Montag, 11. Januar 2016

Wenigstens gibt's hier keine tanzende Ananasfrau...

Eins mal vorweg: Es ist wahrhaftig an der Zeit, dass ich meinen Blog mit einer neuen Beitragskategorie ausstatte - in die rückwirkend auch ein paar frühere Artikel aufgenommen zu werden verdienen: die Kategorie "Dinge, zu denen mich meine Liebste überredet hat". Zum wiederholten Male hat sich nämlich gezeigt: Wenn mich meine Liebste zu einer gemeinsamen Unternehmung überredet, von der sie nach ca. zehn Minuten selbst denkt "Mein Gott, was habe ich da angerichtet?", dann - tja, dann wird da jedesmal ein Blogartikel draus.

Im aktuellen Fall wollte ich mit meiner Liebsten eigentlich nur gemütlich etwas trinken gehen, und zwar im Stadtteil Friedrichshain. An einem Samstagabend. Finde den Fehler. Nun ja, mit viel Glück bekamen wir zwei sogar nebeneinander gelegene Plätze an der Theke einer Kneipe mit angeschlossenem Kino. Ich glaube, die Betreiber möchten es lieber als Kino mit angeschlossener Kneipe betrachten; so unterschiedlich sind die Prioritäten. Allerdings begann auch meine Liebste, kaum dass wir unsere ersten Getränke bekommen hatten, sich für das Kinoprogramm zu interessieren. Konkreter gesagt, für den Film, der rund eine halbe Stunde später im Kleinen Saal beginnen sollte. Ein Film mit dem Titel Duke of Burgundy. Ich warf einen Blick auf den Flyer zum Film, der an der Theke auslag.

"Ist wohl eher ein Frauenfilm", brummte ich.
Meine Liebste grinste mich herausfordernd an.
"Also, so super-erpicht auf Kino bin ich eigentlich nicht", erklärte ich, "aber wenn du gern möchtest, würde ich mich wohl überreden lassen."
"Ich glaube, dann überrede ich dich mal", erwiderte meine Liebste.

Wir siedelten also in den Kleinen Saal des Kinos um, der etwa dreißig Plätze bot. Nach kurzer Werbung begann auch schon der Film. Entspannte Musik der Gruppe Cat's Eyes, eine Herbstlandschaft mit radelnder Frau, dazu die Namen der Mitwirkenden in Entsteh-und-Vergeh-Schrift. An prominenter Stelle wurden die Verantwortlichen für "Kostüme und Lingerie" sowie für Frisuren und Make-up aufgeführt, was mich zu der Bemerkung veranlasste: "Es IST ein Frauenfilm!" - aber kaum hatte ich das ausgesprochen, da erschien auf der Leinwand der Schriftzug "Perfume by Je Suis Gizelle". BITTE?!?, dachte ich. Gibt's jetzt neuerdings schon Geruchskino? -- Nein, gibt's nicht. Der Film roch ganz normal. Derweil schien ich meiner Liebsten schon leid zu tun. "Mir scheint, das wird wieder so ein Fall wie das Tropeneiland", merkte sie reuig an. "Tatsächlich", erwiderte ich und deutete auf die Leinwand, wo just in diesem Moment ein Wohnzimmerschrank voller präparierter Schmetterlinge zu sehen war. So einen hatte es im künstlichen Regenwald des Tropeneilands nämlich auch gegeben. Hübsch surrealer Effekt, so ein Wohnzimmerschrank mitten in der Botanik.

"Aber hier ist es viel ruhiger als im Tropeneiland", munterte meine Liebste mich auf. "Und es gibt hier keine tanzende Ananasfrau. - Andererseits aber auch keinen Saunabereich", fügte sie hinzu. - "Na, nackte Menschen wird es hier wohl trotzdem zu sehen geben", mutmaßte ich scherzhaft. Da täuschte ich mich allerdings. Aber ich will mir nicht vorgreifen.

Die Handlung des Duke of Burgundy spielt sich weitestgehend in einem herrschaftlichen Haus inmitten ländlicher Idylle ab; dort lebt die Insektenforscherin Cynthia (Sidse Babett Knudsen) und geht ihrer wissenschaftlichen Arbeit nach, während Evelyn (Chiara D'Anna) ihr den Haushalt führt - und dabei von Cynthia nach Kräften tyrannisiert und gedemütigt wird. Die Exposition des Films gipfelt darin, dass Cynthia Evelyn - um sie dafür zu bestrafen, dass sie ihre Schlüpfer nicht richtig gewaschen hat - in den offenen Mund uriniert (was der Zuschauer dankenswerterweise nicht zu sehen, sondern nur zu hören bekommt).

Unmittelbar darauf zeigt sich jedoch, dass es sich bei all diesen Quälereien und Bosheiten tatsächlich um ein erotisches Rollenspiel handelt: Cynthia und Evelyn sind ein Liebespaar, und Evelyn will von ihrer Geliebten ausdrücklich so behandelt werden. Ziemlich rasch wird deutlich, dass in Wirklichkeit Evelyn die Dominante in dieser Beziehung ist, die Cynthia detaillierte Anweisungen gibt, wie sie von ihr erniedrigt und gequält werden will; derweil kostet es Cynthia mehr und mehr Überwindung, die Rolle zu spielen, die Evelyn ihr zugedacht hat. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis Cynthias nur gespielte Grausamkeit Evelyn gegenüber in echte Aggression umschlägt und sie gegen die von Evelyn festgelegten Spielregeln zu verstoßen beginnt.

Theoretisch wäre das der Stoff für einen im wahrsten Sinne des Wortes fesselnden Psychothriller, aber Autor und Regisseur Peter Strickland hat es vorgezogen, einen "künstlerischen" Film daraus zu machen, dessen überambitionierte Bildästhetik die Handlung mehr und mehr überwuchert und erstickt. Ich will nicht leugnen, dass es eine Zeit gegeben hat, in der die Ästhetik des Films mich begeistert hätte - so ungefähr während meines Theaterwissenschafts-Grundstudiums nämlich. Na, lang ist's her. Inzwischen habe ich die Vorzüge einer stringenten Dramaturgie schätzen gelernt.

In einer Szene des Films musste ich sogar - zur erheblichen Irritation der vor mir Sitzenden - mit einem heftigen Lachanfall kämpfen: Cynthia hält - vor einem rein weiblichen Publikum - einen Vortrag über zwei verschiedene Grillenarten, die nur an der Frequenz ihres Zirpens unterschieden werden können; und die anwesenden Frauen lauschen gebannt und mit einem geradezu heiligen Ernst den Hörbeispielen des Vortrags. Der Film trollt uns, dachte ich. Er hält uns den Spiegel vor: Das sind WIR, diese ehrfürchtig den Grillengeräuschen lauschenden Frauen. (Also, ich natürlich nicht.)

Interessant fand ich den Film aber doch, und zwar als Debattenbeitrag zu Themen wie "Sexuelle Vielfalt", "Sexuelle Selbstbestimmung" und "Rape Culture". Ob der Film dies überhaupt intendierte, sei indes mal dahingestellt. Rape Culture etwa konnte der Film ja gar nicht darstellen, denn die geht bekanntlich per definitionem von Männern aus - und Männer gibt es in diesem Film nicht, es sind jedenfalls nie welche zu sehen, nicht einmal flüchtig. Der Film scheint in einer Welt zu spielen, die nur von Frauen bewohnt wird - Frauen und Insekten, um genau zu sein. Das trägt ebenso zur surrealen Atmosphäre des Duke of Burgundy bei wie der betonte Retro-Chic der Ausstattung: Kleidung, Mobiliar und technische Geräte (Schreibmaschine, Plattenspieler) scheinen etwa auf die Mitte des 20. Jahrhunderts hinzudeuten, aber gleichzeitig sieht es nicht nach authentischem Zeitkolorit aus, sondern nach imitiertem. Der Film könnte also ebensogut in der Zukunft spielen, nach dem Atomkrieg z.B. oder nach einem rätselhaften Epidemie, die alle Männer dahingerafft, die Frauen aber verschont hat. Oder so. Irgendwie haftet der Welt dieses Films jedenfalls etwas vage Apokalyptisches an.

Doch zurück zum Thema: Sexuelle Vielfalt, Sexuelle Selbstbestimmung und das düstere Gegenstück zu letzterer, die Rape Culture. Dass heterosexuelle Beziehungen prinzipiell gewaltbesetzt seien und Frauen darin grundsätzlich unterdrückt würden, mag im feministischen Diskurs eine Extremposition sein, aber es gibt diese Position durchaus. Im Umkehrschluss mag man sich homosexuelle Beziehungen unter Frauen als gewissermaßen "herrschaftsfreie Räume" vorstellen, aber da erzählt der Duke of Burgundy eine entschieden andere Geschichte. Die Handlung des Films bezieht ihre Spannung und Faszination sehr wesentlich daraus, dass in der sadomasochistischen Beziehung, die dort gezeigt wird, die masochistische Evelyn tatsächlich die Stärkere ist und, indem sie sich misshandeln und erniedrigen lässt, ihre Partnerin emotional missbraucht und rücksichtslos für ihre erotischen Obsessionen instrumentalisiert. Das ist sehr eindringlich dargestellt und wirft weit reichende Fragen auf.

In den derzeit sehr kontrovers diskutierten Bestrebungen zur Förderung der Akzeptanz sexueller Vielfalt und sexueller Selbstbestimmung spielt das Prinzip der Einvernehmlichkeit als vermeintlich einziges Kriterium für die ethische Legitimität verschiedener Spielarten von Sexualität eine zentrale Rolle: Erlaubt ist demnach alles, solange alle Beteiligten es freiwillig tun. Was im Umkehrschluss übrigens bedeutet, dass alles, worüber keine explizite Einvernehmlichkeit erzielt wurde, verboten ist. Der Unterschied zwischen einem Küsschen, bei dem nicht vorher um Erlaubnis gefragt wurde, und einer Vergewaltigung ist da nur noch graduell. Diese Auffassung hat unlängst die Bloggerin Simcha Fisher in einem Artikel über den 40er-Jahre-Filmschlager "Baby, It's Cold Outside"  kritisch unter die Lupe genommen; besagtem Song ist nämlich in den USA in jüngster Zeit vorgeworfen worden, ein Paradebeispiel für "Rape Culture" zu sein. "Humbug", urteilt Simcha Fisher. "This is what happens when we’re all trained to see consent as the highest good."

Für den Begriff "consent", wie er in diesem Kontext im englischsprachigen Raum verwendet wird, gibt es keine genaue deutsche Entsprechung; um sein volles Bedeutungsspektrum abzudecken, benötigt man im Deutschen ein ganzes Bündel von wenn auch eng miteinander verwandten Begriffen: Einvernehmlichkeit, Einverständnis, Einwilligung, auch Einwilligungsfähigkeit. Besonders Letztere wird uns im Zusammenhang mit dem Duke of Burgundy noch beschäftigen. Aber hören wir zunächst weiter Simcha Fisher zu:
"Consent isn’t valuable in itself. It’s only a good thing because it’s in service to other things — higher things with intrinsic value, such as fidelity, free will, self sacrifice, respect, happiness, integrity, and . . . love. These are all things that you can’t have unless you have consent. But when all you look for is consent, and you ignore the context, you get two human beings who see each other in rigid roles — business partners with black and white contractual obligations. In short, you have what modern people say they despise about the bad old days: love as a business Arrangement." 
("Einvernehmlichkeit ist kein Wert an sich. Sie ist nur darum gut, weil sie zu anderen Dingen dient - zu höheren Dingen mit einem intrinsischen Wert, wie zum Beispiel Treue, freier Wille, Selbstaufopferung, Respekt, Glück, Integrität und... Liebe. Alle diese Dinge sind nicht möglich ohne Einwilligung. Aber wenn Einvernehmlichkeit alles ist, worauf man Wert legt, und der Kontext ignoriert wird, läuft das auf zwei Menschen hinaus, die einander in festgelegten Rollen sehen - Geschäftspartner mit schwarz auf weiß festgelegten vertraglichen Pflichten. Kurz gesagt, es kommt genau das dabei heraus, was moderne Menschen vorgeblich so sehr an den bösen alten Zeiten verabscheuen: Liebe als geschäftliche Übereinkunft.")

Das trifft, auch wenn Simcha Fisher einen völlig anderen Ausgangspunkt für ihre Beobachtungen genommen hat, Punkt für Punkt auf die Beziehung zwischen Cynthia und Evelyn im Duke of Burgundy zu. Sie sind gefangen in festgelegten Rollen und müssen je ihren Teil der vertraglichen Pflichten erfüllen; und sobald eine von ihnen - Cynthia - den Anforderungen dieser Übereinkunft emotional nicht mehr gewachsen ist, beginnt alles auseinanderzubrechen. Der Film macht mit schmerzhafter Eindringlichkeit deutlich, dass eine missbräuchliche Beziehung auch dann missbräuchlich bleibt, wenn sie vermeintlich auf Einvernehmlichkeit beruht; ja, die Annahme, das Prinzip der Einvernehmlichkeit könne auch sadomasochistische Beziehungen ethisch legitimieren, wird von Grund auf ad absurdum geführt, indem die Filmhandlung vorführt, dass über eine missbräuchliche Beziehung gar kein Konsens bestehen kann:  Die Verhaltensmuster der Beteiligten, und zwar beider, tragen einen so obsessiven, suchthaften Charakter, dass freier Wille, und damit Einwilligungsfähigkeit, gar nicht in Betracht kommt.

Ob Autor und Regisseur Peter Strickland diese Aussage tatsächlich intendiert hat - oder womöglich sogar eine gänzlich gegenteilige -, bleibt, wie schon gesagt, unklar. Sadomasochistische Rollenspiele unter Frauen scheinen in der männerlosen Welt des Duke of Burgundy jedenfalls mehr oder weniger normal zu sein - was sich an zwei Stellen der Handlung zeigt: Einmal will Evelyn für sich und Cynthia ein Bett anfertigen lassen, das es ermöglicht, sie im Bettkasten einzusperren; die Frau, die den Auftrag entgegennimmt, betont die große Nachfrage nach derartigen Produkten und erwähnt, erst kürzlich ein solches Bett für eine Nachbarin angefertigt zu haben. Und dann gibt es noch eine Eifersuchtsszene, die sich darum dreht, dass Evelyn einer anderen Frau die Stiefel poliert hat und sich von ihr hat beschimpfen lassen - was Cynthia als Fremdgehen auffasst.


Kurz vor Schluss sieht es übrigens für einige Augenblicke so aus, als wolle Strickland dem Publikum allen Ernstes ein Happy End auftischen. Da wäre ich dann aber richtig sauer gewesen...



 

1 Kommentar:

  1. Kleine Anregung für's nächste Mal in solchem Fall:
    Bei Einvernehmen die Veranstaltung baldmöglichst verlassen...
    Ob's die Zeit und Energie für die Erstellung eines Blogs wert ist, müssen Sie dann entscheiden.
    Nach meinem Geschmack eher nicht...

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