Montag, 30. Januar 2012

Mehr Kaminholz wagen!

Kurz nach Weihnachten habe ich mir einen alten Traum erfüllt und mir einen Hausmantel gekauft. Das war keine sonderlich große Investition - 100% Polyester und außerdem Winterschlussverkauf -, aber für mich ist dieser Mantel dennoch ein Stück Luxus im Alltag. Jetzt brauche ich eigentlich nur noch einen Rasierspiegel, den man unter der Dusche anbringen kann.

Das mag sehr genügsam klingen, wirft zugleich aber auch die Frage auf, warum ich mir einen solchen Rasierspiegel nicht schon längst gekauft habe. Die Antwort ist jedoch ganz einfach: Ich bin überzeugt, dass es wichtig ist, Wünsche zu haben, die man sich nicht erfüllt. Schon the one and only Wilhelm Busch schrieb hellsichtig:

Ein jeder Wunsch, wenn er erfüllt,
Kriegt augenblicklich Junge.

 Mit anderen Worten: Solange man kein Auto hat, kommt man vielleicht auch ganz gut ohne aus. Hat man aber erst mal eins, dann will man bald entweder ein schnelleres oder noch ein zweites. Dasselbe gilt für Computer, Mobiltelefone, Stereoanlagen, Haushaltsgeräte undundund. Volkswirtschaftlich gesehen erfüllt dieses Immer-mehr-Wollen natürlich einen nützlichen Zweck, aber tut mir leid, mir wäre das nicht nur zu teuer, sondern vor allem auch zu anstrengend. Deshalb bemühe ich mich, meine materiellen Bedürfnisse gering zu halten. Diese Einstellung hat im Grunde nur einen echten Nachteil: Wenn Verwandte oder Freunde mich fragen, was ich mir zu Weihnachten oder zum Geburtstag wünsche, fällt mir meist nichts ein.

Vielleicht gibt es ja im Bereich der Konsumbedürfnisse so etwas wie eine kritische Masse - eine gewisse Menge an Besitztümern, die erst mal vorhanden sein muss, ehe der Wunsch nach mehr entstehen und sich dann exponentiell fortentwickeln kann; und vielleicht habe ich diese kritische Masse infach noch nicht erreicht. 

Das jedenfalls war mein Eindruck, als ich kürzlich mal in ein paar Katalogen blätterte, die mit der Post gekommen waren und die ich ausnahmsweise mal nicht ungelesen ins Altpapier entsorgt hatte. Diese Kataloge - es waren zwei, interessanterweise aber beide vom selben Versandhaus - schienen eigens dafür konzipiert zu sein, Antworten auf den verbreiteten Stoßseufzer "Was schenkt man jemandem, der schon alles hat?" anzubieten; deshalb, so vermute ich, nennt sich dieser Versandhandel auch pro idee.

Tatsächlich bestätigt sich hier der Eindruck, dass man schon einiges besitzen muss, um sich für die Artikel aus diesen Katalogen zu interessieren. Wenn man zum Beispiel keinen Flachbildfernseher hat, dann braucht man auch keine Flat-TV-Staffelei für 899 € - auch wenn man bei dem Preis denken könnte, der Fernseher wäre inklusive, aber das ist er nicht. Was da 899 € kostet, sind allen Ernstes nur drei Edelstahl-Stangen, die man zusammenschrauben und einen Flachbildfernseher daran montieren kann - "[w]andunabhängig freistehend", womit man zwar den Raumvorteil verschenkt, den ein Flachbildfernseher böte, wenn er direkt an die Wand montiert würde, aber gehen wir mal beruhigt davon aus, dass die Zielgruppe dieser Kataloge ausreichend Platz in ihren Wohnungen hat. - Ein weiteres Beispiel: Wer nur eine überschaubare Anzahl an Krawatten (oder, horribile dictu, gar keine) besitzt, der braucht auch kein Tie Rack mit Ionisator für 69 €, das "bis zu 70 Krawatten und Schals übersichtlich und rutschfest" ordnet und mittels des eingebauten Ionisators "unangenehme Gerüche neutralisiert und Bakterien reduziert". Wer keine Terrasse hat, braucht keinen Terrassenheizer Rio Grande für 389 €, und wer keinen Garten hat, braucht keinen Vibrasonic Molechaser - worunter man sich ein Gerät vorzustellen hat, das seismische Schwingungen in den Erdboden ausstrahlt und damit Maulwürfe vertreibt. Wer hingegen einen Garten hat, der kommt womöglich mit einem 'Molechaser' gar nicht aus, und je größer der Garten ist, umso mehr von den Dingern braucht man - deshalb gibt es sie auch im praktischen Dreierpack für 134,50 € (Einzelpreis 49,95 €, Batterien nicht enthalten).

Hat man weder Garten noch Terrasse, sondern nur einen Balkon, kann man sich aber immerhin ein Vogelfutterhaus im Bauhausstil anschaffen; das ist ein harmloser Spaß und kostet nur 32 €. Etwas tiefer in die Tasche greifen muss man für den Duschkopf 'Evolution' (69,95 €), der Luft ins Duschwasser mischt und dieses so bis zu zehnmal sauerstoffhaltiger macht, und erst recht für den Ionen-Haartrockner (94,50 €). Wofür der gut sein soll? Man höre und staune: "Während Sie Ihre Haare trocknen, pflegen Millionen winziger elektrisch geladener Teilchen Ihr Haar - es wird nicht spröde, sondern fällt schön volumig [!], mit geschmeidiger Spannkraft - bis in die Spitzen."

Für das Kind im Manne gibt es das Modellflugzeug Dakota DC-3 aus echtem Aluminiumblech, stolze 65x89x17 cm groß und 1,5 kg schwer, für läppische 649 €; und wem das noch nicht teuer genug ist, dem ist der Panasonic Relax Chair wärmstens zu empfehlen: Für 2.699 € entspannt er "Körper und Geist mit sanft wiegenden Bewegungen - auf Wunsch im Einklang mit meditativer Musik". Was aussieht wie ein stinknormaler Liegesessel, verfügt tatsächlich über "3 computergesteuerte Programme [...]. zum Regenerieren zwischendurch, zum ausgiebigen Relaxen, zum Chillen [!] und als Einschlafhilfe nach einem hektischen Tag" -- und um die Schulden zu vergessen. (Aber ohne Flachs: Der Hinweis auf den "hektischen Tag" ist durchaus charakteristisch für die beiden Kataloge. Am laufenden Band wird dem potentiellen Kunden Anerkennung dafür gezollt, wie hart er arbeitet, um sich den ganzen Krempel leisten zu können - den er sich somit, so die nicht mal besonders unterschwellige Botschaft, im wahrsten Sinne des Wortes verdient hat und sich gefälligst gönnen soll...)

Wer einen Hund hat, kann sich nicht nur einen Designer-Fressnapf von Alessi für 53 € zulegen (Katzenfreunde kommen mit 46 € etwas günstiger weg), sondern auch GEODOG, das elektronische Hundehalsband mit GPS für 299 €; das Ding informiert einen sogar per SMS, wenn der Hund aus dem ihm erlaubten Aktionsradius ausbüxt ("bin dann mal weg. lg, bello"). Hast du kein' Hund, guckst du nur.

Noch mehr tränen dem geneigten Katalogleser jedoch die Augen, wenn er keinen Kamin besitzt. Denn für Kaminbesitzer hat der auf stilvolle Wohnideen spezialisierte pro idee-Katalog "Villa P." erstaunliche Schmankerln zu bieten. Es beginnt auf S. 4 mit Kaminanzündern aus in Naturharz getränktem Pinienholz. Die machen was her, machen "chemische Anzünder und gefährliche Brennstoffe" obsolet, verbreiten angenehmen Tannenduft und kosten nur 34,95 € - nicht etwa pro Stück, sondern für etwa 180 Hölzer, was rund ein halbes Jahr lang jeden Abend ein schönes Kaminfeuer ergibt. Vorausgesetzt, wie gesagt, man hat einen Kamin. Gleich daneben ist ein Antiker Bambuskorb aus China (Preis: 149 €) abgebildet: "Einst ein Obst- und Blumenkorb. Heute ein antikes Wohnaccessoire" - und auf dem Katalogfoto gefüllt mit, jawohl, Kaminholz. Wer's noch komfortabler mag, dem sei der Vario-Kaminholzwagen von der Rückseite des Katalogs empfohlen: geeignet für bis zu 0,14 Kubikmeter Kaminholz, sowohl aufrecht stehend als auch liegend ein stilvolles Möbelstück und in Kombination mit einer separat erhältlichen Holz-Auflage für 39 € sogar als Sitzbank einsetzbar - und das gute Stück kostet nur 298 €!

Auch der auf S. 14f. angepriesene Ulmenholz-Quader für ebenfalls 298 € macht so richtig erst in Kombination mit einem Kamin Spaß. Zwar ist dieses antike - nämlich aus über 100 Jahre altem Holz bestehende! - Stück nicht etwa zum Verfeuern gedacht, sondern als "edles Piedestal, dekorative Blumesäule, markante Dielen- oder Telefonablage" oder was einem sonst noch Irres einfällt; aber der Thrill, sich vorzustellen, irgendein banausenhafter Hausgenosse oder Gast könnte den edlen Baumleichnam nach der dritten Flasche Rotwein für schnödes Brennholz halten und in den Kamin schieben, ist schlechthin unbezahlbar!

Vergleichsweise günstig wäre es da sogar, stattdessen die luxuriösen Teak-Handtuchhalter von S. 12f. zu verheizen, wenn das Feuerholz knapp wird; denn die Dinger kosten nur 149 €, brennen aber bestimmt auch gut. Solange aber der Vario-Kaminholzwagen gut gefüllt ist, kann man sich mit dem "großzügigen Teakholzständer" fühlen wie in "noblen Spas" und "luxuriösen Wellness-Oasen" - allerdings nur, wenn man ein größeres Badezimmer besitzt als zum Beispiel ich, denn würde ich mir einen 88x38x76,5 cm großen Handtuchhalter ins Bad stellen, käme ich selbst nicht mehr rein.

Aber ohne Zweifel entspannt es sich nach einem üppigen Wannenbad am besten vor dem Kamin; und wenn dann der Ulmenholzquader im Feuer glimmt und die anheimelnden Klänge der Wolfsgeheul-CD von Sounds of the Earth (18,90 € und nicht in diesem Katalog!) aus den selbstverständlich sauteuren Hifi-Boxen dringen, fehlt zur ultimativen Gemütlichkeit eigentlich nur noch die Alpakafell-Kuscheldecke für 1.498 €; auch wenn man bei fortgeschrittenem Rotweinpegel vielleicht auf die Idee kommt, sich zu fragen, ob es nicht noch geiler gewesen wäre, einen Jagdausflug in die Anden zu unternehmen und das Alpaka selbst zu erlegen.

Aber wie sagte doch die Mutter meines Pfarrers einst so treffend: "Man kann in alles einen Sinn legen, und man kann auch in alles Unsinn legen." Tatsächlich glaube ich, man darf die volkswirtschaftliche wie auch die psychosoziale Bedeutung solcher Luxusramsch-Kataloge keinesfalls unterschätzen. Indem sie Begehrlichkeiten wecken, fördern sie nicht nur die Konsumfreudigkeit und damit die Binnennachfrage, sondern mittelbar auch Arbeitsmoral und Gewerbefleiß, indem sie dem Leser plastisch vor Augen halten, was es alles gibt, wofür es sich lohnt, noch härter zu arbeiten und noch mehr Geld zu verdienen. Denn dass man irgendwann im Leben mal zuviel Geld haben könnte und gar nicht mehr wüsste, was man damit anfangen soll, das ist eine Vorstellung, die pro idee einem gründlich austreibt. Dem materiell eher anspruchslosen Menschen hingegen veranschaulichen solche Kataloge, was er alles nicht zu seinem Glück braucht; und das ist schließlich auch was wert.

Sonntag, 22. Januar 2012

Der Bischof soll die Kirche im Dorf lassen

Dass die katholische Kirche, in Deutschland zumindest, in der Krise sei, ist ein Gemeinplatz, der seit Jahren ebenso unentwegt wie unhinterfragt durch die öffentlichen Debatten schwirrt; aber gerade weil diese Aussage so selbstverständlich wirkt, kommt nur selten in den Blick, worin diese Krise eigentlich besteht, worin sie sich konkret äußert bzw. bemerkbar macht. Auf Nachfrage wird zumeist einerseits auf steigende Kirchenaustrittszahlen verwiesen, andererseits auf Priestermangel. Okay, könnte man sagen, die Kirche wird kleiner. Weniger Mitglieder, weniger Priester - wenn das Verhältnis sich dabei einigermaßen die Waage hielte, dann wäre so ein Schrumpfungsprozess noch nicht unbedingt als "Krise" zu bezeichnen, könnte vielleicht sogar etwas Gesundes an sich haben. Aber so ist es nicht.

Zum einen schrumpft die Mitgliederzahl der katholischen Kirche in Deutschland nämlich gar nicht so dramatisch, wie man angesichts der jährlichen Austrittszahlen denken könnte. Es wird nämlich gern vergessen, die Austritte mit den Neueintritten, v.a. den Taufen, gegenzurechnen, und deren Zahl ist nach wie vor hoch. Zudem darf man unterstellen, dass zumindest ein Teil derer, die aus der Kirche austreten, schon vorher nicht zu den besonders aktiven Mitgliedern gehört haben wird - oder umgekehrt ausgedrückt: Diejenigen Kirchenmitglieder, die die "Angebote" ihrer Kirchengemeinde intensiv nutzen, dürften eher weniger zum Austritt neigen.

Das Ergebnis ist: Durch die Austritte haben die Priester und sonstigen Kirchenmitarbeiter nicht weniger Arbeit; aber die Kirche hat, infolge verminderter Steuereinnahmen, weniger Geld. Und außerdem, wie bereits festgestellt, Priestermangel.

Die Auswirkungen dieser Situation kann man in Deutschland landauf, landab beobachten; besonders deutlich oder vielleicht auch nur besonders medienwirksam zeigen sie sich derzeit jedoch im Bistum Essen, auch bekannt unter der Bezeichnung "Ruhrbistum". Das Bistum muss sparen und greift daher zu Umstrukturierungsmaßnahmen, wozu auch die Zusammenlegung von Pfarreien zählt; das heißt, genau wie in der freien Wirtschaft, dass Standorte geschlossen werden müssen. Allein in Duisburg-Nord sind sechs Kirchen davon betroffen. Aber es regt sich Widerstand gegen diese Pläne.

Gemeindemitglieder der auf der Streichliste stehenden Pfarreien vernetzten sich - vom 'Arabischen Frühling' lernen heißt siegen lernen - via Facebook und organisierten Protestaktionen, wozu auch Besetzungen einigr von der Schließung bedrohter Kirchen zählten. Spätestens an diesem Punkt wurde auch der SPIEGEL auf das Thema aufmerksam und brachte in seiner Weihnachtsausgabe einen Artikel mit dem durchaus nicht unwitzigen Titel Occupy St. Norbert; als Autor zeichnete der an anderer Stelle in diesem Blog schon einmal erwähnte Peter Wensierski. An ziemlich früher Stelle des Artikels lenkt Wensierski das Augenmerk des Lesers auf die sozialen Begleiterscheinungen der drohenden Kirchenschließungen: "Mit den Gotteshäusern verschwinden auch Kindergärten und Suppenküchen, ebenso Treffpunkte für Jugendliche, Mütter und Senioren - alles Einrichtungen, die auch für den sozialen Zusammenhalt in Dörfern und Stadtvierteln stehen." Nun ist es ja ganz interessant, einmal darauf hingewiesen zu werden, was die Kirche so alles für das Gemeinwesen tut; dass es um Wensierskis Verständnis für die eigentlichen Kernaufgaben der Kirche - wozu an prominenter Stelle die Spendung der Sakramente zu zählen wäre - weniger gut bestellt ist, zeigt der mokant-spöttische Tonfall, in dem er berichtet, angesichts der Besetzung von St. Barbara habe die Küsterin "vorsichtshalber das sogenannte [sic!] Allerheiligste aus dem Tabernakel" genommen und "dem 'Leib Christi', der geweihten Hostie, über Nacht in der Sakristei eine provisorische Bleibe" gegeben.

Überhaupt ist ja Skepsis geboten, wenn ein als ausgesprochen kirchenkritisch, wenn nicht gar kirchenfeindlich bekanntes Magazin wie der SPIEGEL im Ton besorgter Anteilnahme über Probleme in der Kirche berichtet. Und so wird bei genauerem Hinsehen auch schnell deutlich, was den SPIEGEL an dieser Geschichte wirklich bzw. vor allem interessiert. Indem Peter Wensierski die Duisburger Kirchenbesetzer als "Wutkatholiken" tituliert - analog zu der v.a. im Zusammenhang mit Stuttgart 21 populär gewordenen Wortschöpfung "Wutbürger" -, suggeriert er, die Duisburger Proteste seien ein Symptom für eine allgemeine Gärung innerhalb der Kirche; obwohl die Kirchenbesetzer lediglich die Erhaltung ihrer Heimatpfarreien und nicht etwa die Abschaffung des Zölibats oder die Zulassung von Frauen zum Priesteramt fordern, werden sie pauschal der innerkirchlichen Reformbewegung zugerechnet.

Ganz abwegig ist diese Sichtweise allerdings wohl nicht. Immerhin bedeutet der Protest gegen Kirchenschließungen einen Protest gegen die Leitung des Bistums, und das ist für das Amtsverständnis katholischer Bischöfe - "Wer nicht mit dem Bischof ist, der ist auch nicht in der Kirche", sagt der hl. Cyprian von Karthago - eigentlich ein unerhörter Affront. Den SPIEGEL freut's - umso mehr, als der hier zuständige Bischof Franz Josef Overbeck, mit 47 Jahren der jüngste Diözesanbischof Deutschlands, als einer der "jungen Konservativen in der Deutschen Bischofskonferenz" gilt. So erinnert Wensierski seine Leser daran, dass Bischof Overbeck "durch Ausfälle gegen Homosexuelle in der Talkshow 'Anne Will'" Aufsehen erregt habe; das gehört zwar eigentlich nicht zum Thema, ist aber ein immer wieder gern genommener Vorwurf (was Overbeck bei Anne Will wirklich gesagt hat, wie sich das zur offiziellen Haltung der katholischen Kirche zum Thema Homosexualität verhält und wie der Bischof seine Äußerungen später korrigiert bzw. relativiert hat, kann man hier nachlesen). Zudem heißt es von ihm, er gelte als "möglicher Nachfolger des einflussreichen Kölner Kardinals Joachim Meisner". Das ist gleich in mehrfacher Hinsicht interessant. Indem Overbeck Ambitionen auf den Kölner Erzbischofssitz nachgesagt werden, werden durch die Blume auch Zweifel an seinem Engagement für seine jetzige Diözese gestreut - nach dem Motto: Wenn er sowieso nach Köln will, kann es ihm ja egal sein, wenn er im Ruhrbistum verbrannte Erde hinterlässt. Gleichzeitig mögen Overbecks Aussichten auf den erzbischöflichen Stuhl zu Köln, der traditionell mit dem Kardinalspurpur verbunden ist, für den SPIEGEL ein Grund mehr sein, den vermeintlichen oder tatsächlichen Hardliner Overbeck zu attackieren - womöglich gar in der Hoffnung, Overbecks Karrierechancen könnten durch die Duisburger Vorgänge bechädigt werden. Ob das eine realistische Erwartung ist, darf bezweifelt werden, aber die Zeit wird es zeigen - Kardinal Meisner ist 78 Jahre alt und hat dem Papst schon 2008 aus Altersgründen seinen Rücktritt angeboten.

Doch auch jenseits der Frage der Meisner-Nachfolge bieten die Duisburger Proteste gegen Kirchenschließungen genug politischen Zündstoff. So liegt eine der von der Schließung bedrohten Kirchen, St. Peter und Paul, in unmitelbarer Nähe der größten Moschee Deutschlands. Für Islamphobiker und andere Kulturpessimisten ist diese Konstellation selbstredend ein sicheres Anzeichen für den nahenden Untergang des Abendlandes: So weit ist es gekommen, der Islam verdrängt das Christentum aus unseren Städten! Den Verhältnissen vor Ort wird diese düstere Sichtweise allerdings kaum gerecht. Tatsächlich hat sich gerade die katholische Gemeinde St. Peter und Paul sich vor fünf Jahren sehr für einen muslimischen Treffpunkt in ihrem Stadtteil eingesetzt - und das haben die dortigen Muslime ihren katholischen Nachbarn nicht vergessen. "Ihr habt uns beim Bau unserer Moschee geholfen, jetzt helfen wir euch beim Kampf um eure Kirchen!", heißt es in Duisburgs Norden; eigentlich ein schönes Signal für freundschaftliches Miteinander verschiedener Religionsgemeinschaften - und wie ich soeben erfahre, haben die Proteste hier sogar einen Erfolg erzielt: St. Peter und Paul wird nun doch nicht geschlossen, womit, wie ein Sprecher des Bistums erklärt, "ein Zeichen für den interreligiösen Dialog gesetzt werden" soll.

Dass es um diesen auch in Duisburg nicht überall so gut bestellt ist wie im Falle der Nachbarschaft zwischen Merkez-Moschee und St. Peter und Paul, belegen andere Nachrichten aus dem Norden der Niederrhein-Metropole. Vor wenigen Wochen berichtete das Nachrichtenportal "Der Westen" über "Gewalt gegen Kirchen in Duisburg", insbesondere über wiederholte Steinwürfe gegen die auch als "Laarer Dom" bekannte Kirche St. Maximilian und Ewaldi in Duisburg-Laar; und obwohl die Täter unbekannt sind, suggeriert der Artikel, es handle sich um muslimische Jugendliche, die sich darüber geärgert hätten, dass sie auf dem Parkplatz der Kirche nicht Fußball spielen dürfen. Der Blog Via Dolorosa, der dem durchaus ernsten Thema Christenverfolgung gewidmet ist, griff das Thema sofort auf und verschärfte die Überschrift des genannten Artikels zu "Angriffe auf Christen in Duisburg". In dem Blogbeitrag heißt es u.a.: "Mal ganz abgesehen davon, dass kein Christ in Deutschland auf die Idee kommen würde, auf dem Grundstück einer Moschee Fußball zu spielen, scheint unserer Respekt vor der Religion anderer Menschen weitaus größer zu sein, als der vieler Muslime vor dem Christentum. Es geht den jugendlichen Muslimen [...] nicht ums Fußballspielen, so ein Quatsch, es geht wohl eher darum, dass der Christ an sich schon mal ein Dorn im Auge des Muslimen ist." -- Ob da womöglich derjenige, der über den "Dorn im Auge des Muslimen" spricht, den Balken im eigenen Auge nicht sehen will, sei nur mal so am Rande in die Diskussion geworfen.

Um zwischen den Protestaktionen der Katholiken in Duisburg-Hamborn und -Marxloh einerseits und den Fällen von Kirchenvandalismus in Duisburg-Laar einen inneren Zusammenhang zu wittern, müsste man freilich schon ein ganz ausgebuffter Verschwörungstheoretiker sein; aber zu denken gibt die Synchronizität der Ereignisse allemal. Einerseits könnte man, sehr frei nach Brecht, fragen: "Was ist die Beschädigung einer Kirche gegen die Schließung einer Kirche?". Andererseits erscheint die Frage berechtigt, ob nicht auch die Besetzung eines Gotteshauses einen Akt der Entweihung darstellt (und die Küsterin von St. Barbara, die vorsichtshalber das Allerheiligste in Sicherheit gebracht hat, hat dazu sicherlich eine klare Haltung). Überhaupt werden sich die Duisburger "Wutkatholiken" die kritische Frage gefallen lassen müssen, ob sie die Kirche womöglich allzusehr als Dienstleisterin missverstehen.

Klar dürfte bei alledem - trotz des Teilerfolgs im Fall von St. Peter und Paul - sein, dass Protestveranstaltungen die Zusammenlegung von Pfarreien und damit auch die Schließung von Kirchen, wenn solche Maßnahmen durch Priestermangel und schrumpfende Gemeinden notwendig werden, nicht verhindern können. Und auch wenn die Proteste mit den jüngsten Verlautbarungen des Bistums womöglich noch nicht beendet sein werden, wird das Bistum letztlich doch tun, was das Bistum tun muss; Bischof Overbeck wird Kardinal werden oder vielleicht auch nicht; und die katholische Kirche im Ruhrgebiet wird schrumpfen, aber nicht untergehen.

Was wird also bleiben von den Duisburger Kirchenprotesten? - Mindestens wohl der Erfolg, in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein dafür geschaffen zu haben, welchen Verlust es für die Kommunen bedeutet, wenn die Kirche sich aus ihnen zurückzieht. Und das könnte für die Debatte über die Rolle der Kirche in der Gesellschaft ein durchaus produktiver Beitrag sein.

Freitag, 13. Januar 2012

Wie selig sind die geistig Kinderarmen?

In Diskussionen über die "Generation von '68" im Vergleich zur heutigen - wie immer man die definieren möchte - lasse ich immer mal wieder gern den Satz fallen: "1968 war das Jahr, in dem meine Eltern geheiratet haben. Kirchlich, übrigens." Es wird nicht immer jedem deutlich, worauf ich mit dieser Aussage hinaus will, und manchmal ist es sogar mir selbst nicht ganz klar. Jedenfalls war meine Mutter damals 19 und hatte eine abgeschlossene Berufsausbildung, zu der sie von ihren Eltern gedrängt worden war - sie wäre gern aufs Gymnasium gegangen, wäre von ihren schulischen Leistungen her auch dazu qualifiziert gewesen, aber die Eltern waren dagegen. Nach der Heirat hängte meine Mutter ihren ohnehin eher unfreiwillig ergriffenen Beruf an den Nagel und konzentrierte sich ganz auf ihre neue Aufgabe als Ehefrau, Hausfrau und bald darauf auch als Mutter. Später, als meine Geschwister und ich längst erwachsen waren, versicherte sie mir, sie habe diese Tätigkeit als ausgesprochen befriedigend empfunden: als anspruchsvoll, vielseitig, verantwortungsvoll und niemals langweilig.

Als vor knapp fünf Jahren die scharfe Polemik des damaligen Augsburger Bischofs Mixa gegen den Ausbau der staatlichen Kinderbetreuung die Gemüter der Nation erhitzte, überraschte meine Mutter mich mit der Aussage, sie finde, Mixa habe Recht. Nun hat Monsignore Mixa sich seitdem ja derart gründlich diskreditiert, dass es durchaus etwas Peinliches hat, sich auf ihn zu berufen; aber trotz "Watschen" und dubioser Finanztransaktionen ist es ja nicht von vornherein auszuschließen, dass er irgendwann mit irgendwas auch mal Recht gehabt haben könnte.

Was also hat er damals eigentlich gesagt oder gemeint? -Seine Kritik an der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen entzündete sich an deren Plänen, die Zahl der Kinderkrippenplätze in Deutschland zu verdreifachen und im Gegenzug andere Familienleistungen zu kürzen. In einer Audienz für den Vorstand des Familienbundes der Katholiken in seiner Diözese erklärte Mixa: "Die Familienpolitik von Frau von der Leyen dient nicht in erster Linie dem Kindeswohl oder der Stärkung der Familie, sondern ist vorrangig darauf ausgerichtet, junge Frauen als Arbeitskräfte-Reserve für die Industrie zu rekrutieren." Diese Pläne seien "schädlich für Kinder und Familien und einseitig auf eine aktive Förderung der Erwerbstätigkeit von Müttern mit Kleinkindern fixiert"; die "Denkmuster des Familienministeriums" erinnerten "in beklemmender Weise" an die "Ideologie der staatlichen Fremdbetreuung von Kindern in der untergegangenen DDR". Wer mit staatlicher Förderung Mütter dazu verleite, ihre Kinder bereits kurz nach der Geburt in staatliche Obhut zu geben, degradiere die Frau zur "Gebärmaschine".

Ausgesprochen starker Tobak, zweifellos - zumal der Begriff "Gebärmaschine" zuvor von ganz anderer Seite als Schlagwort eingeführt worden war: nämlich vom linken Flügel der Frauenbewegung, insbesondere im Kontext der Forderung nach einem Recht auf Abtreibung. Dass nun ein Kirchenmann dieses Schlagwort in einem ganz entgegengesetzten Sinn zu besetzen wagte, verursachte womöglich mehr Aufregung als die inhaltliche Seite seiner Stellungnahme.

Nicht jedoch bei meiner Mutter. Sie begründete ihre Zustimmung zu Monsignore Mixas Thesen damit, dass sie als junge Hausfrau und Mutter häufig eine gewisse Geringschätzung gespürt habe, weil sie nicht berufstätig war - man denke nur an den seinerzeit in Mode gekommenen Begriff "Nurhausfrau". Mit anderen Worten, es sei ein erheblicher Druck auf Frauen ausgeübt worden, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, wenn sie als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft und nicht als rückschrittlich und "unemanzipiert" gelten wollten. Aus dieser Erfahrung heraus verstand meine Mutter die kämpferischen Worte des Bischofs in erster Linie als Plädoyer für jene Frauen, die ihre Arbeitskraft voll und ganz der Familie widmen, und dankte ihm dies.

Dass ich mich heute an dieses Gespräch mit meiner Mutter erinnere, ist der jüngst laut gewordenen Kritik der führenden Wirtschaftsverbände am von der Bundesregierung für 2013 beschlossenen Betreuungsgeld zu verdanken. Tatsächlich lesen sich die Pläne der Regierung, Eltern, die ihre Kinder nicht in eine Krippe schicken wollen oder können, eine Art Erziehungsgehalt zu zahlen, wie eine verspätete Erfüllung der seinerzeitigen Forderung Monsignore Mixas, "der Staat müsse sich bemühen, mehr Mütter für die zeitlich überwiegende oder ausschließliche häusliche Erziehung ihrer Kinder in den ersten drei Lebensjahren zu gewinnen und dies auch finanziell zu fördern". Und siehe, das Geschrei ist groß in Babylon. So warnt der RWI-Präsident und "Wirtschaftsweise" Christoph M. Schmidt, es dürfe keine Anreize dafür geben, "dass Mütter keine Erwerbstätigkeit aufnehmen" - meine Mutter und Monsignore Mixa werden sich ihren Teil denken. HWWI-Direktor Thomas Straubhaar sekundiert, das Betreuungsgeld hebele "den mühsam errungenen Verdienst des Elterngeldes aus, Mütter zu einer etwas zügigeren Rückkehr in das Erwerbsleben zu bewegen". Noch schlichter drückt es der DIW-Vorstandsvorsitzende Gert Wagner aus: "Es ist heutzutage schwer nachzuvollziehen, warum der Staat Eltern dafür Geld geben soll, damit sie zu Hause bleiben und ihre Kinder erziehen."

Lassen wir diese Sätze ein paar Atemzüge lang auf uns wirken und erinnern uns dann an eine weiter oben schon zitierte Äußerung Monsignore Mixas, die ich hier der Einfachheit halber - sinngemäß angepasst - wiederhole:
"[Der Ausbau von Krippenplätzen] dient nicht in erster Linie dem Kindeswohl oder der Stärkung der Familie, sondern ist vorrangig darauf ausgerichtet, junge Frauen als Arbeitskräfte-Reserve für die Industrie zu rekrutieren."
Ob das nun gut oder schlecht ist, darüber kann man selbstverständlich unterschiedlicher Ansicht sein; aber in der Feststellung des Sachverhalts hatte der damalige Augsburger Oberhirte, wie die Stellungnahmen der Wirtschaftsvertreter zum Betreuungsgeld in aller wünschenswerten Deutlichkeit zeigen, einfach mal nichts als RECHT!
Aus volkswirtschaftlicher Sicht sollen Frauen zwar Kinder gebären, denn die werden gebraucht - als zukünftige Arbeitskräfte und Rentenbeitragszahler und nicht zuletzt (sondern eigentlich sogar zuerst, nämlich auch schon bevor sie arbeiten und Rentenbeiträge zahlen) als Konsumenten; aber sobald die Kindern erst mal auf der Welt sind, sollen die Mütter möglichst sofort wieder dem Arbeitsmarkt voll zur Verfügung stehen. Das nennt man dann "Vereinbarkeit von Familie und Beruf"; gemeint ist aber in Wirklichkeit die Unterordnung der Familie unter den Beruf, wenn nicht gar die Aushöhlung der Institution Familie zugunsten der möglichst umfassenden Einbindung der Bevölkerung ins Berufsleben.
Für die Wirtschaftsverbände ist das natürlich eine rein pragmatische Frage; eine ideologische ist es hingegen für die Linke (und damit meine ich nicht nur, aber natürlich auch die Partei Die Linke), die der Institution Familie traditionell keine besonders tiefe Sympathie entgegenbringt. Folgerichtig regt sich auch auf dieser Seite des politischen Spektrums Kritik am Betreuungsgeld:

Von einer "Familienpolitik aus der Mottenkiste" spricht etwa Diana Golze, kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag; Grünen-Chefin Claudia Roth griff ihrerseits tief in die Mottenkiste feministischer Kampfbegriffe und nannte die Pläne zum Betreuungsgeld einen "spät-patriarchalen Reflex der CSU-Männer" -- wer hier was für Reflexe hat, sei indes mal dahingestellt. Ganz ähnlich äußerte sich allerdings die Vorsitzende des "Zukunftsforums Familie", Christiane Reckmann: "Das Betreuungsgeld ist ein ideologisches Zugeständnis an die CSU, das bildungs-, geschlechter- und integrationspolitischen Zielsetzungen zuwiderläuft". Dem letzten Teil des Satzes würde man wohl kaum widersprechen mögen, wenn Frau Reckmann nur etwas deutlicher gesagt hätte, wessen Zielsetzungen das sind und wie die konkret aussehen.

Denn dass hier wie selbstverständlich vorausgesetzt wird, es wäre auch für die Kinder besser, in die Krippe zu gehen, statt in engem Kontakt zu den eigenen Eltern aufzuwachsen, wäre dann doch die eine oder andere Nachfrage wert. Zur Orientierung mag hier das - aus begreiflichen Gründen heiß umstrittene - Buch Die Helden der Familie (2006) des Kommunikationswissenschaftlers und häufigen Talkshowgasts Norbert Bolz beitragen.
Es liegt auf der Hand, dass Menschen, die in ihrer Kindheit keine enge familiäre Bindung kennen lernen, später kaum von sich aus eine solche aufbauen werden. Wer also schon früh an im Wesentlichen funktional bestimmte und somit tendenziell austauschbare Beziehungen statt an enge persönliche Bindungen gewöhnt wird, der wird sich später umso leichter in eine (Arbeits-)Gesellschaft einpassen, die mit ihren Forderungen nach größtmöglicher räumlicher und zeitlicher Flexibilität enge persönliche Bindungen im Grunde ausschließt, zumindest erschwert. Anders ausgedrückt: Er (oder sie) wird sich umso leichter die totaler Unterwerfung unter die neoliberale Kontrollgesellschaft (Deleuze) als angebliche "Selbstverwirklichung" verkaufen lassen. Dass das "gut" für die Kinder sei, kann man je nach Standpunkt durchaus plausibel finden.

An dieser Stelle noch ein notwendiger Exkurs: Zweifellos gibt es Familien bzw. Elternhäuser, denen man die Kindererziehung guten Gewissens nicht überlassen möchte, schon gar nicht allein. Es wäre aber durchaus diskutabel, ob nicht viele dieser defekten Familien bereits das Produkt jener gesellschaftlichen Tendenz sind, die das Familienleben zugunsten des Erwerbslebens benachteiligt. Dies einmal unterstellt, wäre es schlechterdings perfide, den Familien vorzuhalten, sie könnten ihre Kinder nicht erziehen, nachdem man es ihnen zuvor nach Kräften erschwert hat, genau dies zu tun. -- Ende des Exkurses.

Dass die Linken und die Wirtschaftsverbände, die einander ansonsten doch alles andere als grün sind, plötzlich Seit' an Seit' schreiten, wenn es gegen das Betreuungsgeld geht, mag man ironisch finden, aber genau besehen verweist es auf eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit zwischen kapitalistischer - oder sagen wir, mit einem zugleich vornehmer und moderner klingenden Begriff: "marktliberaler" - und sozialistischer Weltanschauung hin: Beide betrachten den Menschen in erster Linie, wenn nicht ausschließlich, unter ökonomischen Gesichtspunkten. Was der Marxist Bertolt Brecht in seinem Lehrstück Die Maßnahme einem Kapitalisten in den Mund legt:

Weiß ich, was ein Mensch ist?
Weiß ich, wer das weiß!
Ich weiß nicht, was ein Mensch ist
Ich kenne nur seinen Preis.

- gilt im Grunde ebensosehr für die Marxisten selbst; oder wie es in einem alten Witz heißt: "Im Kapitalismus beutet der Mensch den Menschen aus. Im Sozialismus ist es umgekehrt." - Darauf wird bei späterer Gelegenheit womöglich noch zurückzukommen sein; an dieser Stelle würde es ein wenig zu weit führen.


Festzuhalten ist jedenfalls: Die Auffassung, die Institution Familie sei ein Hemmschuh für die ökonomische und soziale Entwicklung und gehöre eigentlich abgeschafft, erfreut sich großer und wachsender Akzeptanz; wenn da nur das Grundgesetz nicht wäre, das unter Artikel 6 Absatz 1 "Ehe und Familie" dem "besonderen Schutze der staatlichen Ordnung" anempfiehlt und unter Absatz 2 fortfährt: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht."
Ohne Zweifel gehören diese Sätze zu den gar nicht so wenigen Passagen unserer Verfassung, die von einem christlichen Menschenbild geprägt sind - das sich in der aktuellen Politik allerdings (sogar bei der CDU, die es sich gleichwohl immer noch gern auf die Fahnen schreibt) weitgehend verflüchtigt hat. Dass die betreffenden Passagen als nicht mehr zeitgemäß kurzerhand aus der Verfassung gestrichen werden, ist gleichwohl bis auf Weiteres kaum zu befürchten; in welchem Maße diese Grundgesetzartikel in konkrete Politik umgesetzt werden, ist freilich - wie bei allen jenen Artikeln, die eher moralische Appelle als konkrete Handlunganweisungen an die politisch Verantwortlichen enthalten - eine andere Frage.

Dass konkrete gesetzliche Maßnahmen, die zur Stärkung der Familie beitragen und Eltern dabei unterstützen sollen, ihrem verfassungsgemäßen Erziehungsauftrag gerecht zu werden, auf eine so breite Front der Ablehung stoßen, macht da nicht gerade viel Hoffnung. Unterstützt werden die Pläne der Regierung zum Betreuungsgeld, soweit ich sehe, praktisch nur vom Forum Deutscher Katholiken; und Beifall aus dieser Richtung birgt leider stets gewisse Gefahren in sich. Manch einer wird darin eine Bestätigung der von Claudia Roth und anderen angedeuteten Auffassung sehen, hinter dem Betreuungsgeld stecke ein antiquiertes Geschlechterrollenverständnis, das den Wirkungskreis der Frauen am liebsten wieder auf die guten alten "drei K's" beschränken würde, nämlich Kinder, Küche und eben Kirche.

Übersehen wird dabei freilich, dass das Betreuungsgeld auch Vätern zugute kommen würde. Familien, in denen die Frau voll berufstätig ist, während der Mann sich um Haushalt und Kinder kümmert, sind in Deutschland vermutlich selten, zumal dieses Familienmodell in unserem Kulturkreis keine große Tradition hat; aber es gibt solche Familien zweifellos, und womöglich böte das Betreuungsgeld sogar gerade für dieses Modell Anreize. - Auch wieder nicht recht? Ich fürchte nein. Diejenigen Interessengruppen, die - aus unterschiedlichen Motiven, wie oben aufgezeigt - die staatliche Lufthoheit über den Kinderbetten fordern, dürften den Vätern die Kindererziehung noch weniger überlassen wollen als den Müttern...

Mittwoch, 4. Januar 2012

Was bitte ist denn der Herr Kowalewski für einer?

Seit der letzen Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus sind ein paar Monate ins Land gegangen; das Parlament hat sich konstituiert, hat einen neuen Senat gewählt, und um die Piratenpartei, die eine Zeitlang DAS Thema in der Berliner Landespolitik war, ist es erst einmal relativ still geworden. Genug zu tun haben die Piratenparlamentarier anscheinend aber trotzdem; zumindest hat es weder Pavel Mayer noch irgendeiner seiner Fraktionskollegen bisher geschafft, auf meinen Piratenbrief zu antworten. Andererseits haben sie es aber auch noch nicht geschafft, die Kirchensteuer abzuschaffen oder das Erzbistum Berlin zu enteignen, also will ich bis auf Weiteres mal halbwegs beruhigt sein. Früher oder später wird man von den fleißigen Piraten, die jetzt zusammen mit Grünen und Linken die Oppositionsbänke drücken dürfen, aber bestimmt wieder etwas hören, und in Vorbereitung darauf wie auch in dankbarer Anerkennung der Tatsache, dass ihr Wahlkampf praktisch den Anstoß zur Einrichtung dieses Blogs gegeben hat, sei ihnen hier ein weiterer Beitrag gewidmet.

Wie man sich erinnern wird, hat der Erfolg bei den Berliner Wahlen, zumindest in dieser Größenordnung, die Piraten einigermaßen unvorbereitet getroffen; andernfalls hätten sie wohl mehr Kandidaten aufgestellt. Zwar umfasste ihre Liste zur Abgeordnetenhauswahl gerade so viele Kandidaten, wie die Partei dann Sitze erhielt; aber dass sie obendrein in alle zwölf Bezirksversammlungen einzogen und in Friedrichshain-Kreuzberg sogar Anspruch auf die Besetzung eines Stadtratspostens erwarben, brachte sie in Personalnot. Diese tragikomische Situation lässt den Rückschluss zu, dass bei den Berliner Piraten so ziemlich jede(r) mit einem Amt bzw. Mandat davongekommen wäre, der oder die im richtigen Moment "Hier!" geschrien hätte.

Einer, dem das "Hier!"-Schreien erkennbar keine Probleme bereitet, ist Simon Kowalewski, dem ein vorletzter Platz auf der Piraten-Liste ausreichte, um zum Volksvertreter zu avancieren. Ob die Partei sich mit der Aufstellung dieses Kandidaten einen Gefallen getan hat, wird sich noch zeigen müssen. Ich persönlich habe meine Zweifel daran, und das nicht etwa deshalb, weil er in einem der ersten Interviews nach der Wahl als sein wichtigstes politisches Anliegen "mehr Club-Mate im Getränkeautomaten der Abgeordnetenhaus-Kantine" angab - denn für diese Forderung hat er meine volle Unterstützung.


(Wir wollen jedoch nicht ausschließen, dass es sich bei dieser zwanghaften, sich bei unpassendster Gelegenheit Bahn brechende Witzigkeit um einen charakteristischen Wesenszug des Herrn Kowalewski handeln könnte. Zugegeben: Einen Klassenclown muss es immer geben, und aus manch einem Vertreter dieser Spezies ist ja später doch noch was Anständiges geworden. Aber aus der Schule ist der junge Mann - Geburtsjahrgang 1981 übrigens - ja nun schon ein Weilchen raus; da stimmt sein Festhalten an der Klassenclown-Attitüde doch etwas bedenklich.)

Sein Facebook-Profil hat Simon Kowalewski mit einem Bild geschmückt, auf dem er ein Gesicht macht, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. Ausgerechnet dieses Foto aber  hat bei mir die Frage aufkommen lassen, ob ich den Mann vielleicht kenne - nicht nur aus den Medien, sondern auch aus dem wirklichen Leben. Wo habe ich dieses Gesicht schon mal gesehen? Simon Kowalewski ist - oder war, bis zu seinem "Wechsel in die Politik", wie man so sagt - Mitinhaber des veganen Cafés Yorck 52 in Berlin-Schöneberg; in dem Laden war ich aber nie. Vielleicht bin ich ihm mal in der BAIZ oder im Bandito Rosso begegnet, aber vielleicht verwechsle ich ihn auch nur: Diese späthippieske Haar- und Barttracht, gern kombiniert mit einer Brille, ist beim Publikum dieser Kneipen recht verbreitet.


Noch ohne Bart und politisches Mandat war Simon Kowalewski übrigens anno 2009 in der SWR-Talkshow Nachtcafé zu sehen; das Thema der Sendung lautete "In guten wie in schlechten Tagen?". Es ging also um Beziehungsmodelle, um die Frage, ob das Konzept der einen Liebe für das ganze Leben noch zeitgemäß sei - eine Frage, die Kowalewski mit einem klaren Nein beantwortete. "Nur eine einzige Frau zu lieben, kann sich Simon Kowalewski schon lange nicht mehr vorstellen", hieß es in der Vorstellung der Talkrundenteilnehmer. "Der 27-Jährige teilt heute sein Herz mit bis zu vier Frauen gleichzeitig. 'Unser offenes Liebesnetzwerk ist stabiler als jede monogame Ehe. Es lässt allen Partnern Freiheiten, keiner wird mit unerfüllbaren Sehnsüchten überfordert', sagt der bekennende Polyamorist, der Ehe und Familie für Auslaufmodelle hält." - "Offenes Liebesnetzwerk", das klingt ja schon sehr piratig und innovativ; die konsequente Weiterentwicklung der Offenen Zweierbeziehung, über die es im gleichnamigen Bühnenstück von Dario Fo und Franca Rame heißt, sie könne "nur nach einer Seite hin offen sein, sonst entsteht Durchzug". Wie es in Kowalewskis Liebesnetzwerk um den Durchzug bestellt ist, wird aus dem Vorstellungstext nicht ganz klar, da ja nur von ihm und bis zu vier Frauen die Rede ist, nicht aber von Männern; denkbar ist es aber schon, dass Kowalewski seinem Harem auch den Verkehr mit anderen Männern gestattet - auf dass auch er nicht "mit unerfüllbaren Sehnsüchten überfordert" werde.


Merken wir uns diesen interessanten Einblick in das Liebesleben des bekennenden Polyamoristen Kowalewski für später vor und betrachten zwischendurch mal kurz seinen politischen Werdegang, über den er auf der Internetpräsenz der Berliner Piraten freimütig Auskunft gibt: "Politisch bin ich, seit ich denken kann, und habe mich bereits bei verschiedenen Parteien (PDS, die Violetten, …) und Organisationen (DRK, Antifa, CCC, Poly-Netz, Studierendenvertretungen, …) eingebracht." -- Moment mal: Die Violetten? Waren das nicht die mit den Yogischen Fliegern? Der, wenn man so will, "politische Arm" der Transzendentalen Meditation? - Nein, ich täusche mich: Das war die "Naturgesetz Partei". Na ja - kann man ja mal verwechseln. So oder so ist das wohl ein ganz beachtlicher yogischer Flug, von der PDS (heute Die Linke) über die "für spirituelle Politik" eintretenden Violetten zu den Piraten; aber auch dies sei erst einmal für später vorgemerkt. Interessanter erscheint mir für den Moment Kowalewskis Bekenntnis, als "Radikalfeminist" setze er sich dafür ein, "Sexismen im Alltag aufzuzeigen und abzubauen". - Vor zwanzig Jahren hätte ich gesagt, ein männlicher Feminist hat in etwa so viel credibility wie ein weißer Rapper, aber aus heutiger Sicht hinkt der Vergleich.So oder so ergibt sich aber ein recht buntes Bild, wenn wir den bekennenden Radikalfeministen Kowalewski mal spaßeshalber neben sein alter ego aus dem Nachtcafé, den bekennenden Polyamoristen Kowalewski, stellen. Da fällt einem ja direkt das gern Dieter Bohlen zugeschriebene Diktum ein, er habe nichts gegen Frauenbewegungen, solange sie schön rhythmisch seien... Aber mal im Ernst: Dass manch ein selbst ernannter Revolutionär sich unter der "Befreiung" der Frau vor allem ihre möglichst uneingeschränkte sexuelle Verfügbarkeit vorstellt, ist so neu oder originell ja nun nicht. Ich muss dabei, ohne Herrn Kowalewski nun gleich in die Nähe von Terroristen rücken zu wollen, irgendwie an Andreas Baader denken, wie er den griesgrämigen palästinensischen Freischärlern in der jordanischen Wüste beizubiegen versucht, dass "[a]ntiimperialistischer Kampf und sexuelle Befreiung" zusammengehören - oder, schlichter ausgedrückt: "Ficken und Schießen sind ein Ding" (zit. n. Stefan Aust, Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 1985, S. 112).

Wie gesagt, gehört hat man sie ale schon mal, diese Thesen bzw. Phrasen zur sexuellen  Befreiung; aber von Zeit zu Zeit ertappe ich mich bei dem Gedanken, es sei nicht nur frauen-, sondern ganz allgemein menschenverachtend, "Freiheit" mit möglichst ungehemmtem Ausleben von Sexualität gleichzusetzen (und im nächsten Moment frage ich mich dann, ob das außer mir eigentlich noch jemand so sieht).
Aber wie dem auch sei: Wenn man zügellose Sexualität mit Freiheit schlechthin gleichsetzt, dann erscheint im Umkehrschluss naturgemäß alles, was der Sexualität Zügel anlegt oder anlegen will, als Inbegriff der Unterdrückung. So kommt man dann zu der These, Ehe und Familie seien "Auslaufmodelle", und so erklärt sich auch eine geradezu fanaftische Feindschaft gegenüber Institutionen, die Monogamie, lebenslange Treue oder gar so etwas Gruseliges wie sexuelle Enthaltsamkeit propagieren. Wie zum Beispiel die katholische Kirche.

Anlässlich des Papstbesuchs in Berlin erklärte Kowalewski, er finde es "unmöglich, dass ein Vertreter des absoluten Missionierungseifers vor dem Parlament eines säkularen Staates auftreten darf. Der Papst vertritt Werte die mit Moderne nichts zu tun haben. Seine Gedanken zu Verhütung und Homosexualität finde ich unerträglich." Nun ja: Vermutlich findet umgekehrt der Papst Kowalewskis Gedanken zu Verhütung und Homosexualität ebenfalls unerträglich, aber das ist eben Meinungsfreiheit. Dass die Werte, die der Papst vertritt, "mit Moderne nichts zu tun" hätten, ist selbstverständlich Unsinn, aber solche Äußerungen hörte man in den Tagen des Papstbesuchs von ähnlich behaarten und bebrillten Zeitgenossen wie Kowalewski ja öfter. Nur sind die nicht alle Abgeordnete und schaffen es mit ihren Stellungnahmen nicht so ohne weiteres in die Online-Ausgabe der WELT.

Noch vor seinem Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus, am 14. September, bezeichnete Kowalewski die katholische Kirche auf seiner Facebook-Seite als "Kinderf***ersekte", worüber der dem Thema Christenverfolgung gewidmete Blog Via Dolorosa sich begreiflicherweise echauffierte. Auch ohne besondere Sympathien für die katholische Kirche könnte man finden, dass diese Einlassung Kowalewskis zu der bedenklichen Vielzahl von Äußerungen über den Missbrauchsskandal zu zählen sei, aus denen mehr Schadenfreude gegenüber der Kirche als Engagement für die Missbrauchsopfer spricht. Dass dabei einer mehr als eine Milliarde Mitglieder zählenden Religionsgemeinschaft die Kollektivschuld für die freilich nicht zu beschönigenden Verfehlungen einzelner Priester und Ordensleute aufgebürdet wird, sollte ebenfalls zu denken geben; damit aber nicht genug: Die Bezeichnung "Kinderf***ersekte" unterstellt geradezu, die Sittenlehre der katholischen Kirche würde Sex mit Kindern gutheißen oder gar aktiv propagieren. Eine abstruse Vorstellung -- besonders, wenn sie von Leuten kommt, die derselben Kirche bei jeder Gelegenheit ihre angeblich repressive Sexualmoral vorwerfen.

In diesem Zusammenhang scheint es mir wichtig, auf eine Stellungnahme Kowalewskis zur Anfrage einer Initiative "Staatliche Sexualisierung der Kindheit - Schützt uns davor!" im Vorfeld der Berlin-Wahl zu verweisen, die da lautete:


"Erkennen Sie an, daß Sexual- und Werteerziehung um des Kindes willen in erster Linie Recht und Aufgabe der Eltern ist und sprechen Sie sich dafür aus, daß „sexuelle Vielfalt“ in ihrer ganzen scham- und persönlichkeitsverletzenden Bandbreite kein Lehrstoff des Grundschulunterrichtes sein darf?"

Hätten die Protagonisten dieser Initiative sich ein bisschen darüber informiert, was der Herr Kowalewski für einer ist, hätten sie womöglich darauf verzichtet, ausgerechnet ihm mit ausgerechnet dieser Frage zu kommen; seine Antwort ließ jedenfalls an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:

"[I]n der Realität würde das [...] zu noch verklemmteren, von ihren Eltern in bestimmte Ansichten gezwungenen Kindern [...] führen [...]. Eine [...] nicht von Scham geprägte Vermittlung der verschiedenen Spielarten der Liebe ist immens wichtig, und hier halte ich leider viele Eltern für überfordert oder ideologisch zu engstirnig."

(Ich bekenne mich zu durchaus tendenziösen Kürzungen des Zitats, aber wer will, kann ja unter dem angegebenen Link den kompletten Text der Antwort nachlesen.)

Was aber sagt uns das nun? Heißt das, dass man Kindern nur rechtzeitig auf "nicht von Scham geprägte" Weise die "verschiedenen Spielarten der Liebe" vermitteln muss, damit sie über ihre Sexualität selbst frei entscheiden können, und schon gibt es keinen Missbrauch mehr? Oder bin ich bloß "ideologisch zu engstirnig" - womöglich in Folge falscher Sexualerziehung durch "verklemmte" Eltern - um dem Polyamoristen Kowalewski in seinen menschheitsbeglückenden Ideen folgen zu können?

Mehr und mehr kommt mir die schöne neue Piratenwelt, die in den Gehirnwindungen des Herrn Kowalewski vor sich hin brütet, vor wie eine Porno-Version von James Camerons "Avatar": Ein Planet voller glücklicher, virtuell miteinander vernetzter Wesen, die sich vegan ernähren und alles vögeln, was ihnen vor die Flinte kommt. Bleibt eigentlich nur noch die Frage, wann Herr Kowalewski wohl mal aus der Pubertät 'rauskommt - und was er bis dahin in seiner Eigenschaft als gewählter Volksvertreter noch so alles anstellt...