Mittwoch, 20. Februar 2019

Mit mancherlei Beschwerden: Katholisch in Butjadingen 1946-63

...und was das mit der #BenOp zu tun hat 

Ich hatte ja bereits angekündigt, dass ich zu dem Buch "Wider das Vergessen!", das mir ein Leser zugeschickt hat - einer Chronik über die katholischen Kirchengemeinden in Nordenham-Einswarden und in Butjadingen - noch allerlei zu schreiben haben würde; und das nicht nur aus historischem, "heimatkundlichem" und irgendwo auch autobiographischem Interesse, sondern ganz wesentlich auch deshalb, weil das Thema "Gemeindegründungen durch Heimatvertriebene nach dem II. Weltkrieg" mir in Hinblick auf gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen christlichen Lebens in einer zunehmend glaubensfeindlichen Umwelt faszinierende Impulse zu versprechen scheint. Ich war entzückt, bereits im Vorwort des Buches auf einen Absatz zu stoßen, der genau diesen Aspekt hervorhebt: 
"Besonders aber möchten wir darstellen, wie gläubige Menschen unter schwierigsten Bedingungen ihr 'Kirche sein' lebten und feierten. Wir finden es bewundernswert, wie Christen damals ihren Glauben lebendig gestalteten und davon Zeugnis gaben. Dies gilt in besonderer Weise für die Flüchtlinge und Vertriebenen, die hier oft nur mit dem, was sie auf dem Leibe trugen, ankamen und nun fern ihrer Heimat und vieler sozialer Beziehungen in einer fremden Umwelt sich heimisch machen mussten. Es scheint uns, dass wir von solchen Vorbildern für unsere Zeit Anfang des 3. Jahrtausends viel lernen können. Ihr Mut und ihre Glaubensfestigkeit wären heute dringend notwendig, wenn wir weiterhin vom 'christlichen Abendland' sprechen wollen." (S. 6f.) 
Sicherheitshalber sei angemerkt, dass dieser Text von 2010 stammt und dass der Begriff des "christlichen Abendlandes" damals noch nicht im selben Maße wie heute politisch-ideologisch aufgeladen und umkämpft war. Aber nun mal direkt rein in die Historie: Am 22. Juni 1946 kam in dem Küstendorf Burhave, in dem ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe, ein Zug mit Vertriebenen aus Schlesien an; der Großteil der Ankömmlinge stammte aus dem Städtchen Bielau bei Neisse in Oberschlesien, und sie hatten ihren Pfarrer bei sich. "Auf die Frage eines Eisenbahners: 'Leute, was wollt ihr hier? Hier ist doch die Welt zu Ende.' erklärten sie, solange mitzufahren, solange der Pfarrer fährt", heißt es in der Chronik (S. 50). Der Pfarrer, Augustin Schinke, der den Titel eines Geistlichen Rats trug, berichtete später,
"dass er auf dem Bahnsteig einen Herrn stehen sah, der ihn zu sich winkte, sich als 'Märtens' vorstellte und sagte: 'Das ist schön, dass Sie mitgekommen sind.' Rat Schinke hatte den Eindruck, dass er hier direkt erwartet worden wäre. Das Ehepaar Märtens war das einzige katholische Ehepaar in Burhave. Sie waren vor dem Krieg aus Berlin nach Burhave geflohen, da dort der Cousin von Herrn Märtens wohnte." (ebd.) 
Man muss sich das mal vorstellen: Da lebt man als einziges katholisches Ehepaar in einem Dorf "am Ende der Welt", und eines Tages steigt eine ganze katholische Gemeinde einschließlich Pfarrer aus dem Zug... Unter den rund 60 Gemeindemitgliedern, die bis zum letzten Haltebahnhof des Vertriebenenzuges bei ihrem Pfarrer ausgeharrt hatten, waren übrigens meine Oma mit meinem damals drei Jahre alten Vater, ihre ältere Schwester und deren Mann mit drei Söhnen, mindestens eine Cousine meiner Oma und noch mehrere Frauen, die ich als Kind mit "Tante" ansprach, allerdings bis heute nicht genau weiß, ob und wenn ja wie genau sie mit mir verwandt waren. Das nur mal als Hinweis darauf, wie nah diese Geschichte an mir persönlich dran ist.

Die Ankömmlinge wurden zunächst im großen Saal des Hotels "Zum Eisernen Kanzler" untergebracht, wo sie auf Strohlagern schliefen; "die Verpflegung lieferte eine Volksküche und als Badewanne stand die Nordsee zur Verfügung" (S. 51). Der Pfarrer von St. Willehad in Nordenham, Johannes Hillen, suchte den Rat Schinke auf und "bat seinen Mitbruder, in Burhave zu bleiben und dort die Seelsorge zu übernehmen" (ebd.); einige Monate zuvor war mit einer anderen Gruppe von Vertriebenen bereits ein Franziskanerpater "aus Carlowitz bei Breslau" in Burhave angekommen, hatte den kleinen Ort aber "bald wieder verlassen" (S. 50).

Rat Schinke meldete sich daraufhin schriftlich beim Bischöflich Münsterschen Offizialat und stellte sich "zur Arbeit gerne zur Verfügung. Er fühle sich körperlich und geistig frisch, wenn er auch wegen seines Alters nicht als 'Streckenläufer' in Frage käme" (S. 51). Der Geistliche war zu diesem Zeitpunkt bereits 66 Jahre alt, er war seit 1920 Pfarrer in Bielau gewesen und hatte wahrscheinlich schon meine in jenem Jahr dort geborene Oma getauft. "Mit Schreiben vom 1. Juli 1946" ernannte das Offizialat in Vechta Rat Schinke zum Hilfsgeistlichen der Nordenhamer Pfarrei und betraute ihn "insbesondere mit der Seelsorge von Burhave und Umgebung" (ebd.).

Währenddessen verhandelte Pfarrer Hillen mit der britischen Militärverwaltung in Brake (Unterweser) über die Einrichtung einer Niederlassung der Kongregation der Schwestern von der heiligen Elisabeth in Burhave; am 30. Juli bezogen drei Ordensschwestern (von denen ich eine, Schwester Xaveria, in meiner Kindheit noch kennengelernt habe) drei Zimmer in einem größeren Privathaus, ein weiterer Raum des Hauses wurde ihnen für eine Kapelle zur Verfügung gestellt. Da sie fürchteten, der Kapellenraum könne ihnen wieder weggenommen werden, um dort weitere Vertriebene einzuquartieren, stellten sie einen Tisch als provisorischen Altar hinein; "[e]in amerikanischer Dominikanerpater schenkte ihnen die notwendigsten Geräte zur Einrichtung ihrer Kapelle" (S. 52). Mit einem Schreiben vom vom 15. August 1946 errichtete das Bischöflich Münstersche Offizialat diesen Raum offiziell "als halböffentliche Kapelle unter dem Titel 'S. Cor B.M. Virginis'":
"Demnach können von jetzt an der Gottesdienst und die kirchlichen Funktionen gemäß CIC can 1193 stattfinden.
Da die Kapelle gleichzeitig den Schwestern als Hauskapelle dienen soll, gestatten wir auch, dass dort das Allerheiligste aufbewahrt wird. Für die Aufbewahrung des Allerheiligsten sind die Vorschriften der Instruktion der Sakramentenkongregation vom 26.5.1938 (vgl. Kirchl. Amtsblatt 1939 Art. 64) zu beachten.
Ew. Hochwürden erhalten hiermit die Erlaubnis, der Kapelle den im Rituale Romanum (Titul. VIII. Cap. 27) für Kirchen und öffentlichen Kapellen vorgesehenen Weihesegen zu geben.

Der Kapellenraum darf gemäß CIC can. 1192 § 3 und can. 1196 § 2 nicht mehr zu profanen Zwecken gebraucht werden.
Wir gestatten, dass am Tage der Einweihung eine Missa votiva solemnis von der Mutter Gottes zelebriert wird, soweit die Rubriken es gestatten." (S. 52f.) 

Am 22. August 1946, dem Fest vom Unbefleckten Herzen Mariens, um 8 Uhr morgens wurde die Kapelle durch den Geistlichen Rat Schinke mit einem Hochamt eingeweiht. "Von diesem Tag an war jeden Tag Frühmesse" (S. 53). Der evangelische Pastor Kiausch erlaubte der katholischen Gemeinde, in "seiner" Kirche Sonntagsmessen zu feiern. "Die Messdiener hatten keine eigenen Gewänder und liehen sich, damit sie nicht barfuß dienen mussten, von ihren Müttern Schuhe" (ebd.).

Goldenes Priesterjubiläum des Geistl. Rates Augustin Schinke in Burhave, 1953. 
In Stollhamm, gut 7 Kilometer weiter landeinwärts, wurde mit Wirkung zum 1. April 1947 Pfarrer Otto Scholz zum Hilfsgeistlichen für die seelsorgerliche Betreuung der dortigen Katholiken ernannt. Er war ab 1943 Pfarrer in Markt Bohrau (Niederschlesien) gewesen und hatte sich für die Stelle in Stollhamm freiwillig gemeldet, nachdem er erfahren hatte, dass ein beträchtlicher Teil seiner früheren Gemeinde dorthin umgesiedelt worden war. Die Chronik hebt hervor, dass der 1908 geborene Pfarrer Scholz "[s]chon als junger Kaplan" mehrfach ins Visier der Gestapo geraten und vor Gericht gestellt worden war; nach Kriegsende war er dann "von der polnischen Miliz verhaftet und schwer misshandelt" worden (S. 79f.).

In Stollhamm waren schon seit Anfang 1945 mehere Gruppen von "Bombenflüchtlinge[n]" eingetroffen, von denen "fast alle katholisch waren" (S. 79); im Frühjahr und Sommer 1946 kamen dann in größerer Zahl Vertriebene aus Schlesien hinzu. Bis zur Beauftragung von Pfarrer Scholz wurden sie "von Pfarrer Hillen aus Nordenham und anderen Priestern aus Brake betreut"; bereits am 7. Oktober 1946 wurde in einem "ehemaligen HJ-Heim" eine "einklassige katholische Volksschule eröffnet" (ebd.). Zum 1. Januar 1948 wurde die Seelsorgestelle Stollhamm zum Pfarrrektorat erhoben, die katholische Gemeinde hatte zu diesem Zeitpunkt rund 1.500 Mitglieder. Am 11. Juni desselben Jahres "kam der Bischof von Münster, Dr. Michael Keller, nach Stollhamm und spendete etwa 60 Kindern das Sakrament der Firmung" (S. 80).

Blicken wir an dieser Stelle noch etwas weiter in die Geschichte zurück: Noch im Jahr 1860 "zählte das Butjadinger Land" - wozu auch das heutige Stadtgebiet von Nordenham gerechnet wurde - "unter 13600 Einwohnern 18 Katholiken" (S. 11). Die einsetzende Industrialisierung führte dann zu einem Zuzug von Arbeitskräften aus katholischen Gegenden, zunächst allerdings in eher bescheidenem Ausmaß: Bis zum Jahr 1895 war die Zahl der Katholiken "auf 114 angewachsen. Bei der Volkszählung von 1910 waren von 22318 Einwohnern schon 903 Katholiken" (ebd.) -- und die siedelten sich schwerpunktmäßig dort an, wo es Industriebetriebe gab, also in Nordenham und in Einswarden, damals ein Ortsteil der Gemeinde Blexen, die 1933 nach Nordenham eingemeindet wurde. Im Jahr 1909 wurde die St.-Willehad-Kirche in Nordenham geweiht, sicherlich nicht zufällig in der Nähe der "Kabelkolonie", einer Arbeitersiedlung für Beschäftigte der Norddeutschen Seekabelwerke; in Einswarden, wo ganze 394 der in der Volkszählung von 1910 registrierten 903 Katholiken wohnhaft waren, gab es ab 1911 eine katholische Schule. Eine eigene Kirche (mit dem Patrozinium Herz Jesu) erhielten die Einswarder Katholiken 1928; sie wurde zunächst von einem Kaplan der Nordenhamer Pfarrei St. Willehad betreut. 1940 wurde Herz Jesu Einswarden zum Pfarrrektorat erhoben, blieb aber St. Willehad unterstellt. "Mit dem totalen Zusammenbruch Deutschlands", so heißt es in der Chronik, begann auch "für die kleine Gemeinde in Einswarden eine neue Epoche" (S. 19). Aus dem "Verkündbuch" für das Jahr 1945 wird zitiert:
"Am 5. Mai trat die Kapitulation der deutschen Streitkräfte in Nordwestdeutschland im Kraft; Gefahr vorüber; am 6. Mai (Sonntag) rückten kanadische Truppen hier ein. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, zu Hause zu bleiben; deshalb fiel das Hochamt und die Andacht wegen Nichtbeteiligung aus." (ebd.) 
Durch die Ansiedlung katholischer Heimatvertriebener wurde "[a]us der kleinen Einswarder Gemeinde war so ein riesiger Seelsorgebezirk"; am 7. September 1945 fand in der Kirche Herz Jesu Einswarden "zum ersten Mal  eine Firmung statt" (ebd.). Im Dezember wurde Wilhelm Witten neuer Pfarrrektor. "Unter ihm blühte das religiöse Leben auf, denn die Vertriebenen brachten aus ihrer Heimat religiöse Bräuche und Lieder mit. Die Teilnahme an den Gottesdiensten und Mitarbeit in verschiedenen Gruppen und Kreisen war für viele eine Selbstverständlichkeit." (S. 19f.) Zuvor habe es in Einswarden "noch kein richtiges Gemeindeleben" gegeben, heißt es in der Chronik. Das änderte sich nun "schlagartig". 1948 fand in Einswarden erstmals eine Fronleichnamsprozession statt; der Pfarrsaal der Gemeinde war Ende der 1940er-Jahre "voll ausgelastet": 
"Montag: Jugendgruppe (10-14), abends Gesangverein
Dienstag: Schulentlassungsunterricht, Nähstube und abends Jugendgruppe der Mädchen
Mittwoch: Caritasausschuss, Versammlung der Männer
Donnerstag: Religionsunterricht
Freitag: Schulentlassungsunterricht, Nähstube und abends Jugendgruppe der Jungmänner
Samstag und Sonntag: Aufenthalt und Arbeitsraum für alle." (S. 21) 

1952 "konnte die Kirchengemeinde Einswarden eine ehemalige HJ-Baracke für DM 15 pro Monat für die Jugendarbeit mieten" (S. 22).

Da ich in einem früheren Artikel über das soziale Gefälle zwischen den Gemeinden von St. Willehad Nordenham und Herz Jesu Einswarden spekuliert habe, erscheint es mir besonders hervorhebenswert, dass die Chronik am Rande erwähnt, bereits 1947 habe es unter den Einswarder Katholiken Unmut darüber gegeben, dass ihr Gemeindestandort gegenüber St. Willehad "benachteiligt" werde -- insbesondere in Hinblick auf die "Verteilung der Patenschaften [...] von Südoldenburgischen Gemeinden auf die Nordoldenburgische Diaspora". "Außerdem gab es - im Gegensatz zu Nordenham - keine Haus und Grundstückseigentümer, die finanziell die Gemeinde unterstützen konnten" (S. 21f.).

Ehe der Geistliche Rat Schinke für Burhave und Pfarrer Scholz für Stollhamm zu Hilfsgeistlichen und dann zu Pfarrrektoren ernannt wurden, war der Einswarder Pfarrrektor Witten gemeinsam mit Pfarrer Hillen von St. Willehad auch für die gottesdienstliche Betreuung der Katholiken in den verschiedenen Dörfern Butjadingens zuständig. In dieser Zeit wurde beim Offizialat in Vechta erwogen, "an den verschiedenen Orten Butjadingens Baracken für die gottesdienstliche Benutzung aufzustellen, damit die Flüchtlinge eine kirchliche Heimat hätten" (S. 20). Als sich in den 50er-Jahren aber allmählich die Einsicht durchsetzte, dass die Vertriebenen nicht so bald (wenn überhaupt je) in ihre Heimat würden zurückkehren können, wurden dauerhaftere Lösungen angestrebt. 

So wurde in Stollhamm bereits im Herbst 1951 ein Grundstück für die Errichtung eines katholischen Gotteshauses erworben. In einem früheren Artikel habe ich geschrieben, die 2014 profanierte Christ-König-Kirche in Stollhamm sei "ein ehemaliger Pferdestall, wenn ich richtig informiert bin"; die Chronik weiß es jedoch besser bzw. genauer: Tatsächlich gab es beim Erwerb des betreffenden Grundstücks zunächst "die Absicht, aus dem anhängenden Stallgebäude eine Kapelle zu bauen", allerdings erwies sich das Gebäude als "zu baufällig und damit ungeeignet", weshalb an seiner Stelle ein Neubau errichtet werden musste (S. 81). "Der erste Spatenstich erfolgte am 25. September [1952], die Grundsteinlegung am 19. Oktober" (ebd.); der Text der Urkunde zur Grundsteinlegung wird in der Chronik vollständig wiedergegeben, ich möchte mich hier hingegen auf einige Auszüge konzentrieren:
"Am 19. Oktober, dem Festtag des hl. Petrus Alcantara, im 13. Jahre des Pontificates unseres glorreich regierenden Hl. Vaters Papst Pius XII., unter dem Diözesanbischof Dr. Michael Keller von Münster [...], wurde den Fundamenten dieser zur Ehre Gottes geplanten Katholischen Kirche in Stollhamm unter den Gebeten der Kirche feierlich der Grundstein eingefügt. 
Christus dem König
soll das neue Gotteshaus geweiht werden.
[…]
Möge die neue Christ-König-Kirche in Stollhamm in dieser Zeit fortschreitender Entchristianisierung des öffentlichen und privaten Lebens die Katholiken immer wieder zu Christus dem Könige rufen und in Seinem Dienste dazu führen, das eigene Leben in Familie und Ehe, in der Welt des Berufes und im öffentlichen Leben in Seinem Geiste und nach Seinem Willen zu gestalten.
'Ihm, der uns lieb hat und uns in Seinem Blute gewaschen und zu Seinem Königtum gemacht hat und zu Priestern für Gott Seinen Vater: Ihm gebührt die Herrlichkeit und die Macht in alle Ewigkeit." (S. 81ff.) 
Interessant ist nicht zuletzt auch, was die Grundsteinlegungs-Urkunde über die Finanzierung dieses Kirchenbauprojekts verrät:
"Mit Gottes Hilfe konnte, dank der verständnisvollen Förderung durch das Bischöflich Münstersche Offizialat in Vechta, durch die tatkräftige Hilfe des Bonifatiusvereins in Paderborn und Münster, durch das opferbereite Helfen der kath. Gemeinden im Münsterland und Südoldenburg und durch die Opfer der Heimatvertriebenen selbst, das fromme Werk des Kirchbaues begonnen werden." 
Und durch die Opfer der Heimatvertriebenen selbst. Lassen wir uns das mal auf der Zunge zergehen. Wir sprechen hier von Menschen, die durch Krieg und Vertreibung ihre gesamte Existenzgrundlage verloren haben, die von ihrem früheren Besitz nur so viel gerettet haben, wie sie tragen konnten, und nun in fremder Umgebung gerade damit angefangen haben, sich eine neue Existenz aufzubauen. Und in so einer Situation bringen diese Leute es fertig, den Bau einer Kirche mitzufinanzieren. Offenkundig aus der Überzeugung heraus: Wenn wir hier bleiben sollen, dann brauchen wir hier eine Kirche. Ich weiß nicht, wie es Dir geht, Leser, aber mich bewegt das sehr.

In Burhave sperrte sich derweil der Gemeinderat gegen das Projekt der Errichtung einer katholischen Kirche, "nur der Bäckermeister betonte immer wieder, dass eine solche notwendig sei" (S. 56). Als Glücksfall für die katholische Minderheit am Ort erwies es sich, dass eines ihrer Mitglieder, Theo Terwiel, zum Kurdirektor des aufstrebenden Nordsee-Badeortes avancierte und bald im Ruf stand, "der heimliche Bürgermeister" zu sein (ebd.). "Immer wieder setzte er diese Frage [der Genehmigung zur Errichtung einer katholischen Kirche] als letzten Punkt auf die Tagesordnung des Gemeinderates, bis dieser ihn endlich durchwinkte" (ebd.). Eine günstige Gelegenheit ergab sich, als der Burhaver Gemeinderat den Bau einer neuen Schule beschloss, da "[d]as damalige Volksschulgebäude aus dem Jahre 1849 [...] nun endgültig zu klein und außerdem reparaturbedürftig" war. Durch die Vermittlung von Theo Terwiel konnte die katholische Gemeinde das bisherige Schulhaus samt Grundstück kaufen; "[i]n den Jahren 1954/55 wurde die ehemalige Schule zur Kirche mit Priester- und Schwesternwohnung [...] umgebaut" (S. 58). 

In den 50er-Jahren führte die vom sogenannten "Speckpater" Werenfried van Straaten aus den Niederlanden gegründete "Ostpriesterhilfe" (heute "Kirche in Not") mehrmals sogenannte "Kapellenwagenmissionen" in verschiedenen Orten Butjadingens durch. Wer den - besonders aus #BenOp-Perspektive sehr empfehlenswerten - Film "Die Lilien auf dem Felde" mit Sidney Poitier gesehen hat, der wird eine ungefähre Vorstellung davon haben, wie ein solcher "Kapellenwagen" aussieht: ein Kleinlaster mit einem Altar auf der Ladefläche, vor dem sich dann die Gemeinde versammelt.

1959: Links der Kapellenwagen, rechts die inzwischen fertiggestellte Christ-König-Kirche Stollhamm. 
Im August 1954 kam die Pilgermadonna von Fatima auf einer Rundreise durch Deutschland ("peregrinatio Mariae") auch nach Einswarden und Burhave. 

Die neu erbaute Christ-König-Kirche in Stollhamm wurde am Ostermontag 1953, dem 6. April, vom Bischöflichen Offizial Heinrich Grafenhorst geweiht (auf S. 87 der Chronik ist zwar die Jahreszahl 1956 angegeben, aber das kann nicht stimmen), die Herz-Mariä-Kirche im umgebauten ehemaligen Burhaver Schulhaus folgte am 16. Juli 1955.  

Hochaltar der Burhaver Herz-Mariä-Kirche. 
Stellt man sich die Frage, inwieweit die Geschichte dieser Gemeindegründungen vorbildlich für Gegenwart und Zukunft sein kann, dann muss man natürlich berücksichtigen, dass das damals für alle Beteiligten eine Ausnahmesituation war -- und dass die kirchliche Hierarchie die Anliegen der Gläubigen im Wesentlichen unterstützte. Ob letzteres wohl heute noch der Fall wäre? Nehmen wir mal an, eine Anzahl von Familien und Singles - sagen wir: 20-40 Erwachsene und etwa ebensoviele Kinder - siedeln sich an einem Ort an, an dem es keine katholische Kirche (mehr) gibt, bauen dort ein blühendes Gemeindeleben auf und kümmern sich selbst um den Bau einer Kapelle. Würde das territorial zuständige Bistum denen einen Priester schicken, womöglich gar ein Pfarrrektorat einrichten, das formal einer bestehenden Pfarrei unterstellt ist, praktisch aber einen gewissen Grad an Eigenständigkeit hat? Ich schätze, in den Ordinariaten wäre man auf einen solchen Fall überhaupt nicht eingerichtet: Sämtliche strategische Überlegungen gehen in die exakt entgegengesetzte Richtung, und das Geld gibt man lieber für "Citypastoral", interreligiöse Kulturevents und Gender-Diversity-Schulungen aus. Allerdings habe ich gerüchteweise gehört, im Bistum Hildesheim habe es vor gar nicht so langer Zeit einen solchen Fall von "Gemeindegründung von unten" gegeben, mit einem Gemeindezentrum einschließlich Sakralraum in einem ehemaligen Getränkemarkt. Genaueres habe ich darüber leider noch nicht in Erfahrung bringen können. Vielleicht weiß ja der eine oder andere Leser was.

1956 wurde Pfarrrektor Scholz von Stollhamm nach Einswarden versetzt, nachdem sein dortiger Vorgänger Wilhelm Witten Pfarrer im südoldenburgischen Friesoythe geworden war. Am 11. September 1957 starb der Geistliche Rat Augustin Schinke im Alter von 77 Jahren in Burhave; er wurde neben "seiner" Kirche beigesetzt. 


Mit Wirkung zum 1. Januar 1964 wurde das Pfarrrektorat Herz Jesu Einswarden vom damaligen Bischof von Münster, dem späteren Erzbischof von Köln, Kardinal und Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Joseph Höffner, zur eigenständigen Pfarrei erhoben. Die auf den 16. November 1963 datierte Urkunde ist in Rom ausgestellt, da Höffner "zu dieser Zeit am II. Vatikanischen Konzil teilnahm" (S. 27). Im Rückblick kann man allerdings den Eindruck haben, dass die katholischen Gemeinden der nördlichen Wesermarsch zu diesem Zeitpunkt ihre beste Zeit schon hinter sich hatten. Vielleicht trügt dieser Eindruck auch, aber irgendwann um diese Zeit oder jedenfalls nicht viel später muss der Niedergang eingesetzt haben, der sich bis heute fortsetzt, nur dass heute nicht mehr viel da ist, was noch weiter den Bach runter gehen könnte. Wie ist das gekommen? Was ist schiefgelaufen, wäre das vermeidbar gewesen, gäbe es sogar jetzt noch die Möglichkeit, gegenzusteuern? Um diese Fragen soll es in einem zukünftigen Artikel gehen. Bis dahin habe ich aber noch einige andere Themen auf dem Zettel... 




1 Kommentar:

  1. "Wenn wir hier bleiben sollen, dann brauchen wir hier eine Kirche. Ich weiß nicht, wie es Dir geht, Leser, aber mich bewegt das sehr."

    "Setzt euch zuerst für Gottes Reich ein und dafür, dass sein Wille geschieht. Dann wird er euch mit allem anderen versorgen."
    Hier kann man sehr schön nachlesen, wie sich diese Schriftstelle bewahrheiten kann. Das bewegt mich ausserordentlich.

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