Freitag, 4. November 2011

Durchs wilde Feuilletonistan

Durch die Wüste, unter Geiern /
Musst du gurken, must du eiern.
Axel Sanjosé

Am 30.03.1912 starb in Radebeul bei Dresden der große Abenteuerschriftsteller Karl May; dieses Datum jährt sich demnächst zum 100. Mal. Und natürlich lassen Fachwelt und Medien es sich nicht nehmen, einen Künstler, dessen Schöpfungen sich tief ins kollektive (Unter-)Bewusstsein der Deutschen eingeprägt haben, anlässlich dieses runden Todestages nach Verdienst zu würdigen. Ebenso natürlich ist es, dass dabei niemand der Letzte sein will, sodass die besagten Würdigungen schon heuer ihren Anfang nehmen. So sind im laufenden Jahr bereits einige neue Biographien des "Maysters" erschienen, und von einer dieser Neuerscheinungen habe ich jüngst ein Rezensionsexemplar zugeschickt bekommen. Das heißt dann wohl, dass ich das Buch jetzt rezensieren muss. Wohlan denn! - Vorerst beschränke ich mich aber darauf, meine Lektüreerlebnisse nur meinem Blog anzuvertrauen. Autor und Verlag werden es mir, so hoffe ich, danken.


"Karl May - Untertan, Hochstapler, Übermensch" heißt das im Siedler-Verlag erschienene Buch von Rüdiger Schaper; der Titel entlockt mir schon mal ein Stirnrunzeln. Neugierig macht jedoch die Verlagswerbung, die verspricht, der Autor wage "einen völlig neuen Blick" auf Karl May.
- - - Nun gut. Lesern, für die der Name Karl May eine ferne Erinnerung an eine einst heiß geliebte Kindheits- und Jugendlektüre bedeutet oder die ihn womöglich nur durch die populären, aber wenig werkgetreuen 60er-Jahre-Verfilmungen mit Lex Barker und Pierre Brice (und/oder Michael "Bully" Herbigs durchaus kongeniale Parodie Der Schuh des Manitu) kennen, dürfte das Buch tatsächlich manch neue Perspektive eröffnen, und für genau solche Leser ist es offenbar in erster Linie geschrieben. Wer sich hingegen in Leben und Werk Karl Mays einigermaßen auskennt und womöglich auch schon mal in die wissenschaftliche Sekundärliteratur über den "Mayster" 'reingeschnuppert hat, dem wird Schapers Biographie inhaltlich nicht viel Neues bieten können. Aber Inhalt ist ja nicht alles - zumal der, im unmittelbaren Vorfeld des anstehenden "May-Jahres", ohnehin kein Alleinstellungsmerkmal sein kann. Lassen wir den Inhalt also vorerst beiseite und fragen lieber: Wie sieht's mit dem Stil aus?


"Stil", so schrieb Karl May anno 1899 in einer polemischen Auseinandersetzung mit seinen Kritikern, "ist die literarische Schnurrbartbinde, die sorgfältig und mit vieler Mühe eingeplättete Kavalierfalte an der Schriftstellerhose. Es gibt Schriftsteller, welche weder Geist noch Kenntnisse noch sonst etwas haben als nur den Stil." Autoren, wie May sie hier beschreibt, wurden schon damals gern Feuilletonisten; deshalb hatte May es so schwer mit ihnen. Blättert man heute in den Feuilletons namhafter deutscher Zeitungen, so hat man den Eindruck, dort wird unter "Stil" die Technik verstanden, nur mäßig originelle oder tiefgründige Aussagen mit Hilfe von überflüssigen Imponierwörtern aus dem Lateinischen oder Französischen (vice versa, avant la lettre, ad libitum, comme il faut, nolens volens), lahmen Wortspielen, verfremdeten Zitaten, völlig kontextferner Bildungsprotzerei und genialisch-elliptischem Satzbau so weit aufzublasen, dass der Leser darüber die Dürftigkeit des Inhalts aus den Augen verliert. Das Fatale daran ist: Dieser Stil ist ansteckend. Ich habe mal eine Germanistik-Dozentin den schönen Satz sagen hören: "Wenn man Goethes Hermann und Dorothea gelesen hat, kann man anschließend auch sein Abendessen in Hexametern bestellen - aber Kunst ist das deswegen noch lange nicht." Mit dem Feuilletonstil ist es noch schlimmer: Er ist nicht nur leicht nachzuahmen, sondern es ist schwer, ihn nicht nachzuahmen. Liest man so etwas regelmäßig, muss man sich sehr zusammenreißen, nicht selbst so zu schreiben; gerade hier in meinem Blog spüre ich das am eigenen Leibe. May-Biograph Schaper aber leitet im Hauptberuf das Kulturressort des Berliner Tagesspiegels; wie sollte man ihm da verübeln, dass er nicht anders kann als Feuilletonstil schreiben?


Das eigentlich Ärgerliche am gängigen Feuilletonstil ist aber, dass er nicht einfach nur eine zur Konvention gewordene sprachliche Form ist, sondern auch eine bestimmte Haltung gegenüber dem behandelten Gegenstand ausdrückt: die Haltung des geistigen Flaneurs. Gepflegtes Desinteresse, joviale Herablassung, olympische Langeweile. Der Feuilletonist, der diese Pose gründlich studiert hat, kann über alles schreiben, was ihm vor die Flinte kommt - in Wirklichkeit schreibt er dabei immer nur über sich selbst. Ein Großmeister dieser eitlen Selbstbespiegelung ist der jetzt hauptamtlich bei der Frankfurter Rundschau, daneben aber auch immer mal wieder für die Berliner Zeitung tätige Arno Widmann; dem Herrn Schaper von der Westberliner Konkurrenz darf man attestieren, dass er es gar so arg wie jener nun doch nicht treibt. Die May-Biographie war, wie man hört, eine Auftragsarbeit seitens des Verlags; aber der Autor gibt sich erkennbar Mühe, sein Thema interessant zu finden und somit auch für den Leser interessant zu machen. Leider jedoch ist ein Feuilletonist an Abwechslung gewöhnt; 233 Seiten nur über Karl May zu schreiben, wird da schnell langweilig, wenn man sich nicht nebenbei noch über Christoph Schlingensiefs Wagner-Inszenierungen, Helene Hegemanns Axolotl Roadkill, Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab und Günter Grass' Memoiren auslassen darf. Doch keine Sorge, die Kunst der Abschweifung gehört zum Handwerk, und so lässt Rüdiger Schaper es sich nicht nehmen, all diese Namen und Themen (und noch viele mehr) in seinem Karl-May-Buch gleich mit abzuhandeln oder zumindest kurz anzureißen. Zu beobachten, auf welchen abenteuerlichen assoziativen Pfaden er dabei von einem Thema zum anderen kommt, macht beinahe Spaß.


Aber eben nur beinahe. Denn auch hier beschleicht den Leser immer wieder der Verdacht, der Autor spiegle in allem, was und worüber er schreibt, letztlich nur sich selbst. Er kann sich nicht hinter sein Thema zurücknehmen, er macht es umgekehrt. Schon nach einer sechseinhalb Seiten langen Einleitung geht ihm zum ersten Mal die Luft aus, und er schildert erst einmal seitenlang eine (selbstverständlich dienstliche) Reise nach Burkina Faso, um dann auf allerlei Um-, Ab- und Schleichwegen überraschend doch wieder auf Karl May zurückzukommen. Im weiteren Verlauf reflektiert Schaper dann über Kindheits- und Pubertätserfahrungen - nein, "reflektiert" ist hier schon zu viel gesagt: Er beschwört sie, zitiert sie herbei, die Geister der Vergangenheit: sein jüngeres Ich, sein "Inneres Kind", wie manche Psychologen sagen. Zwar bindet er diese Kindheitsimpressionen immer wieder zurück an Karl-May-Erlebnisse, im Kino oder lesend unter der Bettdecke, aber der Firnis ist zu dünn, die Konstruktion zu wacklig: Allzu deutlich spürt der Leser, dass Schaper das vorgebliche Thema seines Buches nur als Erzählanlass benutzt, als Ausgangspunkt für immer neue, frei flottierende Assoziationen. - Man muss freilich gestehen, dass diese Arbeitsweise durchaus Ähnlichkeit mit der Erzähltechnik Karl Mays hat: Auch bei diesem wird die Handlung, der "Plot" des jeweiligen Romans immer wieder überwuchert und in den Hintergrund gedrängt durch Episoden, Exkurse, autobiographische Einsprengsel. Aber Rüdiger Schaper ist nun mal nicht Karl May - auch wenn er es vielleicht gern wäre. (Vergleicht man das vordere Umschlagbild des Buches - Karl May im Old-Shatterhand-Kostüm - mit dem kleinen Porträtfoto Schapers auf der hinteren Umschlagklappe, dann stellt man allerdings eine irritierende Ähnlichkeit fest. Wüsste man nicht, dass das Titelbild authentisch ist - es erschien 1896 als Illustration zu Mays selbstironischer Glosse Freuden und Leiden eines Vielgelesenen in der Zeitschrift Deutscher Hausschatz und wurde auch als Autogrammkarte verbreitet -, dann könnte man auf die Idee kommen, Schaper hätte sich selbst ins westmännische Superheldendress geworfen.)


Im Zusammenhang mit dem viel diskutierten Paradox des "Reiseschriftstellers", der tatsächlich nur mit dem Finger auf der Landkarte reist, erwähnt Schaper das 1795 erschienene Buch Voyage autour de ma chambre von Xavier de Maistre, einem savoyischen Offizier, der einen 42tägigen Hausarrest dazu nutzte, das Innere seiner vier Wände im Stil eines Reiseberichts zu beschreiben. Dieser Exkurs verrät dem Leser mehr, als Schaper beabsichtigt haben dürfte: Unversehens erkennt man seine vermeintliche Karl-May-Biographie als 233 Seiten lange Reise des Autors durch seinen eigenen Brägen.
(Für Dialekt-Unkundige: ndt. "Brägen" = "Kopf, Gehirn"; vgl. engl. "brain".)


Den Schaden davon hat in erster Linie Karl May. Zwar bezeichnet Schaper ihn wiederholt als "Genie", das hundert Jahre nach seinem Tode endlich als solches anerkannt werden solle; aber im Grunde weiß er mit einem "Genie" gar nichts anzufangen, also holt er May schnell wieder von diesem Sockel herunter und bespricht Leben, Werk und Wirkung des "Maysters" in einem so Feuilleton-typisch saloppen Tonfall, dass man schon von Banalisierung sprechen muss. Dabei scheint es Schaper nicht im geringsten bewusst zu sein, wie sehr er der "Gefahr, die ohnehin flache Karl-May-Rezeption fortzuschreiben" - vor der er auf S. 123 warnt - selbst erliegt. Da hilft es auch nichts, dass er premanent assoziative - aber eben nur assoziative - Querverbindungen zwischen May und anerkannten Größen der Hochkultur (wie Büchner, Thomas Mann, Kafka und immer wieder Wagner und Nietzsche) zieht. Dass sein Buch wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügt - schon deshalb nicht, weil er die zahlreichen, zum Teil sehr umfangreichen Zitate, die er bringt, nirgends belegt und nicht einmal ein Literaturverzeichnis angelegt hat -, dürfte Schaper kaum bekümmern; dass er aber die wissenschaftliche Sekundärliteratur zu Karl May in Bausch und Bogen abqualifiziert, die Forschungen der 1969 gegründeten Karl-May-Gesellschaft als Bemühungen von "kleingärtnerischen, kaninchenzüchtenden Hobby-Exegeten" (S. 176) bespöttelt und - wie Alfred Polgar sagen würde - "von unten herab" über die intellektuell anspruchsvollen Karl-May-Studien Arno Schmidts und Hans Wollschlägers herzieht, gereicht ihm nicht gerade zur Empfehlung.


Steht Rüdiger Schaper demnach mit der Fachwissenschaft auf Kriegsfuß, so ist er umso mehr in seinem Element, wenn er die "popkulturelle" Seite des Phänomens Karl May in den Fokus nimmt. Originell ist, dass er besonders das vielschichtige, symbolbeladene Alterswerk Mays unter diesem Aspekt beleuchtet. Wenn er eine Szene aus Mays letztem Roman Winnetou IV (1910), in der ein Gemälde Sascha Schneiders, Winnetous Himmelfahrt darstellend, effektvoll auf einen Wasserfall projiziert wird, assoziativ mit Leuchtreklame in Las Vegas oder gar mit Disneyland in Verbindung bringt oder wenn er Parallelen zwischen Mays vorletztem Roman Ardistan und Dschinnistan (1909) und James Camerons Hollywood-Blockbuster Avatar (2009) aufzeigt, gerät ihm das zwar - bedingt durch die unbezwingbare Oberflächlichkeit seiner Schreibe - nur teilweise überzeugend; immerhin gelingt es ihm damit aber, Berührungsängste gegenüber dem von Teilen der May-Forschung, allen voran von Hans Wollschläger, in den Olymp der "Großen Dichtung" erhobenen "Spätwerk" Mays abzubauen, indem er aufzeigt, dass auch die vermeintlich so anspruchsvollen späten May-Romane einfach Spaß machen können. Dies ist die eigentlich originäre Leistung von Schapers May-Biographie, und in diesem einen Punkt ist auch die Verlagswerbung, der zu Folge Schaper einen "völlig neuen Blick" auf Karl May wage, nicht übertrieben. Schade, dass er sich nicht stärker auf diesen Aspekt konzentriert hat. Dem Buch hätte es gut getan.

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