Dienstag, 11. Oktober 2016

Christsein im Konjunktiv

Eigentlich hat mich ja gerade die verheerende Männergrippe in ihren Klauen, aber gestern Abend fühlte ich mich dennoch gesund genug, um zu einer Veranstaltung zu gehen, zu der ich über den Mailverteiler der Katholischen Akademie in Berlin e.V eingeladen worden war: "Leben im Transitbereich", ein Impulsvortrag mit anschließender Diskussion im Rahmen der "Nikodemusgespräche", einer Veranstaltungsreihe, die sich als "Geistliche Ideenwerkstatt zur Zukunft der Kirche in Berlin" versteht. Wobei das Stichwort "Zukunft der Kirche in Berlin" explizit im Zusammenhang mit dem Pastoralen Prozess "Wo Glauben Raum gewinnt" zu sehen ist, also dem Prozess der Zusammenlegung von Pfarreien zu sogenannten "Pastoralen Räumen"

Wie einige meiner Leser sich erinnern werden, war ich schon einmal bei einer Veranstaltung dieser Reihe gewesen; aber das war wohl ein eher untypisches Exemplar gewesen, denn da hatte Wolfgang Thierse den Impulsvortrag gehalten - und der ist nun mal Politiker von Beruf und hatte gleich zu Beginn seines Vortrags angekündigt, er werde "nicht sonderlich fromm" sprechen. Ja, in gewissem Sinne hatte er die ganze gedankliche Voraussetzung dieser "Nikodemusgespräche" frontal angegriffen, indem er scharf kritisierte, dass der Prozess der Bildung "Pastorales Räume" im Erzbistum Berlin zu einem geistlichen Prozess deklariert worden sei - "denn damit macht man ihn unangreifbar!". Aber hey, bei den Nikodemusgesprächen ist man höflich zu den Stargästen und verargt es ihnen auch nicht, wenn sie einem auf den Teppich pinkeln. Zumal es nicht auszuschließen ist, dass Thierse genau zu diesem Zweck eingeladen wurde. 

Wie es sich anhört, wenn im Rahmen dieser Veranstaltungsreihe "fromm gesprochen" und ernsthaft versucht wird, den Strukturreformen des Erzbistums eine geistliche Komponente abzugewinnen, davon durfte ich mir also gestern ein Bild machen. Bereits in meinem Bericht zur Thierse-Veranstaltung hatte ich angemerkt, dass der Ort der Veranstaltungsreihe - die Gedenkkirche Maria Regina Martyrum - sich "schon rein architektonisch hervorragend für Träume oder Alpträume von einer anderen, der Zukunft zugewandten Kirche eignet"; an gleicher Stelle hatte ich mich auch bereits über den Ankündigungstext für die Veranstaltungen dieser Reihe mokiert, in dem es heißt: 
"Wenn wir an die Kirche der Zukunft denken, was trauen wir Gott zu? Wohin brechen wir auf, was lassen wir zurück? Mit der Kraft des gläubigen Staunens rechnen und sich freuen am aufkommenden Wind." 
Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch. Der Rektor der Gedenkkirche, Pater Tobias Zimmermann SJ, eröffnete die jüngste Ausgabe der "Nikodemusgespräche" mit einem "Gebet", und siehe, auch das war Windhauch und Luftgespinst. Es war eigentlich eher ein Gedicht, wenn auch an mehreren Stellen unterbrochen durch einen Kehrvers aus dem Gotteslob; Autor und Titel wurden nicht genannt, sonst könnte ich jetzt versuchen, den Text irgendwo im Netz auszugraben und daraus zu zitieren. Würde sich aber kaum lohnen. Es kamen einige biblische Motive darin vor, beispielsweise Jakobs Kampf mit dem Engel (Genesis 32,23-33), aber im Großen und Ganzen war es vieldeutiges, schwammiges, ja nebelhaftes Geraune. Insofern eine, wie sich zeigte, durchaus adäquate Einstimmung auf das, was noch kommen sollte. 

Den Impulsvortrag hielt Schwester Prof. Dr. Margareta Gruber OSF, Franziskanerin und Professorin für Neues Testament und Biblische Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Vallendar. Ich sag mal so: Die Professorin konnte man ihr ansehen, die Ordensschwester eher nicht. Es gibt natürlich Ordensgemeinschaften, zu deren speziellem Charisma es gehört, in "Zivilkleidung", sprich: ohne Habit in der Welt zu leben. Die Franzikanerinnen von Siessen, denen Sr. Margareta angehört, gehören eigentlich nicht dazu, allerdings stellt diese Ordensgemeinschaft ihren Mitgliedern das Tragen des Habits frei. Wie mir aus dem "dunkelkatholischen Echoraum" zugetragen wurde, begründet die Theologieprofessorin die Wahl ihres Outfits damit, dass ihre Studenten sie in Zivilkleidung ernster nähmen, als wenn sie im Habit am Katheder stünde. Das gibt natürlich zu denken: Was mögen das für Theologiestudenten sein, die eine Ordensschwester im Habit weniger ernst nehmen als eine ohne? Aber lassen wir das mal dahingestellt. Auch dafür, dass Sr. Margareta Gruber aus der Diözese Rottenburg-Stuttgart kommt (und dass man diese Herkunft auch an ihrer Sprache deutlich bemerkt), kann sie letztlich nichts. Viel entscheidender ist allemal, was sie zu sagen hatte. Der Direktor der Katholischen Akademie, Joachim Hake, der Sr. Margaretas Impulsvortrag anmoderierte, hob hervor, die Referentin stehe für eine Theologie, die "nicht nur historisch-kritisch, sondern auch intertextuell" arbeite: "von den Evangelien zu Umberto Eco und zurück". Das ließ ja schon mal Schlimmes befürchten. 

Nun sollte es in dem Vortrag ja irgendwie um den Prozess der Pastoralen Räume gehen, und die Referentin wies gleich eingangs darauf hin, dass die Situation der Pfarreien - Mitgliederschwund, Verlust räumlicher Präsenz, damit einhergehend die Frage nach der Notwendigkeit des Zusammenschlusses zu größeren Einheiten - durchaus mit der Situation der Ordensgemeinschaften vergleichbar sei; ihre weiteren Ausführungen drehten sich jedoch nicht um praktische Konsequenzen dieser Situation, sondern darum, sie geistlich zu betrachten. Irgendwie jedenfalls. Der Großteil des Vortrags kreiste um die Feststellung, dass wir in einer "VUCA-Welt" leben - wobei die Buchstabenfolge VUCA für "volatility" ("Flüchtigkeit"), "uncertainty" ("Unsicherheit"), "complexity" ("Komplexität") und "ambiguity" ("Mehrdeutigkeit") steht. Tja, so ist sie wohl, die Welt, in der wir leben. Könnte man jetzt vielleicht meinen, der christliche Glaube ermögliche es, inmitten dieser flüchtigen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Welt so etwas wie Beständigkeit, Sicherheit und Eindeutigkeit zu finden? Nö, kann man nicht, meint Sr. Margareta: Im Gegenteil, Christsein ist eigentlich von vornherein und prinzipiell schon immer total VUCA. Sogar, ja besonders das Ostererlebnis, auf dem schließlich das ganze Christentum basiert, ist ein VUCA-Erlebnis par excellence - im Grunde sogar verunsichernder, ja verstörender als die Kreuzigung.  

"Noli me tangere" -- Mosaik im Dom von Monreale. (Bildquelle hier)
Krass. Muss man erst mal drauf kommen. Zugegeben: Dass die Auferstehung Jesu die Jünger zunächst einmal verunsichert hat, lässt sich anhand der Evangelien durchaus belegen. Aber wenn man über diese nachösterliche Verunsicherung spricht, sollte man dann nicht auch über Pfingsten sprechen - als den Moment, in dem die Jünger durch das Wirken des Heiligen Geistes die Sicherheit gewannen, die sie befähigte, rauszugehen und die Botschaft vom auferstandenen Christus zu verbreiten, mit allen Konsequenzen, die das für ihr eigenes Leben hatte? Aber nö. Stattdessen kreiste der Vortrag im weiteren Verlauf weitgehend darum, die Auferstehung als "Bild" zu betrachten und darüber zu orakeln, was dieses Bild uns denn wohl sagen wolle. Das scheint allgemein ein Problem einer "modernen" Theologie zu sein, die überall nur "Bilder" sieht und darum nie danach fragt, was etwas ist, sondern nur danach, was es bedeutet. Dass, wie Papst Benedikt XVI. immer wieder (und besonders eindringlich in seiner "Jesus von Nazareth"-Trilogie) betont hat, das Radikale, Welterschütternde des Christentums gerade darin besteht, dass im Zentrum seiner Lehre nicht irgendwelche Ideen stehen, sondern ein reales Ereignis - nämlich eben die Auferstehung Christi -, geht dabei in vieldeutigem Geraune unter. Schwammig, nebelhaft, Windhauch und Luftgespinst. "Wie sollen wir anderen Menschen erklären, dass wir an jemanden glauben, der gestorben und auferstanden ist?", fragt Sr. Margareta. Eine Frage, die vor allem dann zum Problem wird, wenn man selbst bestenfalls "irgendwie" daran glaubt.

An den Impulsvortrag schloss sich zunächst keine allgemeine Diskussion an, sondern erst einmal ein Gespräch zwischen Akademiedirektor Hake und der Referentin. Gleich die ersten Fragen, die Hake an Sr. Margareta stellte, unterstrichen den Eindruck, den ich schon während des Vortrags gehabt hatte: Vom christlichen Glauben wurde gewissermaßen nur im Konjunktiv oder in Anführungsstrichen gesprochen. Wie wäre es, ein gläubiger Christ zu sein? Was würde das für das eigene Leben bedeuten? -- Und da wundert man sich noch, dass der Kirche die Leute davonlaufen und dass insbesondere die Ordensgemeinschaften mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen haben. Wie kann man denn erwarten, dass jemand sein Leben an ein "Als-ob" und "Was-wäre-wenn" hingibt? Nun, ehrlich gesagt erwartet das wohl auch niemand. Man nimmt vielmehr achselzuckend hin, dass das nun mal so sei und man damit leben müsse. -- Als dann der Satz "Jesus kannte sicherlich auch eschatologischen Stress" fiel, hatte ich endgültig genug und trat den Rückzug an - nicht ohne zuvor, quasi zur Buße für die Teilnahme an dieser Veranstaltung, noch ein paar Minuten vor dem Tabernakel zu knien, der in einen Nebenraum ("Seitenkapelle" würde ich es nicht nennen) der Kirche ausgelagert ist.

Ich möchte übrigens - da man im Zeitalter der Microaggression ja so leicht missverstanden wird - betonen, dass es mir hier nicht darum geht, Sr. Margareta persönlich schlechtzumachen. Ich habe aus meinem virtuellen Bekanntenkreis durchaus auch Gutes über sie gehört. Es geht mir auch nicht darum, die Veranstaltung schlechtzumachen, weil ich mich etwa darüber ärgere, trotz Krankheit da hingegangen zu sein. Tatsächlich ärgere ich mich nicht darüber, dort gewesen zu sein, denn sonst könnte ich ja nicht darüber schreiben. Und das, was an dieser Veranstaltung so ärgerlich war, ist letztlich ja nur ein Symptom für so Manches, was in der Kirche im Argen liegt. 

In diesem Sinne war es so ziemlich das Ermutigendste an dieser Veranstaltung, dass sich kaum jemand dafür interessierte. Außer mir hatte sich nur ein ziemlich überschaubares Häuflein überwiegend älterer, halbwegs gutsituiert wirkender Leutchen herverirrt. Äußerlichkeiten mögen trügen, aber ich hatte das Gefühl, es handle sich im Wesentlichen um denselben Typus von Leuten, mit dem ich mich schon in meiner "ersten Fundi-Phase" - im Alter von ca. 14-16 Jahren - bei den ökumenischen Glaubensgesprächen in Butjadingen gern gefetzt habe: pensionierte Studienräte und -innen, die von ihrer intellektuellen Überlegenheit gegenüber dem gemeinen Landvolk ganz besoffen sind, sich dabei aber wahnsinnig tolerant und aufgeschlossen wähnen. Die Toscana-Landwein-Fraktion des Gottesvolks, gewissermaßen. -- Wäre ich ein bisschen fitter gewesen, hätte ich vielleicht Lust gehabt, auch hier, wie einstmals in Butjadingen , die Diskussionsrunde mit ein paar knalligen Sätzchen aufzumischen; aber, wie gesagt: Männergrippe. Da fuhr ich also doch lieber nach Hause. 

Was also haben wir an diesem Abend über die Zukunft der Kirche und/oder die "Kirche der Zukunft" gelernt? -- Nun, um die Zukunft der Kirche als Ganzer - der Kirche als mystischer Leib Christi, als wanderndes Gottesvolk, als Gemeinschaft der Heiligen - muss man sich keine Sorgen machen. Diese Kirche wird nicht untergehen, das hat der Herr ihr unmissverständlich zugesagt. Das gilt aber nicht zwangsläufig für konkrete kirchliche Strukturen, wie wir sie kennen und an die wir gewöhnt sind: Die können durchaus untergehen, und zum Teil verdienen sie es womöglich sogar. Dass der Niedergang der "Volkskirche" bei denen, die an sie gewöhnt sind und sich in ihr zu Hause fühlen, Sorgen und Ängste auslöst, ist verständlich; aber dieser Niedergang birgt auch Chancen. Anderswo blüht und wächst die Kirche. Und mit "anderswo" meine ich nicht nur "Afrika". Dieses "Anderswo" kann man auch hierzulande antreffen - etwa in den Neuen Geistlichen Gemeinschaften bzw. Bewegungen, aber sicherlich auch hier und da in Initiativen "ganz normaler" Pfarreien. Eine postchristliche Theologie, die Glaubensaussagen so sehr verwässert, dass sie nicht mehr in der Lage ist, Antworten zu geben, sondern nur immer neue Fragen aufwirft, ist hingegen sicherlich kein Weg in die Zukunft.

Möglicherweise sieht Sr. Margareta das sogar, entgegen dem ersten Eindruck, irgendwo gar nicht so völlig anders. Der eindeutig schönste Satz, den sie sagte, solange ich dabei war, lautete: "Wir brauchen einen stärkeren Glauben." In der Tat - den brauchen wir sehr


11 Kommentare:

  1. Wissen Sie was mein Problem mit solchen Berichten ist?

    Ich war (evgl. getauft, nicht mehr in der Kirche) Gott sehr lange fern und versuche mich langsam daran, ihn wieder zu hören.

    Und dann "begegnen" mir Geistliche und Kirchenobere die mir meine Fragen nach dem Glauben gleichsam mit kicksen und einem vetraulichen Rippenstoß "ach komm schon Andreas, meinste doch jetzt nicht Ernst, hihi" beantworten.

    Und ich denke mir dann immer, "siehste, wenn die das schon für Mumpitz halten, willst Du der letzte sein, der auf den Weihnachtsmannzug aufspringt?"

    Glücklicherweise bin ich kein Freund von faulen Ausreden und sage mir dann immer, dass es ja um meinen Glauben geht.

    Aber können Sie verstehen, dass das manchmal schwerfällt?

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    1. Ja, allerdings - das kann ich mir sehr gut vorstellen.

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  2. "Wie sollen wir anderen Menschen erklären, dass wir an jemanden glauben, der gestorben und auferstanden ist?"
    Ja, wie wohl - Zeugnis ablegen in Wort und Tat. Sagen, daß wir an Ihn glauben, und so leben, daß wir glaubwürdig sind.

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  3. Erinnert mich daran, daß dazu noch ein längeres übersetztes Zitat von - nein, ausnahmsweise nicht Chesterton - Msgr. Knox fällig ist.

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  4. So, jetzt:

    Sorry, wird sehr lang, aber das, was mE nicht relevant dazu ist, habe ich eh gestrichen.

    Aus: Msgr. Knox, The Belief of Catholics, Kap. 1, Internet etwas versteckt hier: http://www.ewtn.com/library/CHRIST/BELIEF.TXT

    (ewtn knox belief of Catholics liefert das bei Google, aber uU nicht bei anderen Suchmaschinen)

    I. Die moderne Abneigung gegen die Religion

    [...]

    Es scheint also, daß die beiden Prozesse Hand in Hand gehen: der Niedergang der kirchlichen Mitgliedschaft und der Niedergang des Dogmas; die Entleerung der Kirchenbänke und das Frachtabwerfen von der Kanzel. Ich habe Beispiele für diese Tatsache detailgenau aufgeführt, obwohl es tatsächlich kaum notwendig war, denn die beiden Tendenzen werden ganz allgemein zugestanden: die eine offen bedauert, die andere offen verteidigt. Stehen die Prozesse miteinander in Beziehung? Und, wenn ja, verursacht der Niedergang der kirchlichen Mitgliedschaft den Niedergang des Dogmas, oder ergibt sie sich daraus, oder sind das parallele Symptome? Es liegt, so denke ich, in all den drei Hypothesen Wahrheit.

    Zu einem gewissen Maße verursacht der Niedergang der kirchlichen Mitgliedschaft den Niedergang des Dogmas. Offenkundig ist die Beschwernis, die organisierte Religion beim Mann in der Straße verursacht, zum Teil intellektueller Natur. Andere Einflüsse mögen vorherrschen, um ihn von der Kirche wegzuhalten: z. B. eine allgemeine instinktive Abneigung gegen alle Formen von Autorität, oder Aufgehen in Vergnügungen und weltlichen Abschweifungen. Aber der Grund, den er jedenfalls selbst angibt dafür, daß er nicht in die Kirche geht, ist für gewöhnlich seine Unfähigkeit, „das Zeug, das die Pfarrer predigen“ zu glauben. Was wundert es uns da, wenn diese Einstellung den Prediger dazu bringt, seine Botschaft zu überdenken? Er würde sich selbst Vorwürfe machen, wenn er Seelen den Kontakt mit der Religion verlieren machte durch nicht angebrachtes Bestehen auf irgendeine Lehre, die nicht wahr ist -- oder sogar nicht sicher wahr -- oder auch nur theologisch unwichtig. Daher der Antrieb, eine neue Bestandsaufnahme seiner eigenen theologischen Position zu machen; ist er wirklich überzeugt von der Wahrheit, der Sicherheit, der Wichtigkeit dieser und jener Lehre? Es ist seine Pflicht, in der Tat, den ganzen Ratschluß Gottes zu verkünden. Aber was ist der ganze Ratschluß Gottes? Wenn er die Unirrbarkeit der Schrift, wie seine Väter vor ihm, akzeptieren könnte, dann hätte er wenigstens eine Karte zur Orientierung. Aber er hat keinen Grund, an die Unirrbarkeit der Schrift zu glauben, außer die Kirche garantierte sie ihm. […] [Msgr Knox geht primär auf die Protestanten ein.] Irgendwie also muß er seine eigene Theologie selbst konstruieren, und für die Konstruktion Verantwortung übernehmen; wenn er das tut, wäre er menschlich, wenn er nicht ein wenig beeinflußt wäre vom Unglauben der Leute um ihn herum, von jenen ungefüllten Kirchenbänken, die ihm Sonntag für Sonntag vorwerfen, eine Botschaft zu predigen, die der Zeitgeist nicht akzeptieren kann.

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  5. Ich will damit nicht unterstellen, daß das Verlangen, dem Unglauben auf halbem Wege entgegenzukommen, die einzige oder auch nur hauptsächliche Ursache für die lose Theologie unserer Zeit ist. Kein Prediger würde bewußt die Glaubhaftigkeit seiner Botschaft anhand der Gläubigkeit seiner Zuhörerschaft beurteilen [Anm.: geschrieben in den 1930ern]. Aber die vorherrschende Areligiosität des Zeitalters übt doch einen stetigen unbewußten Druck auf die Kanzel aus; sie bringt Prediger dazu zu zögern, Lehren zu bekräftigen, deren Bekräftigung unpopulär wäre. Und eine Lehre, die aufgehört hat bekräftigt zu werden, ist wie ein ungenutztes Organ (Orgel?) zur Verkümmerung verurteilt.

    Daß Modernismus im Klerus und Skepzitismus in der Laienschaft bis zu gewissem Grade parallele Auswirkungen derselben Ursachen sind, braucht kaum bewiesen werden. Die zuversichtlichen Behauptungen des Philosophen, des Naturwissenschaftlers, des Historikers – daß die Wahrheit relativ sei, nicht absolut; daß wir an die Genesis nicht länger glauben könnten; daß das Christentum direkt von heidnischen Mysterienkulten abstamme – werden auf verschiedene Geister verschiedene Auswirkungen haben. Der eine wird ganz einfach sagen, „dann ist es Unsinn, noch ans Christentum zu glauben“; ein anderer wird es vorziehen, darüber nachzudenken, wie die fortdauernde Wahrheit des Christentums am besten mit diesen scheinbar entmutigenden Ideen vereint, wie am besten im Lichte dieser kürzlichen Hinzufügungen zum menschlichen Wissen neu formuliert werden könnte. Manchmal ist es eine Sache der Berufsausbildung und der Einstellung; A sucht schon, nein, ist fast bereit willkommenzuheißen eine Entschuldigung dafür, seine alten religiösen Ideen aufzugeben; B würde eher der Vernunft selbst Lebewohl sagen, als die Wahrhaftigkeit der Kirche anzufechten, die ihn genährt hat. Manchmal ist es eine Angelegenheit des Temperaments; die Welt kann (unter anderen nützlichen Dichotomien) geteilt werden in die Leute, die etwas so nehmen, wie gegeben, oder es ganz lassen [original schöner „who take it or leave it"] und die, die die Unterschiede ausdifferenzieren. Manchmal gibt es echtes intellektuelles Ringen in einem gewissenhaften Geist, ob irgendein Entgegenkommen nicht doch auf konsistente Weise gemacht werden könnte zwischen der neuen Wahrheit und der alten Tradition.

    […]

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  6. In einem gewissen Sinne also erklärt der Niedergang der kirchlichen Mitgliedschaft den Niedergang des Dogmas. In einem anderen Sinne ist es ein paralleler Effekt derselben Ursachen. Aber es gibt auch einen Sinn, in dem der Niedergang des Dogmas den Niedergang der kirchlichen Mitgliedschaft erklärt.

    So eine Unterstellung ist natürlich gänzlich den modischen Platitüden unseres Tages entgegengesetzt [schon in den 1930ern]. Wenn man „das Versagen der Kirchen“ in der öffentlichen Presse diskutiert, bestehen unsere wohlmeinenden Berater alleweil mit einer etwas ermüdenden Wiederholung auf der Notwendigkeit eines umfassenderen Christentums, welches hinwegkommen möge von Formen und Zeremonien, von Dogmas und Credos, und seine Aufmerksamkeit auf jene elementaren Prinzipien des Lebens und der Andacht richten möge, die alle Christen im Herzen trügen. Jeder Prophet, der uns so erleuchtet, geht übrigens anscheinend von der ganz kuriosen Annahme aus, daß er der erste ist, der jemals irgend etwas derart vorgeschlagen hätte. Die Faktenlage ist zufällig so, daß die ehernen Lungen des Presseviertels [orig. Fleet Street] uns mit genau diesen Direktiven schon ein Vierteljahrhundert lang anschreien. Und haben „die Kirchen“ das etwa nicht zur Kenntnis genommen? Im Gegenteil; wie ich oben vermutet habe, haben die Steuerleute unserer sturmumtosten Konfessionen keine Gelegenheit ausgelassen, das Schiff zu erleichtern durch Preisgabe jeden Punktes in der Lehre, der fraglich und daher unwesentlich erschien; die Hölle ist abgeschafft, die Sünde fast auch schon; auf das Alte Testament wird nie angespielt es sei denn mit einem Sturzbach von Disclaimern, auch auf Wunder nicht es sei denn mit einer apologetischen Grimasse. Prediger der rivalisierenden Sekten haben die Kanzeln getauscht [in den 1930ern schon?]; „ökumenische Gottesdienste“ [orig. für ersteres: „joint“, gemeinsam, das Wort gab's damals wohl noch nicht] sind aus Anlässen von öffentlicher Wichtigkeit abgehalten worden; sogar die Einweihung einer neuen anglikanischen Kathedrale kann heutzutage nicht mehr stattfinden ohne eine Verbrüderung der Christenheiten.In hunderten Kirchen und Kapellen wurde alles getan, das getan werden konnte, um diese modernen Toleranzansprüche* zu befriedigen. Und das Ergebnis?

    Das Ergebnis ist, daß jemand, solange er ein guter Prediger, ein guter Organisator, eine fesselnde Persönlichkeit ist, immer eine gewisse lokale Gefolgschaft finden kann, und in dieser Gefolgschaft steht ihm ein Ruf der Toleranz** gut an. Aber der gewöhnliche Mann, der nicht in die Kirche geht, ist von diesem Prozeß ganz ungerührt. Er denkt nicht besser über das Christentum wegen dessen Bemühungen, undogmatisch zu sein. Nicht daß er irgendeine ausdrücklich Antwort auf diese Offerten [orig. „Ouvertüren“] macht; er ignoriert sie ganz einfach. Nichts, glaube ich, hat mehr zu den kürzlichen Erfolgen der „anglo-katholischen“ Bewegungen beigetragen als die Überzeugung, Stück für Stück in den Klerus vorgetragen, daß der tolerante*** Appell erfahrungsgemäß nicht zieht. Dogmen mögen aus dem Fenster fließen, aber Kirchgemeinden kommen nicht zur Tür herein.

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  7. Dem allen wird, als Sache täglicher Erfahrung, kaum widersprochen werden. Was nun folgt, ist kontroverser; in der Tat ist es eine These, die kaum einen exakten Beweis erlaubt. Es scheint jedenfalls mir, daß bei (sagen wir) sieben von zehn unserer Landsleute, wenn sie denn überhaupt einen Gedanken auf diese Angelegenheit verwenden, schlechter, nicht besser, von unseren modernen Führern denken wegen ihrer Willigkeit, das Dogma über Bord den Wölfen des Unglaubens zum Fraße vorzuwerfen. Das theologische Chaos, das zwei [heute fünf] Generationen Kontroverse hinter sich gelassen haben, wird ihnen Anstoß, nicht Anlaß zum Beeindrucktsein. Es ist die gemeinsame Annahme aller dieser modernen Propheten, welcher Schule auch immer, daß die religiöse Wahrheit etwas noch nicht Herausgefunden ist, etwas, das Stück für Stück durch einen langsamen Prozess von Versuch und Forschung etabliert wird. Sie prahlen noch mit ihrer Unentschiedenheit; sie paradieren ihre Meinungsverschiedenheiten; sie zeigen (sagen sie) einen gesunden Geist furchtloser Untersuchung, diese Freiheit vom Alpdruck der Tradition. Solche Gefühle evozieren, glaube ich, kein applaudierendes Echo außerhalb ihrer unmittelbar eigenen Zirkel. Der beklommene Eindruck läßt sich auf dem Durchschnittsbürger nieder, daß „die Pfarrer von ihrem eigenen Fachgebiet keine Ahnung haben“ [orig. „do not know their own business“]; daß Meinungsverschiedenheiten zwischen Sekte und Sekte nicht weniger, sondern mehr unerbaulich sind, wenn beide Seiten hastig erklären, daß die Meinungsverschiedenheit nur um Äußerlichkeiten und nicht Wesentliches gehe; daß das Christentum, wenn es nach zwanzig Jahrhunderten immer noch im Formulierungsstadium sei, schon eine gehörig unfaßbare Sache sein müsse. Der Durchschnittsbürger erwartet von jeder Religion, die von ihm Ansprüche erhebt, daß sie eine geoffenbarte Religion sei; und wenn die Lehre des Christentums geoffenbarte Lehre ist, wieso dann all dieses immerwährende Bedürfnis zu diskutieren und umzuformulieren? Warum solllte eine göttliche Struktur andauernd mit Gesetzänderungsentwürfen daherkommen? Darüberhinaus ist er auch ein wenig argwöhnisch gegenüber diesen modernen Zugeständnissen, diesen Versuchen, ihm auf halbem Wege entgegenzukommen. Sind solche Aktien (fragt er in seiner geschäftlichen Denkweise) denn wirklich ein gesundes Investment, wenn die, die sie haben, so erpicht darauf sind, sie um jeden Preis loszuwerden?


    Es sind nicht nur die theologischen Spekulationen der modernen Christenheiten, die dieses Gefühl der Beklommenheit hervorrufen. Es ist die ganze entgegenkommende Attitüde, die die Religionen von heute und ihre Bekenner einnehmen – entgegenkommend, und daher nicht beruhigend. Ein unendlich kleiner Punkt, aber bringt das vollständige oder teilweise Aufgeben des klerikalen Gewandes die Laienschaft dazu, sich bei ihnen eher zu Hause zu fühlen? Schafft es nicht eher den Verdacht, daß die sich schämen für das, was sie sind?[...]

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  8. Wissen die Kirchen, was sie wollen, oder auch nur, was jede von ihnen will? Das ist im Endeffekt die Frage, die die Menschen heute weit mehr irremacht als irgendein eigentliches theologisches Problem. Ich meine damit nicht, daß der gewöhnliche Engländer sich um diese Frage fortwährend sorgen macht; die traurige Wahrheit ist, daß er des dafür nötigen Interesses in religiösen Fragen gänzlich entbehrt. Man wird nur gelegentlich flüchtige Blicke auf seine Einstellung bekommen; aber sie sind meiner Meinung nach nicht mißzuverstehen. „Sollen sich die Kirchen erstmal entscheiden, was sie wollen“ [orig. „make up their mind“], sagt er, „und dann hergehen und es mir verzählen.“ Unterdessen gibt es kein Anzeichen dafür, daß solch ein Ereignis wahrscheinlich wäre. […] Diese Generation wird sterben, und die nächste auch, bevor „die Kirchen“ die Nation ein gemeinsames Programm vorstellen können.

    [Anm.: Msgr. Knox beschreibt primär die Anglikaner und präsentiert die katholische Kirche u. a. dazu als Alternative...]

    [* „Toleranz“ ist hier ein falsch verwendetes Wort, das im Original auch nicht steht - schon Gerhard Polt weist uns darauf hin, daß es von „etwas aushalten“ kommt -, aber wohl das einzige im deutschen Etablierte, das üblicherweise für so etwas verwendet wird. Im Original steht „latitudinarisch“, das wir leider nicht kennen.

    **ähnliches Problem, hier aber orig. ein anderes Wort: „broad-minded“

    *** hier wieder "latitd."]

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  9. Danke für die akribische Arbeit... Spannender Text.

    Auch ganz gut zum Thema zu passen scheint mir ein Artikel von Father Longenecker, auf den ich just gestern stieß:

    http://www.patheos.com/blogs/standingonmyhead/2010/10/christianity-without-dogma.html





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