn ihr so einen Scheiß macht, bin ich raus."

Ja, das meinte ich auch so, und das ist nun mal meine Art, meine Meinung zu sagen. Da, wo ich herkomme - und das meine ich sowohl regional als auch soziologisch -, ist das normaler Umgangston. Aber ich hatte nicht berücksichtigt, wie schroff und arrogant das auf Leute wirken musste, die es gewohnt sind, ihr Missfallen in gedämpfteren Tönen (oder gar nicht) zu artikulieren. Heutzutage, in Zeiten von microaggression und safe spaces, käme ich wahrscheinlich in überhaupt keine Uni mehr rein.

Ich könnte noch weiter in die Vergangenheit zurückgehen und behaupten, letztlich sei meine Grundschul-Klassenlehrerin schuld. - Schuld woran? Daran, dass ich eine heftige Allergie gegen verordnete Harmonie habe. Gegen "flache Hierarchien", Stuhlkreise und Ringelpiez mit Anfassen, gegen Blümchenbilder und Poesiealbenverse, gegen das Zudecken real existierender Konflikte mit einer dicken, klebrigen Wir-haben-uns-doch-alle-lieb-Soße. Und diese allergische Reaktion führt dazu, dass ich nach außen hin oft sehr schroff wirke. Jedenfalls auf Leute, die mich nicht gut kennen. Wer mich näher kennt, weiß, dass ich im Grunde meines Herzens eigentlich ein totaler Softie bin. 

Zum Beispiel: Neulich habe ich mich, endlich mal wieder, mit meiner Freundin Kati (der besten Kati von allen) getroffen, und im Laufe unseres Gesprächs kamen wir irgendwann auf Geschlechterrollenklischees - und darauf, dass man nicht gleich trans* sein muss, wenn man Interessen oder Charakterzüge hat, die allgemein als geschlechtsuntypisch gelten. 
"Zum Beispiel", meinte Kati, "ist es totaler Quatsch, dass Männer angeblich nicht im Kino heulen, beziehungsweise heulen dürfen."
"Ich heule immer im Kino!", warf ich ein. "Ich hab sogar bei Free Willy geheult!"
"Natürlich", entgegnete Kati. "Jeder normale Mensch heult bei Free Willy." 
Das mag nun seinerseits wiederum alles sehr klischeehaft klingen - raue Schale, weicher Kern und so -, aber Klischees zeichnen sich schließlich dadurch aus, dass irgendwo meist doch etwas Wahres an ihnen dran ist. - Doch zurück zum vergangenen Samstag. Wie schon erwähnt, wurde unmittelbar vor dem Nightfever die Vorabendmesse zum 3. Adventssonntag gefeiert, und im Evangelium ging es um Johannes den Täufer. Auch so ein rauer Gesell. In dieser Perikope sitzt der Täufer im Gefängnis und bekommt Zweifel, ob Jesus wirklich der Messias sei. Dabei hatte er Ihn doch schon erkannt - laut Lukas 1,41 schon im Mutterleib, und ganz entschieden dann, als Jesus zum ihm kam, um sich von ihm im Jordan taufen zu lassen (vgl. Johannes 1,29-34). Warum also jetzt diese Zweifel? - Sicherlich kann es mehrere mögliche Erklärungen hierfür geben; der Priester, der an diesem Samstagabend in der Rosenkranz-Basilika predigte, betrachtete die Zweifel des Johannes jedenfalls im Zusammenhang mit der Rigidität dieses radikalen Gottesmannes, der, aus der privilegierten Priesterkaste stammend, im härenen Gewand in die Wüste gezogen war, um Buße zu predigen. Kann es sein - so fragte die Predigt, jedenfalls andeutungsweise -, dass dieser Jesus, der mit den Zöllnern und Sündern aß und den Dirnen ihre Sünden vergab, für den Geschmack des Täufers einfach nicht hart genug war?

Freilich sollte man sich hier vor allzu simpel gestrickten Kontrastierungen - der "harte" Johannes, der "weiche" Jesus - hüten: Oft genug erscheint auch Jesus in den Evangelien ausgesprochen schroff. Dennoch gab die Predigt mir zu denken - ganz besonders ein Aspekt, der mir erst nach längerem Nachdenken richtig bewusst wurde: dass nämlich Johannes, dieser kompromisslose Streiter für Gott, im Gefängnis in die Versuchung gerät, eher an dem Mann zu zweifeln, den er zuvor bereits als den Messias erkannt hatte, als seine eigenen Vorstellungen davon, wie der Messias sein müsse, in Frage zu stellen.

Das, so scheint mir, ist ein Gedanke, über den es sich in der verbleibenden Adventszeit zu reflektieren lohnt. Und vielleicht wäre mir das gar nicht so deutlich geworden, wenn ich nicht vor der Kirchentür Valerie begegnet wäre.



1 Kommentar:

  1. Zunächst mal vielen Dank für den wieder einmal hochpersönlichen und zugleich über das Persönliche hinausweisenden Text. Ich habe mich mal informiert, hier in London gibt es alle 6 Wochen auch ein Nightfever, in St Patrick nahe der Tottenham Court Road. Von dieser Initiative wusste ich übrigens nichts, bevor ich hier davon las. Allerdings gibt es in unserer Gemeinde ohnehin eine regelmäßige Aussetzung des Allerheiligsten, so dass es da auch bisher nicht mangelte.

    Ich bin - kurzer Rückgriff auf den Blick Richtung Weihnachten in Nordenham - sehr gespannt auf Ihre Eindrücke von Pfarrer Jasbinscheck, den ich als überaus sympathischen, in Sachen Liturgie aber eher, sagen wir: eigenwilligen Priester erlebt habe. Sollten Sie an Sylvester noch in Nordenham sein und die Messe besuchen, würde mich interessieren, ob er es dort auch so hält wie in seiner letzten Pfarrei in Lengerich. Dort wurde die Predigt immer zu einem Jahresrückblick mit Lichtbildervortrag (Projektionsfläche war die Apsis) umfunktioniert.

    Es mag übrigens sein, dass Sie dazu schon einmal etwas geschrieben haben, aber mich würde auch interessieren, ob Sie, der Sie ja in Berlin leben, schon einmal die Messe in St Adalbert in Mitte oder im Institut St Philipp Neri besucht haben? Dort sollte eigentlich jeder, dem es um einen sorgsamen Umgang mit der Liturgie geht, eine Heimat finden können.

    Eine gute und reinigende Adventszeit wünsche ich!

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