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Samstag, 3. Juni 2023

Hol dir deine Kirche zurück!

Regelmäßigen "Huhn meets Ei"-Lesern wird vielleicht aufgefallen sein, dass in den neueren Artikeln recht häufig das Schlagwort "Schmutziges Schisma" auftaucht. Diesen Begriff habe ich aus einem Artikel der Plattform "Neuer Anfang" mit dem Titel "Drei Szenarien – Die katholische Kirche nach dem Synodalen Weg" übernommen, und ich verwende dieses Schlagwort deshalb so beharrlich, weil ich der Ansicht bin, dass es sehr treffend die Situation beschreibt, auf die die katholische Kirche in Deutschland derzeit zusteuert, sofern sie nicht schon mittendrin ist. 

Ein "Schmutziges Schisma", wie der "Neue Anfang" es definiert und beschreibt, kommt zustande, wenn die deutschen Diözesen (oder einige von ihnen) die Beschlüsse des Synodalen Wegs ungeachtet aller Einsprüche aus Rom umsetzen, dabei aber mit Hilfe aller möglichen formalen Tricksereien so tun, als bewegten sie sich im Rahmen des geltenden Kirchenrechts – und wenn Rom nicht entschieden und konsequent dagegen einschreitet. Die Folge wäre, dass sich zahlreiche Missstände, die in der Kirche hierzulande schon jetzt zu beobachten sind, erheblich weiter verschärfen: 

"Die gemeinsame Lehre der universalen Kirche wird ersetzt durch plurale Meinungen von Laien und Bischöfen über religiöse Gegenstände. Im gleichen Maße wie eine universalkirchliche Disziplin ausgehöhlt wird, wird sie binnenkirchlich aufgerichtet und plebiszitär/totalitär durchgesetzt. Faktisch entstehen zwei im Streit koexistierende Machtzentren und Lehrämter: das (in eine Minderheiten-Existenz gezwungene) römisch-katholische, und das sehr präsente Leitungs- und Lehramt des 'Synodalen Weges', das von säkularen und kirchlichen Medien zudem forciert wird." 
Besonders dramatische Folgen sieht der "Neue Anfang" für gläubige Mitarbeiter im kirchlichen Dienst voraus: Diese werden sich womöglich genötigt sehen, für die Treue zur Glaubenslehre der Kirche ihre berufliche Existenz aufzugeben. "Der kirchliche Dienst ist für gläubige Katholiken keine Option mehr. Berufungen finden keinen Ort der Hingabe mehr." Aber auch einfache Gläubige müssen "eventuell sogar ihre Wohnorte verlassen, um noch eine Anbindung an römisch-katholische Gemeinden und Strukturen zu finden", sie "verlieren ihr Vertrauen in die Institution und sind am Ende versucht, eine Art 'Untergrundkirche' [zu] bilden". 

Indes sieht der zitierte Artikel in dieser Entwicklung auch einen Hoffnungsschimmer – insofern, als sie "das Ende der derzeit fruchtlosen Konsumenten-Kirche mit betreuten Mitgliedern einleiten und die Subjektwerdung der Gläubigen aktiv fördern" könnte: 

"Wer sub Petro et cum Petro nach Jesus sucht, wird im Zerfall der äußerlichen Kirchengestalt die Handschrift Gottes und eine geistliche Herausforderung erkennen: Nachdem ihm die Krücken einer passiven Consumer-Haltung und einer konventionellen, routinierten Gläubigkeit weggeschlagen wurden, wird der einzelne Christ [...] seine Verantwortung im Leib Christi erkennen. [...] Es werden starke, kleine Gemeinschaften und Gruppen entstehen, die allerdings möglicherweise auf Jahrzehnte eine Art Untergrunddasein an den Rändern einer in mancher Hinsicht korrupten und ungehorsamen Institution führen müssen. Der selbstzerstörerische Prozess wird die Vernetzung Gleichgesinnter vorantreiben und aus den Trümmern in eine neue Intensität von Kirche und Glaube führen." 

Im Grunde ist das, was diese Sätze beschreiben, die "Benedikt-Option" in Reinform; kein Wunder, dass ich mich da angesprochen fühle. Allerdings stellt die spezielle Situation des "Schmutzigen Schismas" gläubige Katholiken vor ein Dilemma: Solange kein formales Schisma vorliegt, können gläubige Katholiken sich im Grunde nicht von der institutionellen Kirche abwenden, denn diese verkörpert immer noch die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche vor Ort, so deformiert ihre Gestalt auch sein mag. 

Symbolbild: Die evangelische Thomaskirche in Hamburg-Rahlstedt im Sommer 2017, nachdem eine anarchistische Gruppe sie besetzt und in ihren Räumen ein selbstverwaltetes Jugendzentrum eingerichtet hatte. 

An dieser Stelle kommt nun ein YouTube-Video ins Spiel, auf das mich mein Manager "Patrick" aus Wien aufmerksam gemacht hat und das den verheißungsvollen Titel "How and why to retake the Mainline Churches" trägt. Erschienen ist es auf einem YouTube-Kanal mit immerhin 84.000 Abonnenten, dessen Betreiber sich "Redeemed Zoomer" nennt. Die These des Videos: Die etablierten Großkirchen sind durchweg mehr oder weniger weit vom rechten Glauben abgewichen, aber es ist sowohl sinnvoll als auch machbar, sie "zurückzuerobern" – und zwar von der Basis, von den einzelnen Gemeinden her. Dieses Projekt wird unter dem etwas hochtrabenden Namen "Operation  Reconquista" präsentiert. 

Zugegeben, das Video ist anstrengend. Der gesprochene Text klingt so, als wäre die Tonspur nachträglich beschleunigt worden, um unter zehn Minuten zu bleiben (was letztlich doch nicht gelingt: Es sind knapp unter elf), und dazu kommen auf der Bildebene noch Texttafeln, die man gar nicht so schnell lesen kann, wie sie wieder verschwinden; dadurch kommt der Urheber des Videos insgesamt ein bisschen so rüber wie der Typ aus dem "Pepe Silvia"-Meme. 

Im Übrigen bezieht der Autor sich explizit auf protestantische Konfessionen in den USA wie die "Presbyterian Church (U.S.A.)" (der er selbst angehört), die "United Methodist Church" und die Episkopalkirche (den US-amerikanischen Zweig der Anglikaner), aber das ist nicht so schlimm: Die Transferleistung, die Thesen des Videos mutatis mutandis auf die Situation der ins Schmutzige Schisma schlitternden katholischen Kirche in Deutschland zu übertragen, ist dem Betrachter durchaus zuzumuten, und zum Teil würde ich behaupten, dass die Prämissen, von denen der Verfasser ausgeht, aus katholischer Sicht sogar eine höhere Plausibilität haben als aus protestantischer. Damit meine ich vorrangig den Teil der Argumentation, in dem es darum geht, warum es überhaupt sinnvoll und der Mühe wert ist, die alten Kirchen zurückerobern zu wollen, statt einfach neue zu gründen. Zwar benennt der Redeemed Zoomer durchaus einleuchtende Gründe dafür, dass er die evangelikale Methode, aus den vom rechten Weg abgekommenen Kirchen auszutreten und eigene Gemeinden aufzubauen, suboptimal findet, aber nach protestantischen Verständnis ist eine solche Lösung immerhin möglich. Katholiken hingegen können nicht neben einer bereits bestehenden katholischen Kirche eine zweite gründen. Und auch das Anliegen, die schönen alten Kirchengebäude nicht denen zu überlassen, die vom Glauben abgefallen sind, gewinnt an Dringlichkeit, wenn man in diesen Gebäuden nicht bloß Versammlungsräume für die Gemeinde sieht, sondern geweihte Orte

– Die Aussage, Katholiken könnten nicht einfach neue Gemeinden in Konkurrenz zu den bestehenden gründen, gilt es übrigens noch etwas zu präzisieren. Was sie sehr wohl tun können, ist, sich privat oder halböffentlich treffen, um gemeinsam zu beten, in Lese- und Gesprächskreisen ihr Glaubenswissen zu vertiefen und Erfahrungen auszutauschen und Initiativen für gelebtes Christsein in allen Lebensbereichen zu entwickeln. Es ist sogar ausgesprochen wünschenswert, dass sie das tun, solange dabei Sorge dafür getragen wird, dass sie nicht ihrerseits auf doktrinäre Abwege geraten – der "Neue Anfang" warnt in diesem Zusammenhang vor "sektiererischen Konventikeln und esoterischen Gemeindebildungen". Aber bei aller Wertschätzung für die Potentiale des Laienapostolates werden diese Katholiken doch mindestens jemanden brauchen, der ihnen gültig und rechtmäßig die Sakrament spenden kann. Solange sie nicht Anschluss an rechtgläubige "Inseln" mit anerkanntem kirchenrechtlichen Status, wie etwa Ordensgemeinschaften oder Personalgemeinden, haben, werden sie daher gut daran tun, eine gewisse Verbindung zu ihrer Ortspfarrei (oder gegebenenfalls einer benachbarten) zu halten. 

Worum geht's also in der sogenannten "Operation Reconquista"? Der Grundgedanke lautet: Wenn es den "Progressiven" mit einer Art "Langem Marsch durch die Institutionen" gelungen ist, die kirchlichen Strukturen zu unterwandern und von innen heraus umzugestalten, dann können "wir" das auch. Eine solche "Reconquista", so meint der Urheber des Videos, könne dadurch bewerkstelligt werden, dass gläubige Christen sich gezielt in den Gemeinden engagieren, nach und nach in einflussreiche Positionen aufrücken, die "schweigende Mehrheit" an der Gemeindebasis mobilisieren (die in der Regel deutlich konservativer ist als die Leitungsebene), Gleichgesinnte in die Gemeinde hineinholen und zur Mitarbeit motivieren und so allmählich einen geistlichen Klimawandel in Gang zu bringen. 

– Halten wir zunächst mal in aller Deutlichkeit fest: Im Grundsatz finde ich dieses Konzept gut und sinnvoll und meine, er sei unter allen Umständen einen Versuch wert. Der Punkt, an dem ich widersprechen möchte – und zwar vorrangig auf der Basis von Erfahrungen, die meine Liebste und ich in Herz Jesu Tegel gemacht haben –, ist die Aussage "Es ist leichter als du denkst". Sorry, lieber Redeemed Zoomer, aber da behaupte ich dreist das Gegenteil. Ich möchte damit niemanden entmutigen; im Gegenteil, ich bin überzeugt, dass die Gefahr der Entmutigung viel größer ist, wenn man sich nicht über die Schwierigkeiten im Klaren ist, auf die man stoßen könnte und mit hoher Wahrscheinlichkeit stoßen wird

Zu den Grundprämissen des "Operation Reconquista"-Konzepts gehört die Annahme, es sei relativ leicht, in liberalen Kirchengemeinden einen Fuß in die Tür zu bekommen, weil diese notorisch unter Mitgliederschwund und Mitarbeitermangel litten. Nun, das mit dem Mitgliederschwund und dem Mitarbeitermangel ist eine unbestreitbare Tatsache (die es übrigens recht tragikomisch erscheinen lässt, dass es hierzulande geradezu common sense zu sein scheint, die Kirche müsse noch viel liberaler werden, damit ihr nicht noch mehr Leute weglaufen, aber das mal nur nebenbei); und dass man infolgedessen relativ leicht einen Fuß in die Tür bekäme, deckt sich immerhin bis zu einem gewissen Grad mit meinen Erfahrungen. Dass meine Liebste und ich in Herz Jesu Tegel schon nach kurzer Zeit eine regelmäßige Veranstaltungsreihe (das "Dinner mit Gott") anbieten und bald darauf auch eigene Andachten gestalten durften, hatte zwar nicht unwesentlich damit zu tun, dass es damals in dieser Pfarrei einen Kaplan gab, der auf unserer Seite war, aber schon auch damit, dass Leute, die irgend etwas auf die Beine stellen, händeringend gesucht wurden. In den Lektorenkreis kam ich auch ohne Zutun des besagten Kaplans rein, im Lokalausschuss konnte sowieso buchstäblich jeder mitmachen, der Lust und Interesse hatte, und als ein paar Jahre später die Pfarrgemeinderatswahl anstand, war ich einer der wenigen Bewerber, die nicht erst zur Kandidatur überredet werden mussten. (Bezeichnenderweise hatte meine Liebste mit ihrer Kandidatur für den Kirchenvorstand weniger Erfolg: Im Kirchenvorstand wird das Geld der Pfarrei verwaltet, daher sind die Sitze dort begehrter und umkämpfter.) – Im Pfarrgemeinderat stellte ich allerdings bald fest, dass ich in meinem Marsch durch die Institution Pfarrei an eine Art gläserne Decke gestoßen war. 

Ich will hier wohlgemerkt nur insoweit über persönliche Erfahrungen sprechen, wie ich sie für verallgemeinerbar halte. Dass ich zwar in den Pfarrgemeinderat kam, dort aber nichts ausrichten konnte, da alle meine Initiativen abgeblockt wurden, spiegelt im Grunde nur wieder, wie das Establishment der Gemeinde auch sonst mit unseren diversen Aktivitäten umging. Es handelt sich um eine spezielle Form der Marginalisierung (für die es vielleicht einen Fachbegriff gibt, aber vielleicht müsste man den auch erst erfinden): Man bekommt eine Nische zugewiesen, innerhalb derer man relativ unbehelligt "sein Ding machen" kann, aber das Gemeindeleben außerhalb dieser Nische bleibt davon weitgehend unberührt. 

Ein weiterer Punkt, an dem ich Einwände gegen die Thesen des Redeemed Zoomer habe, betrifft die Mobilisierbarkeit der schweigenden Mehrheit. Der Einschätzung, dass es an der Basis der Gemeinden zahlreiche konservative Gläubige gebe, die auf der Leitungsebene schlichtweg unterrepräsentiert seien, stimme ich im Grundsatz und aus Erfahrung zu. Aber hat der Redeemed Zoomer sich mal gefragt, warum diese Gläubigen in den Leitungsgremien ihrer Gemeinden so unterrepräsentiert sind? Natürlich hat das damit zu tun, dass die "Progressiven" über allerlei Methoden verfügen, sicherzustellen, dass sie in den leitenden Positionen weitgehend unter sich bleiben; aber zu diesen Methoden gehört eben auch und nicht zuletzt die asymmetrische Mobilisierung, und die funktioniert gerade deshalb so gut, weil es für den Typus der "volkskirchlichen Konservativen" kennzeichnend ist, sich nicht mobilisieren zu lassen. Man könnte sicher allerlei darüber sagen, warum das so ist, aber das würde an dieser Stelle zu weit führen – zumal ich in diesem Zusammenhang noch auf einen anderen Aspekt hinauswill: die allzu unhinterfragte Gleichsetzung von "konservativ" und "rechtgläubig". Ja, #sorrynotsorry, ich komme hier immer wieder auf die Unzulänglichkeit des Lagerdenkens zurück, ich kann's nicht ändern. Die Annahme, wenn man in einer Gemeinde Veränderungen anstoße, die auf eine Stärkung der Rechtgläubigkeit abzielen, müsste die konservative Basis der Gemeinde das gutheißen und unterstützen, verkennt, dass die "volkskirchlichen Konservativen" nicht selten tatsächlich in dem Sinne konservativ sind, dass sie überhaupt keine Veränderungen wollen – auch solche nicht, von denen man eigentlich annehmen würde, dass sie auch aus ihrer Sicht Verbesserungen wären. Auch dazu wieder etwas aus der persönlichen Erfahrung: In Herz Jesu Tegel haben meine Liebste und ich seitens der konservativen Gemeindebasis entschieden mehr offene Feindseligkeit erlebt als seitens der liberalen (haupt- wie ehrenamtlichen) Mitarbeiter bzw. Funktionäre, die eher darauf setzten, uns mittels der oben skizzierten "Nischenstrategie" einzubinden und zu neutralisieren. 

Zu den Tücken einer Kombination aus konservativer Gemeindebasis und liberaler Leitungsebene gehört es außerdem, dass der klassische Typus des "volkskirchlichen Konservativen" ein hohes Maß an Autoritätsgläubigkeit einschließt. Im Konfliktfall wird sich die "schweigende Mehrheit" in aller Regel auf die Seite der offiziellen Aurorität stellen, und das ist für sie in erster Linie nicht der Papst, der Katechismus oder die Bibel, sondern der örtliche Pfarrer. 

Noch einmal: Mit diesen Warnhinweisen möchte ich niemanden davon abhalten, sich in einer kriselnden Kirchengemeinde zu engagieren. Im Gegenteil, ich halte es für gut und notwendig, das zu tun. Selbst wenn man damit nicht mehr erreicht, als im obem beschriebenen Sinne "Nischen" innerhalb der Gemeinden zu schaffen, ist das schon besser als nichts; denn unter den Bedingungen des "Schmutzigen Schismas" werden wir solche Nischen noch dringend brauchen. Einige Anregungen dafür, wie man sich auch unter schwierigen Bedingungen ins Gemeindeleben einbringen kann, ohne an den Missständen zu verzweifeln, auf die man dabei trifft, habe ich schon vor Jahren in einem 6-Punkte-Programm gegen das Leiden an der Kirche formuliert, das man im Schlussteil eines Blogartikels mit dem Titel "Zu meckern gibt es immer was" nachlesen kann. Man merkt vielleicht, dass ich da noch etwas jünger und optimistischer war, aber im Prinzip finde ich das, was ich da geschrieben habe, immer noch richtig. 

Ein paar Kritikpunkte an dem "How and why to retake the Mainline Churches"-Video muss ich aber doch noch loswerden. Zunächst: Der Redeemed Zoomer betont, das Ansinnen einer rechtgläubigen Unterwanderung liberaler Kirchengemeinden sei nicht als feindliche Übernahme zu betrachten, sondern als Akt der Nächstenliebe; schließlich sei das, was man damit erreichen wolle, etwas Gutes, auch für diejenigen Menschen in diesen Kirchen, die anderer Meinung sind. Darin stimme ich ihm zu, habe aber den Eindruck, er verkennt, dass die Leute, die die Großkirchen vor Jahrzehnten aufs progressive Gleis gesetzt haben, ebenfalls dieser Auffassung waren. Damit will ich sagen: Sein Blick auf die linksliberale Unterwanderung der Großkirchen ist mir tendenziell zu sehr von Verschwörungsdenken geprägt. An einer Stelle spricht er sogar explizit davon, dass linke und säkularistische Kräfte, die die Kirche "von außen" nicht überwinden konnten, sich darauf verlegt hätten, sie von innen her zu zersetzen. Ich will nicht unbedingt bestreiten, dass es solche Elemente bewusster feindlicher Übernahme gegeben hat und immer noch gibt, aber im Ganzen halte ich das Verhältnis zwischen liberaler bzw. progressiver Theologie und Neuen Sozialen Bewegungen für erheblich komplexer. Nicht umsonst befasse ich mich seit einiger Zeit recht intensiv mit Dokumenten zur Kirchengeschichte seit dem II. Vatikanischen Konzil; davon wird in zukünftigen Artikeln noch öfter die Rede sein. 

Das mangelnde Verständnis für diese Komplexität bedingt auch die Schwäche des Arguments "Wenn die es geschafft haben, die Kirche von innen her umzukrempeln, warum sollten wir es dann nicht auch schaffen?": Hier verkennt der Redeemed Zoomer, wie extrem unterschiedlich die Voraussetzungen sind: Die Liberalisierung und Selbstsäkularisierung der Kirche(n) bedeutet(e) eine Angleichung an Trends der säkularen Gesellschaft, in der schließlich auch die Kirchenmitglieder mit mindestens einem Fuß stehen. Der Auftrag Christi an Seine Jünger, in dieser Welt zu leben und dennoch nicht von dieser Welt zu sein, bedeutet unter allen Umständen eine Zerreißprobe – jedoch desto mehr, je weiter die Anforderungen des Christseins und die Normen der säkularen Gesellschaft auseinanderdriften. Die Liberalisierungstendenzen in der Kirche kamen mit der Verheißung daher, diese Spannung abzubauen, indem sie die Normen des Christseins an diejenigen der "Welt" annäherten; und es ist kein Wunder, dass das zunächst einmal auf Viele attraktiv wirkte. (Auch wenn wir heute sehen, wie wenig nachhaltig diese Attraktivität war, weil Viele, die sich auf diesen Weg begaben, irgendwann an den Punkt kamen, sich zu sagen, noch einfacher wäre es, das mit dem Glauben und der Kirche gleich ganz sein zu lassen.) Dagegen würde eine geistliche Neuerweckung der Kirchengemeinden – sagen wir geradeheraus: eine Neuevangelisierung – die Spannung zwischen Kirche und Welt wieder erhöhen, würde mehr Glaubenstreue, mehr Hingabe, mehr Bereitschaft zum Martyrium (nicht zwingend im blutigen Sinne, aber in der ursprünglichen Wortbedeutung als "Zeugnis"/"Bekenntnis") erfordern. Und das ist naturgemäß weit schwieriger

Nun könnte man natürlich einwenden: "Okay, die Anderen haben die säkularen Gesellschaft auf ihrer Seite, aber sollten wir nicht davon ausgehen, dass wir dafür Gott auf unserer Seite haben?" Da sage ich: Allerdings; und es wundert mich offen gestanden, dass davon in diesem Video so wenig die Rede ist. Das ist jetzt vielleicht etwas zugespitzt formuliert, aber was ich damit meine, ist: So viel Potential ich auch in dem in diesem Video vorgestellten Konzept sehe, so sehr empfinde ich die Art, wie es vorgestellt wird, als allzu pragmatisch, allzu sehr auf Fragen von Machbarkeit und Funktionalität ausgerichtet statt auf Gebet, Gottvertrauen und darauf, sich der Führung des Heiligen Geistes anzuvertrauen. Und was mich als #BenOpper besonders wurmt, ist der starke Fokus auf die institutionelle Seite der Kirche – auf die finanziellen Ressourcen und den gesellschaftlichen Einfluss der etablierten Großkirchen, die Schulen, Universitäten und sozial-karitativen Einrichtungen, die man nicht den Lauen und Abweichlern überlassen dürfe. So gern ich dem jungen Mann (die Selbstbezeichnung "Zoomer" lässt darauf schließen, dass er nicht älter als Mitte 20 ist) grundsätzlich gute Absichten attestiere, scheinen mir seine Prioritäten an dieser Stelle doch fragwürdig. Als Korrektiv dazu kann ich nur immer wieder die Freiburger Konzerthausrede Papst Benedikts XVI. empfehlen: 

"Um ihrem eigentlichen Auftrag zu genügen, muß die Kirche immer wieder die Anstrengung unternehmen, sich von dieser ihrer Verweltlichung zu lösen und wieder offen auf Gott hin zu werden. [...]  Die Geschichte kommt der Kirche in gewisser Weise durch die verschiedenen Epochen der Säkularisierung zur Hilfe, die zu ihrer Läuterung und inneren Reform wesentlich beigetragen haben. 

Die Säkularisierungen – sei es die Enteignung von Kirchengütern, sei es die Streichung von Privilegien oder ähnliches – bedeuteten nämlich jedesmal eine tiefgreifende Entweltlichung der Kirche, die sich dabei gleichsam ihres weltlichen Reichtums entblößt und wieder ganz ihre weltliche Armut annimmt. Damit teilt sie das Schicksal des Stammes Levi, der nach dem Bericht des Alten Testamentes als einziger Stamm in Israel kein eigenes Erbland besaß, sondern allein Gott selbst, sein Wort und seine Zeichen als seinen Losanteil gezogen hatte. [...] 

Es geht hier nicht darum, eine neue Taktik zu finden, um der Kirche wieder Geltung zu verschaffen. Vielmehr gilt es, jede bloße Taktik abzulegen und nach der totalen Redlichkeit zu suchen, die nichts von der Wahrheit unseres Heute ausklammert oder verdrängt, sondern ganz im Heute den Glauben vollzieht, eben dadurch, dass sie ihn ganz in der Nüchternheit des Heute lebt, ihn ganz zu sich selbst bringt, indem sie das von ihm abstreift, was nur scheinbar Glaube, in Wahrheit aber Konvention und Gewohnheit ist." 

Ich finde, das ist jetzt ein schönes Schlusswort. Auf konkrete Einzelaspekte der Frage, was für Handlungsoptionen man als gläubiger Katholik unter den Bedingungen des Schmutzigen Schismas hat, wird ohnehin noch häufiger zurückzukommen sein. 


5 Kommentare:

  1. Haben Sie denn schon eine Strategie, wie sie es in Ihrer neuen Pfarrei in Spandau halten wollen?

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  2. Das macht ja Lust, hier weiter nachzulesen. Gottes Segen (für Sie und die Pfarrei)!

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  3. Ich habe ein Problem mit der Überschrift dieses Artikels, obwohl er wohl sinngemäß nicht so gemeint ist. Es ist natürlich nicht "meine Kirche" die ich zurück holen muss. In aller erster Linie "muss" ich den Herrn in mein Leben lassen, damit ich überhaupt Mitglied seiner Kirche sein kann. Getrennt von ihm.....aber das wissen wir ja alles. Die 6 Punkte gilt es eingerahmt im Herrgottswinkel aufzuhängen. Amen!

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  4. Ich habe das Video nicht gesehen; aber es klingt alles danach, daß Deine abwägende Bewertung es genau trifft. Dankeschön!

    - Meine nicht ganz so ausgearbeitete Haltung ist ja die: heroischer Einsatz, auch heroisches Scheitern, ist ja eine feine Sache für den, dessen Schultern momentan stark genug sind. Aber um ein gewisses Maß an sektiererischer Konventikelbildung, die hoffentlich rechtgläubig bleibt, werden wir nicht herumkommen. Es hat entgegen mancher konservativer Anwandlung - ohne jetzt in gegenteiligen Großstädterstolz zu verfallen - eben wohl schon seinen Grund, warum die Christen im Römischen Reich die Noch-Ungläubigen pagani, also wörtlich: Hinterwäldler, genannt haben; es braucht eben, gratia supponit naturam, für statistisch etwas greifbarere Effekte die Gemeinschaft vor Ort, auch im ganz banalen Sinn von genügend Leuten: soweit hat ja der synodale Weg fast recht, nur daß eine Gemeinde von, im Bestfall, gutwilligen dieverbindungnichtganzkappenwollenden Dissidenten mit dem einen oder anderen stummen Missionar den Effekt im *katholischen* Sinn halt *nicht* hat. Und das geht in Berlin vermutlich einfacher als in, sagen wir, Erolzheim (ich wollte einen schwäbischen katholischen Kleinort). Es muß dann auch nicht unbedingt die Ortspfarrei und auch nicht unbedingt eine unmittelbar angrenzende Nachbarpfarrei sein.

    In München gibt‘s jetzt dann nach der amtlichen Fronleichnamsprozession am Feiertag z. B. auch noch eine formell als Pfarrfronleichnam bestimmter Pfarreien firmierende Prozession am Sonntag, die man eigentlich „Szenefronleichnam“ nennen könnte…

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