Dienstag, 31. Mai 2016

Christus in Leipzig

"Die meisten Veranstaltungen, die es hier gab, könnte man doch genausogut auch auf dem Karneval der Kulturen oder so finden", meinte meine Liebste am Abend unseres eintägigen Besuchs beim Katholikentag. "Ich meine, okay, natürlich will man auch Leute erreichen, die der Kirche fern stehen, aber..." 
"Aber man muss sich doch nicht nur fragen, wie man Leute erreichen kann, sondern auch, wozu man sie eigentlich erreichen will", warf ich ein. "Und was soll es bringen, Leute mit Angeboten zu locken, die sie genausogut auch woanders finden können, ohne dass 'Kirche' drauftsteht? Läge das, sagen wir mal, missionarische Potential der Kirche nicht viel eher darin, fundamental anders zu sein als alle Anderen?" 
"Aber missionieren will man doch schon aus Prinzip nicht", murrte meine Liebste. 
"Da sind wir doch wieder bei der Frage, wozu man die Leute überhaupt erreichen will", beharrte ich. "Wenn man nicht missionieren will, was ist denn dann die Absicht dahinter, Leute anzusprechen, die der Kirche fern stehen? Geht es nur darum, das Gefühl zu haben, 'gesellschaftlich relevant' zu sein?" 
"Ja. Genau das." 
"Hm. Wahrscheinlich hast du Recht." 

Wir führten dieses Gespräch, nachdem wir uns zwei Sitzplätze in der Nikolaikirche erobert hatten, wo in rund zwanzig Minuten der Gottesdienst der geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen beginnen sollte. Den Anlass für diese Reflexionen hatte der enorme Andrang gegeben, der hier herrschte und den wir sonst nirgends auf diesem Katholikentag auch nur annähernd erlebt hatten. Eine halbe Stunde vor dem angekündigten Beginn des Gottesdienstes waren die Türen geöffnet worden, und im Handumdrehen war die Kirche rappelvoll. Schon beim vorigen Katholikentag, 2014 in Regensburg, waren der Gottesdienst der geistlichen Gemeinschaften und das anschließende Nightfever extrem gut besucht gewesen, und genau deshalb hatte man diesmal die größte Kirche Leipzigs, mit fast 1.500 Sitzplätzen, für diese Veranstaltung ausgewählt. Dennoch schien der Besucheransturm noch größer als erwartet. Dafür sprach sowohl die unverkennbare Nervosität des Einlasspersonals als auch der Umstand, dass es viel zu wenig Liederzettel für die Gottesdienstbesucher gab: Eigentlich sollte jeder zweite einen bekommen, aber soweit ich es überblicken konnte, reichten sie nicht einmal für jeden vierten. Meine Liebste stellte die These auf, dieser Andrang zeige einen Hunger nach geistlichen Angeboten, der im Katholikentagsprogramm insgesamt zu kurz gekommen sei; und ich war geneigt, ihr zuzustimmen. 

Der Gottesdienst der geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen wurde zelebriert von Heinrich Timmerevers, dem kürzlich ernannten, aber noch nicht ins Amt eingeführten Bischof von Dresden-Meißen; allerdings stand er der Messe nicht deshalb vor, weil er der zukünftige Ortsbischof ist - was zum Zeitpunkt der Planung wohl noch gar nicht bekannt war -, sondern, weil er der zuständige Ansprechpartner für die geistlichen Gemeinschaften in der Bischofskonferenz ist. Eine interessante Fügung, wie ich fand. Musikalisch gestaltet wurde der Gottesdienst von einer Sacropop-Band, die anschließend auch das Nightfever begleitete; beim Einzugslied - "Lobe den Herren" - sang die Gemeinde allerdings ziemlich souverän über das poppige Arrangement hinweg. Streng genommen handelte es sich nicht um eine Vorabendmesse zum Sonntag, vielmehr wurde die Liturgie des Samstags gefeiert; folglich gab es kein Gloria und kein Credo, immerhin aber einen sehr schön vertonten Antwortpsalm nach der Lesung. Schade, dass man dergleichen sonst so selten hört - weil in vielen Kirchen der Antwortpsalm gewohnheitsmäßig durch ein Lied aus dem Gotteslob ersetzt wird. Vor dem Kyrie gab es - mit Bezug zum Katholikentagsmotto "Seht, da ist der Mensch" - fünf Glaubenszeugnisse von Menschen, die jeweils eine bestimmte Personengruppe innerhalb der Kirche repräsentieren sollten: ein alter Mensch, ein Ehepaar, ein junger Mensch (eine Studentin), ein Priester, schließlich ein Flüchtling. 

Bischof Timmerevers' Predigt gefiel mir überwiegend gut. Darin stellte er das Katholikentagsmotto in seinen biblischen Kontext (Johannes 19.5) und bezog es konsequent auf das Antlitz Jesu; sehr passend zur anschließenden Eucharistischen Anbetung betonte er, wie zentral es für den christlichen Glauben sei, Jesus anzuschauen und sich von Ihm anschauen zu lassen. Auch auf die Herz-Jesu-Verehrung ging Bischof Timmerevers ein, auf die Gebetsbitte "Jesus, bilde unser Herz nach Deinem Herzen". Nicht ganz so glücklich war ich zunächst mit den zahlreichen politischen Bezügen, die sowohl in der Predigt als auch in den Fürbitten und an anderen Stellen des Gottesdienstes zur Sprache kamen. So wurde beispielsweise mehrfach die historische Bedeutung der Nikolaikirche im Zusammenhang mit der "Friedlichen Revolution" von 1989 hervorgehoben, bis ich irgendwann dachte: Ist ja schon gut, wir haben's kapiert. Und als an einer Stelle der Predigt - nämlich genau in diesem Zusammenhang - spontan Applaus aufbrandete, dachte ich etwas grimmig: Paulus schrieb an die Apachen... Aber lassen wir das. 

Als die Band als Schlusslied - bzw. als Übergang zum Nightfever - "Jesus, Dein Licht" anstimmte, wurde ich jedenfalls von einer euphorischen Stimmung ergriffen, die jedwede Beckmesserei in die Flucht schlug. Das Lied kenne ich - wenn auch ursprünglich nur auf Englisch ("Shine, Jesus, Shine") - noch aus meiner "ersten Fundi-Phase", die so ungefähr von 14 bis 16 ging. Damals hat die Jugendgruppe meiner Kirchengemeinde, geleitet von meiner Schwester, in zwei aufeinanderfolgenden Jahren am Gründonnerstagabend "Anbetungsnächte" in der kleinen Herz-Mariä-Kirche in Burhave gestaltet. Englischsprachige Lieder haben wir da nicht gesungen, aber ähnlich schmissige Nummern wie "Groß und wunderbar" oder "Du bist der Höchste, o Herr". Bei der Erinnerung daran bekomme ich jetzt noch Gänsehaut. -- Im Übrigen fiel mir auf, dass "Jesus, Dein Licht" - egal, ob auf Deutsch oder Englisch - durchaus auch ein politisches Lied ist: "Füll' dies Land mit des Vaters Ehre", das ist eine politische Aussage! Aber in einem guten Sinne: Es geht darum, den Glauben in die Politik zu tragen, und nicht, wie es auf Kirchen- und Katholikentagen (und auch nicht nur da) so oft und gern geschieht, umgekehrt. Und das passt dann ja auch wieder irgendwie zur Nikolaikirche. 

Nach dem Ende des Gottesdienstes schien sich die Kirche zunächst ein wenig zu leeren - was meine Liebste und ich zum Anlass nahmen, uns einen besseren Platz zu suchen -, aber die meisten Besucher blieben doch da, neue kamen hinzu, und ehe man sich's versah, war die Kirche wieder voll. Nun wurde erst einmal erklärt, worum es beim Nightfever geht, und da ich hier ja nicht nur für die schreibe, die schon alles wissen, erkläre ich es an dieser Stelle auch. -- Kernstück des Nightfever ist die Eucharistische Anbetung: Der eucharistische Leib Christi wird in einer Monstranz auf dem Altar ausgestellt und angebetet. Punkt. Parallel dazu gibt es beim Nightfever Gelegenheit zu Beichte oder Seelsorgegespräch. Das klingt soweit vielleicht alles nicht gerade poppig, aber die Nightfever-Initiative versteht es, dieses im Grunde ganz traditionelle geistliche Angebot sehr ansprechend zu präsentieren - mit stimmungsvoller Musik und gelegentlichen Meditationstexten, mit Kerzenlicht und einer allgemein offenen und einladende Atmosphäre. Man kann Gebetsanliegen auf kleine Zettel schreiben, die dann an ein Kloster weitergegeben werden, und man kann aus einem Korb einen Bibelvers zur persönlichen Inspiration ziehen. Klingt immer noch nicht besonders poppig? Kann sein. Vielleicht muss man es einfach erlebt haben, um es zu begreifen. 

Ich war zuvor drei- oder viermal in Berlin zum Nightfever, in der Rosenkranzbasilika in Steglitz. Im direkten Vergleich dazu schien die Nikolaikirche zumindest auf den ersten Blick atmosphärisch etwas weniger geeignet für diese Veranstaltung: Es war zu hell, und da aus Denkmalschutzgründen kein offenes Feuer erlaubt war, gab es nur LED-Teelichter. Und dennoch, es war überwältigend - zum Teil wohl auch wegen der unglaublich vielen Menschen. Und irgendwie hatte es ja auch was, Eucharistische Anbetung in einer evangelischen Kirche zu feiern - ein bisschen Rückkehrökumene, könnte man augenzwinkernd sagen. Nicht einmal die Tatsache, dass es keine Kniebänke gab, wirkte sich sonderlich störend aus: Man konnte auch ganz gut auf dem Holzfußboden knien. 

Da das Nightfever bis Mitternacht gehen sollte, meine Liebste und ich aber nicht bis zum Schluss bleiben konnten, reihten wir uns schon relativ zu Beginn der Veranstaltung in die Schlange vor dem Altar ein, um auf den Altarstufen vor dem Allerheiligsten zu knien, unsere Teelichter dort abzustellen und einen Bibelvers zu ziehen. Ich verrate an dieser Stelle nicht, welche Vers ich gezogen habe, aber so viel sei doch gesagt, dass er absolut perfekt für mich war - eine Antwort auf eine ganz konkrete Frage, die mich seit ein paar Tagen umtrieb. Und meine Liebste zog ebenfalls einen sehr schönen und passenden Vers. 

Erst bei der Rückkehr in die Kirchenbank fiel mir so richtig auf, wie voll die Kirche war. Das muss man sich mal vorstellen: Hunderte von Menschen standen Schlange, um vor dem Allerheiligsten zu knien! Ein umso bemerkenswerterer Anblick, wenn man ihn mit den Klagen über schwach besuchte Podiumsdiskussionen und Vorträge bei diesem Katholikentag verglich. Ein Social-Media-Bekannter und Bloggerkollege kommentierte diesen Kontrast auf Facebook treffend: "Kein leerer Platz? Huch, dann wird der Herr selbst dort sein und kein Politiker. ;)" Oder, wie meine Liebste in ihrem Blog schrieb
"Gerade Gebetspraktiken, die eine solche Tiefe und Intimität haben, sprechen die Menschen heute an. Eben weil sie nicht in die Zeit zu passen scheinen, gibt es eine Sehnsucht nach Dingen wie diesen." 
Ich muss sagen, dass ich anfangs etwas irritiert darüber war, wie ausführlich zu Beginn der Veranstaltung den Besuchern erklärt wurde, was Eucharistische Anbetung und was Beichte ist (bzw. "wozu das gut sein soll"). Aber dann ging mir auf, dass das Nightfever sich ja auch und nicht zuletzt an Menschen richtet, denen diese Art von Glaubenspraxis fremd ist. Und das ist im Grunde genau die Antwort auf die im einleitenden Dialog aufgeworfenen Fragen: Nightfever hat nicht nur ein Konzept, wie man Leute erreicht, sondern auch eine Vision, wozu man sie erreichen will. Nämlich, um sie zu Christus zu führen und mit Gott zu versöhnen. 

Unter diesem Aspekt war sogar der Umstand, dass direkt neben der Nikolaikirche das ziemlich lautstarke Straßenfest "Danke, Leipzig!" zum Abschluss des Katholikentags stattfand - was man rein akustisch als störend hätte empfinden können -, eigentlich von Vorteil. Denn auf diese Weise waren viele Leute da, die die Nightfever-Mitarbeiter einladen konnten, in die Kirche zu kommen. Was ja offenbar gut funktionierte. Und wie es funktionierte. 

Als wir die Nikolaikirche schließlich verließen, hatte ich das Gefühl, wie auf Wolken zu schweben, so erfüllt war ich von der intensiven Atmosphäre des Glaubens und der betenden Hingabe, die an diesem Abend in der größten Kirche Leipzigs geherrscht hatte. Wenn Leute meinen, man müsse die "Kirche der Zukunft" mit Hilfe von Pastoralplänen, Strukturreformen und Verbandsbeschlüssen auf die Beine stellen, dann, denke ich, wird meine feststehende Erwiderung darauf von nun an lauten: Wer die Zukunft der Kirche sehen will - ach was, was heißt sehen; wer sie SPÜREN will -, der muss zum Nightfever gehen. 


Seht, wie sie einander lieben - Bloggupy Leipzig, Teil 3

Vor der "Global-Spirit-Jurte": Eine Frage und - links im Bild - die Antwort <3 
"Katholikentage sind bisweilen wie große Familienfeste" - das sagte Kardinal Woelki, Erzbischof von Köln, in einem vom Domradio veröffentlichten Video, und ich dachte unwillkürlich: Das passt. Große Familienfeste beginnen ja gern damit, dass Leute, die sich seit 30 oder noch mehr Jahren nicht leiden können, gute Miene zum bösen Spiel machen und voreinander mit ihren Errungenschaften und ihren wohlgeratenen Kindern angeben; und später, wenn alle besoffen sind, fliegen dann die Teller, manchmal auch die Stühle. 

Aber jetzt mal Scherz und Polemik beiseite: Die Kirche als eine große Familie zu betrachten, ist tatsächlich in vielerlei Hinsicht gar nicht so verkehrt; nicht nur, aber eben auch insofern, als es in einer Familie naturgemäß Konflikte gibt. Bei allem Konfliktpotential sind Christen jedoch in besonderer Weise dazu aufgerufen, einander zu lieben: "Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben", spricht Christus in Johannes 13,34, und wenn Er das ausdrücklich als "neues Gebot" bezeichnet, dann ist klar, dass das etwas Außergewöhnliches sein muss. "Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele", heißt es denn auch in der Apostelgeschichte (4,32); und der frühchristliche Autor Tertullian (ca. 150-220) berichtet, die heidnischen Römer hätten über die Christen gesagt "Seht, wie sie einander lieben". Der Befund ist eindeutig: Liebe ist das Merkmal, das Christen auszeichnen soll, an dem man sie als Christen erkennen soll.  

Gesehen im "Schreibcafé" der Propsteikirche 
Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Thema Liebe in vielen Veranstaltungen des Katholikentags eine große Rolle spielte; meist war damit allerdings vor allem die geschlechtliche Liebe gemeint. So waren unter den Veranstaltungen, die meine Liebste und ich allein am Samstag verpasst haben, ein Gesprächskreis "Glaubensstark. Katholisch. Homosexuell" (11:00-12:30 Uhr in der Anton-Philipp-Reclam-Schule) sowie Workshops zu Themen wie "Sexuelle Identität - Was ist das?" (14:00-15:30 Uhr im Landesgymnasium für Sport) und "Let's Talk About Sex - Zeit, sich der sexuellen Vielfalt zu widmen" (16:30-18:00 Uhr im Eva Schulze). Natürlich, Sex ist ein wichtiges Thema, über das es auch kirchlicherseits Mancherlei zu sagen gibt; aber man konnte schon den Eindruck einer gewissen Überrepräsentanz dieses Themas gewinnen, die geeignet war, die Tatsache, dass der Begriff "Liebe" noch mehr und Anderes umfasst, in den Hintergrund zu drängen.

An der Wand des "Schreibcafés" der Propsteikirche entdeckte ich einen Zettel, auf dem in kindlicher Handschrift und mit Buntstiften in verschiedenen Farben kritische Anfragen an die Morallehre der Kirche gestellt wurden, und praktisch alle Punkte drehten sich direkt oder indirekt um die katholische Sexualmoral:


Nun ist es natürlich grundsätzlich legitim, Kritik in Form von Warum-Fragen zu äußern; das Fazit "Es wird Zeit, dass die katholische Kirche moderner wird!!!" erweckt allerdings den Eindruck, dass an einer Beantwortung dieser Fragen gar kein Interesse besteht. Denn die Kirche hat ja durchaus Antworten darauf, die Frage ist nur, ob man sie hören will bzw. bereit ist, sie zu akzeptieren. Nebenbei bemerkt finde ich ja, die Forderung, die Kirche müsse ihre Lehre an die heutige Zeit anpassen, ist so ziemlich die dümmste Forderung, die man an die Kirche stellen kann. Wie schon Chesterton sinngemäß schrieb: Eine Lehre mit Wahrheitsanspruch kann richtig oder falsch sein, aber ob sie richtig oder falsch ist, kann nicht davon abhängen, ob sie in die Zeit passt. Zudem: Wozu wäre eine Kirche nütze, die den Leuten das sagt, was sie hören wollen? Um abermals Chesterton zu bemühen: "Ich brauche keine Kirche, die mir sagt, dass ich im Unrecht bin, wenn ich weiß, dass ich im Unrecht bin. Ich brauche eine Kirche, die mir sagt, dass ich im Unrecht bin, wenn ich meine, im Recht zu sein."

Aber schauen wir uns die Fragen mal im Einzelnen an -  wenn auch nicht notwendigerweise in der Originalreihenfolge, und schon gar nicht in gleichmäßiger Ausführlichkeit. Ein paar Punkte lassen sich ja ganz schnell und leicht erledigen: "Warum darf ich keinen Sex vor der Ehe haben?" "Warum soll ich keine Kondome benutzen?" - Weil du erst ZWÖLF bist, mein Kind.

Insgesamt haben wir es bei der Auswahl der Kritikpunkte natürlich mit lauter "Klassikern" der Debatte zu tun, was nicht nur ein bisschen langweilig ist, sondern in der direkten Zusammenschau auch etwas nach "Hauptsache, man hat etwas zu meckern" aussieht: "Warum dürfen Frauen keine Priester werden?" "Warum dürfen Pfarrer keine Familie haben?" Hier lauert ein Dilemma: Ist Priester sein nun etwas Erstrebenswertes oder nicht? Würde den Frauen, die unbedingt Priester werden wollen, ihr Herzenswunsch erfüllt, hätten sie dann nicht anschließend gleich wieder etwas zu bemängeln? Aber wahrscheinlich ist gerade das das Gute daran.

Wie machen das eigentlich die Altkatholiken? Ist bei denen alles erlaubt? Gibt es da gar nichts, woran man sich als moderner, aufgeklärter Mensch reiben kann?  Besonders attraktiv scheint das diese Konfession (knapp 16.000 Mitglieder in Deutschland) allerdings nicht zu machen. Vielleicht sollten die Altkatholiken sich mal überlegen, ihren Gläubigen irgendwas Schräges zu verbieten. Weiße Socken zum Beispiel. 

Und dann gibt es noch Fragen, die von vornherein falsche Unterstellungen enthalten. "Warum kommen Homosexuelle in die Hölle?" Also bitte, wer behauptet denn sowas? Die Auffassung, Homosexuelle kämen prinzipiell und zwangsläufig in die Hölle, mag ja von manchen extremen Hardlinern gehegt werden - katholisch ist sie jedenfalls nicht. Ob ein Mensch zum Zeitpunkt seines Todes so vollständig und unwiderruflich alle Brücken zu Gott abgebrochen hat, dass ihm kein anderer Weg mehr bleibt als der in die Hölle, das ist etwas, was außer Gott und (vielleicht) dem betreffenden Menschen selbst niemand wissen kann und somit auch niemand zu beurteilen hat. Und dafür, ob jemand nach menschlichem Ermessen akut Gefahr läuft, in der Hölle zu landen, sind ganz andere Kriterien ausschlaggebend als die sexuelle Neigung. 

Zugestanden, die Katholische Kirche lehrt, dass "homosexuelle Handlungen in sich nicht in Ordnung sind", wie es etwa in der Erklärung "Persona humana" der Hl. Kongregation für die Glaubenslehre heißt. Da, wie man kaum wird leugnen können, sexuelles Begehren eine starke Triebfeder menschlichen Handelns ist, stehen homosexuell empfindende Menschen somit vor besonderen Schwierigkeiten, wenn sie ihr Leben mit der Lehre der Kirche in Einklang bringen wollen. Diese Schwierigkeiten sind sehr ernst zu nehmen, daher heißt es im Katechismus der Katholischen Kirche (Nr. 2358), homosexuell empfindenden Menschen müsse "mit Achtung, Mitleid und Takt" begegnet werden. Dennoch kann die Kirche nicht einfach aus Rücksicht auf die Gefühle Homosexueller ihre Lehre ändern.

Was mich übrigens darauf bringt, dass meine Liebste - wie sie selbst schon geschildert hat - auf der "Kirchenmeile" eine angeregte Diskussion mit einer Dame vom "Netzwerk Katholischer Lesben" hatte, der ich interessiert zuhörte, mich aber nur sehr sporadisch einmischte. (Ein paar Meter weiter war der Stand der "Vereinigung katholischer Priester und ihrer Frauen", da hätte man gleich noch eine heiße Diskussion über den Zölibat führen können, aber um diesen stand machten wir dann doch lieber einen Bogen.) Die Diskussion am Stand des NkaL wurde ausgelöst durch eine Pinnwand, auf der die KatholikentagsbesucherInnen ihre Gedanken zu dem Satz "Eine lesbische Gemeindereferentin ist besonders wertvoll, weil..." hinterlassen sollten. 


Ich sagte es zwar nicht, aber im Grunde fand ich schon die Fragestellung diskriminierend. Man könnte darüber diskutieren, wieso Gemeindereferentinnen nicht lesbisch sein dürfen sollten; man könnte argumentieren, für die Tätigkeit einer Gemeindereferentin sei ihre sexuelle Orientierung irrelevant. Indem man aber suggeriert, eine lesbische Gemeindereferentin könne "besonders wertvoll" für ihre Gemeinde sein, unterstellt man ja eben doch, dass die sexuelle Orientierung für diese Tätigkeit von Bedeutung ist. Für mein Empfinden spricht daraus ein ausgesprochen problematisches Menschenbild, das dem oben bereits einmal gefallenen Schlagwort von der "sexuellen Identität" tendenziell von vornherein anhaftet - nämlich die Ansicht, die geschlechtlichen Neigungen eines Menschen seien nicht nur ein Teilaspekt seiner Persönlichkeit, sondern die zentrale Eigenschaft, die seine Identität definiert: Wer sich sexuell (überwiegend oder ausschließlich) zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlt, der ist ein "Homosexueller", und das ist er nicht nur im Ausleben seiner Sexualität, sondern in allen Lebenslagen. Ich wiederhole mich: Das finde ich diskriminierend. Aber ich glaube, dieses Thema sprengt hier den Rahmen. Ich sollte versuchen, das an anderer Stelle näher auszuführen.

Als die Dame vom Lesbenstand beklagte, die Kirche würde mit ihrer Morallehre Menschen verurteilen und in ihrer Entscheidungsfreiheit einengen - auch dies ja ein Punkt auf dem Buntstift-Kinderschrift-Zettel: "Warum soll ich mich in meinen Entscheidungen eingrenzen lassen?" -, musste ich mich doch mal zu Wort melden. Ich argumentierte, Entscheidungsfreiheit gegenüber den Lehren der Kirche habe der einzelne Mensch sehr wohl, aber Entscheidungen hätten eben auch Konsequenzen, und jede Entscheidung für etwas bedinge auch eine Entscheidung gegen etwas. Darin stimmte mir unsere Gesprächspartnerin sogar zu. Insgesamt muss ich hervorheben, dass die ganze Diskussion von beiden Seiten ausgesprochen respektvoll und aggressionsfrei geführt wurde - das ist ja nicht gerade selbstverständlich.  

Andere gehen da etwas grobschlächtiger zu Werke. - Geschickte Imitation des Corporate Design des Katholikentags, übrigens. 
Ein Gedanke, der mir im Nachhinein kam - und der vielleicht sehr offensichtlich ist, den ich hier aber dennoch festhalten möchte - lautet: Es ist in vielen Fällen verständlich, wenn Menschen Probleme mit bestimmten Aspekten der kirchlichen Lehre haben - ja, vielleicht gibt es überhaupt niemanden, der niemals irgendwelche Probleme damit hat -, aber daraus die Forderung abzuleiten, die Kirche müsse ihre Lehre ändern, liefe auf die Aussage hinaus: "Ich glaube nicht das, was die Kirche lehrt, will aber trotzdem meinen Platz in der Kirche - und deshalb soll die Kirche das lehren, was ich glaube." Und, sorry, das kommt mir nicht besonders erwachsen vor. 

Was mich abermals auf den Buntstift-Kinderschrift-Zettel im "Schreibcafé" bringt. Die Frage "Warum ist Abtreibung schlecht?" fand ich schon fast tragikomisch, denn die Antwort stand im Grunde nur wenige Zeilen weiter unten auf demselben Zettel: "Gott liebt alle Menschen!" Eben. Und somit auch die ungeborenen Kinder, die bei Abtreibungen getötet werden - und nicht nur getötet, sondern grausam zerstückelt. Sich zu einem Gott zu bekennen, der alle Menschen liebt, und gleichzeitig in Frage zu stellen, das Abtreibung schlecht sei, lässt für mein Empfinden schwerwiegende Bildungsmängel erkennen - denen man auf dem Katholikentag durchaus hätte abhelfen können: Auf einem zugegebenermaßen etwas versteckt gelegenen Abschnitt der "Kirchenmeile" hatten verschiedene Lebensschutzorganisationen ihre Infostände. Am Stand des Bundesverbands Lebensrecht (BVL) trafen wir bekannte Gesichter - bekannt nicht nur vom Marsch für das Leben, sondern auch von verschiedenen Informations- und Diskussionsveranstaltungen und der Peter-Singer-Demo im letzten Jahr. Direkt daneben hatte das Zentrum für natürliche Familienplanung seinen Stand, und gegenüber der Verein SOLWODI - Solidarität mit Frauen in Not, der sich u.a. für die Opfer von Zwangsprostitution einsetzt. Hingegen war der Verein Donum vitae, der in offenem Widerspruch zu einem expliziten Verbot des Hl. Johannes Paul II. Beratungsscheine für straffreie Abtreibungen ausstellt, in der Nachbarschaft von "Pfarrerinitiative", "Wir sind Kirche" und LGBT-Aktivisten anzutreffen. Bezeichnend. 

Auch an anderen Stellen gab es auf dem Katholikentag zu den Themen Liebe und Partnerschaft noch so allerlei zu entdecken. Eines der ersten heiteren Mitmachspiele auf der "Kirchenmeile", an dem wir uns beteiligten - denn meine Liebste wollte es so - war der "Paar-Check" am Stand der Akademie für Ehe und Familie. Warum nicht, wenn man sich dafür ein Ehevorbereitungsseminar in der vorpommerschen Pampa (oder wo das Erzbistum Berlin dergleichen sonst veranstaltet) sparen kann. Dieser "Paar-Check" bestand aus drei Spielen, die jeweils einem bestimmten Aspekt der Beziehung zugeordnet waren und für die man jeweils drei Minuten Zeit hatte. Zuerst sollte man - zum Thema "Kreativität und Spontaneität" - aus Knetmasse Figuren oder Symbole formen, die Zuneigung, Geborgenheit oder Vertrautheit ausdrücken. Zum Thema "Kommunikation und Wertschätzung" sollte man aufschreiben, was man an seinem Partner besonders mag und schätzt und was man glaubt, was der Andere an einem selber besonders schätzt und mag - und dann wurden die Ergebnisse verglichen. Besonders spannend war die dritte Aufgabe - zum Thema "Interaktion und Teamfähigkeit". Hier wurde einem Partner eine Sichtblende aufgesetzt, und er musste nur anhand mündlicher Beschreibungen des anderen Partners mit verschiedenfarbigen Bauklötzen bestimmte vorgegebene Figuren nachbauen. Hierbei wurden nach drei Minuten die Rollen getauscht. Eine spannende Erfahrung, und das sage ich ganz ohne Ironie. Wer wollte, konnte sich nach vollbrachtem Partnertest noch fotografieren lassen. Wir wollten - und die Mitarbeiter des Infostands fanden, unser Foto sei "eindeutig das herzigste Bild des Tages". Das hört man doch gern. 

Später besuchten wir noch die "Global-Spirit-Jurte" vor bzw. neben der Peterskirche (im "Themenbereich Jugend") - eigentlich nur aus Neugier, was es mit diesem Namen auf sich haben mochte. Ich stellte mir darunter mangels genauerer Informationen etwas irgendwie Schamanisch-Naturreligiöses vor, mit Trommeln, Didgeridoos, murmelndem Gesang und Knochen-Mobilés. Dass vor der Jurte ein stark rauchender Grill stand, schien diesen Verdacht zunächst zu bestätigen; aber wie schon Sigmund Freud (oder wer?) sagte: Manchmal ist ein Grill einfach nur ein Grill. 

Ist DAS die Global-Spirit-Jurte
Nein - DAS ist sie! 


Tatsächlich entpuppte sich die Global-Spirit-Jurte als ein gemeinsames Projekt von missio und der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg - zum Thema Liebe. "Hallo. Wollt ihr unseren Rundgang machen?", wurden wir begrüßt. "Hier, jeder bekommt ein Bändchen mit fünf weißen Perlen daran. Vier davon könnt ihr auf dem Rundgang tauschen, die fünfte bleibt, als Lebensperle." -- Waren wir also doch unter die Schamanen geraten? - I wo, alles ganz harmlos. Beim Rundgang durch die Global-Spirit-Jurte kam man an Texten zu verschiedenen Aspekten der Liebe vorbei - "Zärtlichkeit", "Lust", "Vertrauen", "Treue", "Geborgenheit", "Leidenschaft", "Verantwortung" -, und daneben hingen jeweils Schälchen mit bunten Plastikperlen, für jeden Aspekt eine andere Farbe. Sprach einen ein Aspekt besonders an, konnte man eine Perle in der entsprechenden Farbe gegen eine weiße tauschen - aber, wie gesagt, höchstens vier. Besonders interessant war, dass jedem der genannten Aspekte auch eine Kehrseite zugeordnet war - die Dunkle Seite der (Liebes-)Macht, gewissermaßen. "Zärtlichkeit" stand "Gewalt" gegenüber, die Kehrseite von "Lust" war "Missbrauch", von "Vertrauen" natürlich "Misstrauen", "Treue" wurde "Verrat" gegenübergestellt, "Geborgenheit" korrespondierte mit "Einsamkeit", "Leidenschaft" mit "Eifersucht" -- und "Verantwortung" mit AIDS. Aha. 

Was aber waren es für Texte, die in der Jurte zu diesen Schlagwörtern präsentiert wurden? Nun, zu jedem der genannten Aspekte von Liebe gab es ein Bibelzitat - meist aus dem Hohelied, aber auch aus Jeremia, Jesus Sirach und dem Buch der Sprüche, und auch der eingangs schon erwähnte Evangelienvers Johannes 13,34 fehlte nicht. Soweit, so schön. Die Qualität der anderen Texte war durchaus durchwachsen; da wurde - zum Thema "Zärtlichkeit vs. Gewalt" - auch schon mal ein Songtext der Ärzte ("Schrei nach Liebe") zitiert, na klar, man wollte ja Jugendliche ansprechen, und als Hauptamtlicher verfällt man natürlich leicht auf den Gedanken, was man in der eigenen Jugend vor rund einem Vierteljahrhundert toll fand, müsse auch für die heutige Jugend gut genug sein. (Same with NGL, aber ich will nicht vom Thema abkommen.) Zum Thema "Leidenschaft vs. Eifersucht" waren Ergebnisse einer Umfrage zum Thema "Ich bin eifersüchtig, wenn..." abgedruckt, die mit der Quellenangabe www.bauermedia.de versehen waren - was mich darauf schließen lässt, dass die Umfrage aus der BRAVO stammte. Angegeben waren die acht am häufigsten genannten Gründe für Eifersucht, aufgeschlüsselt nach Jungen und Mädchen - was man sich auch hätte sparen können, da die Ergebnisse sich nur marginal unterschieden. Auf Platz 1 bei Jungen wie bei Mädchen: "Wenn er/sie eine/n andere/n küsst". Verständlich. Auf Platz 2 jedoch: "Wenn er/sie mit einer/m anderen Sex hat". Ähm... man könnte denken, wenn es schon so weit ist, ist es für Eifersucht ein bisschen spät. -- Die Abteilung "Verantwortung vs. AIDS" zeichnet sich dadurch aus, dass Kondome darin mit keinem Wort erwähnt werden. Stattdessen heißt es: "Wenn man einander liebt, hat man Verantwortung füreinander. Das kann z.B. heißen, auf riskanten Sex zu verzichten, um sich und den Partner vor einer HIV-Infektion zu schützen." Man spürt ein bisschen das Unbehagen der Autoren, es ihren jugendlichen Lesern zuzumuten, von Verzicht zu sprechen; aber von AIDS-Präventions-Kampagnen, die im wesentlichen nur aus der Aussage bestehen "Macht doch was ihr wollt, Hauptsache ihr benutzt Kondome dabei" hebt sich das doch wohltuend ab. 

Und am Ausgang prangte dieses Gedicht von Erich Fried. Ich mag es. 
Insgesamt war mein Eindruck von der "Global-Spirit-Jurte" zwiespältig - zum Teil wegen der Texte, zum Teil wegen des irgendwie ja doch etwas esoterisch-synkretistisch anmutenden Brimboriums ("Erfahrungen und Anregungen aus anderen Kulturen und Religionen können helfen, neu auf das eigene Leben und eigene Erfahrungen zu schauen..."); aber zwiespältig heißt eben auch nicht nur schlecht. -- Das kann man, wenn man so will, auch auf das gesamte Programmangebot des Katholikentags übertragen: Manches Ärgerliche, viel Überflüssiges, aber Gutes war eben auch dabei. Dafür sollte man dankbar sein. Wer weiß, bei wie vielen Katholikentagsbesucher diese Samenkörner des Guten, auf die sie ganz unversehens gestoßen sein mögen, auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Man würde sich natürlich wünschen, es gäbe mehr davon; aber deswegen sollte man nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und den Katholikentag in Bausch und Bogen verdammen. Damit verändert, ja verbessert man ihn nämlich nicht - im Gegenteil. Dass der Katholikentag eine Veränderung und Verbesserung braucht, ist infolge der mageren Teilnehmerzahlen dieses Jahres unübersehbar geworden - und darin liegt eine große Chance, wenn man sie nicht den falschen Leuten überlässt. Der alte Chesterton würde wahrscheinlich sagen: Man muss den Katholikentag lieben, um ihn verändern zu können.



Montag, 30. Mai 2016

"Wenn Menschen sich verschätzen..." - Bloggupy Leipzig, Teil 2

Ich bin zurück vom Katholikentag -- und bin um zahlreiche spannende Eindrücke (und einen Sonnenbrand) reicher! Zu berichten gibt es so viel, dass es gar nicht alles in einen Artikel passt; es werden also noch ein paar weitere folgen, nicht chronologisch, sondern thematisch sortiert. Hier erst mal ein allgemeiner Rundumschlag zu den gut 14 Stunden, die ich in Leipzig verbracht habe. 

Schöne Variation zum Plakatdesign des Katholikentags - gesehen im "Schreibcafé" der Propsteikirche 

Bereits in dem direkt nach meiner Ankunft geposteten Artikel hatte ich gescherzt, ich hätte die Hymne des diesjährigen Katholikentags im Bus gehört, und sie sei von Christina Stürmer. Darauf muss ich noch einmal zurückkommen, denn wenn man das Lied nicht kennt, versteht man den Witz nicht. Ich kannte es vor dieser Busfahrt auch nicht, aber bei dem Refrain 

Und wir gehen den Weg, von hier
Seite an Seite ein Leben lang, für immer 
Denn wir gehen den Weg, von hier
weiter und weiter ein Leben lang, für immer 

und nicht zuletzt bei Textstellen wie

Es ist nicht immer einfach zu verzeihen
doch das Größte was wir können ist Mensch zu sein 

fand ich schon, dass das irgendwie zum Katholikentag und dessen Motto passe. Und in Melodie und Arrangement hat der Song ebenfalls etwas entschieden Sacropoppiges, ich sag mal: post-NGL. Jedenfalls, wie ich fand, eine stimmige musikalische Untermalung des Reiseantritts. Der Heilige Geist geleitet uns mit Liebe und Humor, dachte ich schmunzelnd. - Später musste ich feststellen, dass der diesjährige Katholikentag anscheinend gar keine eigene Hymne hatte; dafür hörte man aber allerorten, in unterschiedlichsten Arrangements und unterschiedlichster Qualität, das mindestens seit 2010 auf allen Kirchen- und Katholikentagen rauf- und runtergedudelte "Da berühren sich Himmel und Erde". Schlimm. Die Nummer hat nicht nur das für NGL-Evergreens typische Ohrwurmpotential, sondern auch die ebenso typische Eigenschaft, dass der Text aller Strophen so schematisch aufgebaut ist, dass man mit leichter Mühe drei bis fünf weitere Strophen hinzudichten könnte. "Wenn Menschen sich vergessen", "Wenn Menschen sich verschenken", "Wenn Menschen sich verbünden"... Einmal dachte ich, die Worte "Wenn Menschen sich verschätzen" drängen an mein Ohr; wahrscheinlich habe ich mich nur verhört, aber eigentlich hätte diese Textvariante gut zum Katholikentag gepasst. 

Das betraf nicht zuletzt meine Liebste und mich, denn wir hatten uns bei unserer Programmplanung für diesen Katholikentags-Samstag total verschätzt. Es ging damit los, dass das "Museum in der runden Ecke" - im ehemaligen Gebäude der  Leipziger Bezirksverwaltung der Stasi -, wo wir eine Ausstellung über staatliche Überwachung und Drangsalierung der Katholischen Kirche in der DDR besuchen wollten, erst zwei Stunden später öffnete als wir es dem Katholikentagsprogramm entnommen hatten. Wir sahen uns die Ausstellung zwar trotzdem an, und sie war auch sehr interessant - vielleicht mal ein Thema für einen eigenständigen Artikel, aber das Thema eilt ja nicht -, aber danach war unser Zeitplan natürlich gründlich im Eimer. Das Ergebnis war, dass wir zu keinem Vortrag, keiner Podiumsdiskussion, keinem Orgelkonzert, keinem Workshop und keinem "Bibliodrama" gingen; stattdessen wanderten wir rund drei Stunden lang über die "Kirchenmeile", unterbrochen von einem Abstecher zur Propsteikirche (ich hatte überhaupt nicht auf dem Schirm gehabt, dass das die Kirche war, deren Einweihung im Mai letzten Jahres in meinem katholischen Social-Media-Umfeld allerlei Debatten über moderne Kirchenarchitektur angeheizt hatte), schauten beim "Themenbereich Jugend" und auf der "Medienmeile" vorbei und fanden uns schließlich zum "Nightfever" in der Nikolaikirche ein. Das von mir so getaufte "Zentrum Esoterik" und den "Themenbereich Familie und Generationen", wo wir eigentlich auch noch hingewollt hatten, sahen wir nicht mal von Weitem. 

Auf der Kirchenmeile: XXL-Rosenkränze? Die interreligiöse Variante, ohne Kreuz und dafür in Regenbogenfarben? 
Trotzdem war ich gar nicht unzufrieden mit unserem zusammengeschrumpften Programm. Am schönsten war, dass wir auf der Kirchenmeile unseren Twitter-Freund @Violissimo trafen, der sich "live" als ein genauso liebenswerter Zeitgenosse erwies, wie ich ihn mir anhand unserer Kontakte in der virtuellen Welt vorgestellt hatte.

Auf der Kirchenmeile, auf der sich Bistümer, Ordensgemeinschaften, Verbände, Hilfswerke usw. vorstellten, gab es viel zu sehen, mitzunehmen (Flyer, Sticker, Glückskekse, Gummibärchen...) und auch mitzumachen; so z.B. eine Umfrage der Uni Leipzig über Erwartungen an den Katholikentag und inwieweit diese erfüllt worden seien. An der Umfrage nahmen wir teil, obwohl wir ja praktisch gerade erst angekommen waren (und daher bei manch einer Frage die Option "Kann ich noch nicht sagen" ankreuzen mussten). Ich amüsierte mich bei dem Gedanken, dass meine Antworten bei der Auswertung wohl für einige Verwirrung sorgen würden; etwa, dass ich bei der Bewertung von Aussagen über die Kirche - Übereinstimmung mit der kirchlichen Lehre, Stellenwert der Kirche fürs eigene Leben usw. - durchweg positive Antworten gab, bei der letzten dieser Aussagen - "Ich finde, dass die Kirche gut in die heutige Gesellschaft passt" - hingegen mit Begeisterung NEIN ankreuzte. Da sollen die Demoskopen mal sehen, was sie daraus machen. Meine Liebste stellte derweil fest, dass die Umfrage - was für die Uni Leipzig eigentlich erstaunlich ist - nicht gendersensibel war.



Transgender-Toiletten gab es auf dem Katholikentag übrigens auch nicht. Also, ich habe jedenfalls keine gesehen. Anders als letztes Jahr beim Evangelischen Kirchentag in Stuttgart.

Am Stand des Bistums Münster - immerhin Gastgeber des nächsten Katholikentags in zwei Jahren - hoffte ich eigentlich darauf, einige VertreterInnen der Facebook-Redaktion anzutreffen, um mich ihnen mal persönlich vorzustellen ("Hi, ich bin euer schärfster Kritiker. Machen wir ein Selfie?"), hatte aber kein Glück. Insgesamt waren die Stände der Bistümer, wie meine Liebste bereits geschildert hat, eher wenig bemerkenswert. Überall gab's professionell designte Giveaways mit poppigen, aber wenig substanzhaltigen Slogans, überall gab's lustige Mitmachspiele, aber kaum religiöse oder gar spezifisch katholische Inhalte. Da war das "Astronautenspiel" des Bistums Essen relativ gesehen noch ein Highlight.

Links im weißen Hemd: Generalvikar Klaus Pfeffer, dessen Zukunftsvisionen ich hier auch schon mal am Wickel hatte. Ich gehe nicht davon aus, dass er den Artikel gelesen hat, sonst hätte ich ihn drauf angesprochen. 
 Aus einer Vielzahl von Begriffen auf bunten Magnettäfelchen sollte man sieben auswählen, die für die Kirche der Zukunft wichtig seien. Wir sahen eine Weile zu, und die Ergebnisse waren ungefähr so, wie man sich das vorstellen konnte. 


Daraufhin musste meine Liebste dann auch mal mitmachen - und ein wenig die Prioritäten zurechtrücken. 


Nach rund zwei Stunden stellte sich der Wunsch ein, etwas zu essen, und mit Hilfe von Freund @Violissimo fanden wir einen ziemlich abgelegenen Stand, der "Vogtländische Gastlichkeit" versprach und an dem wir Kartoffelpuffer mit Knoblauchsoße erwarben, die wir in einer angrenzenden Grünfläche unter einem Baum verspeisten. Die Reibekuchen waren lecker, dennoch stellte sich danach die Frage: "Und was essen wir jetzt?" Also steuerten wir die inmitten der Stände der Ordensgemeinschaften gelegene Fressmeile an, besorgten uns einen Flammkuchen und einen Wrap mit Auerochsen-Schmorfleisch und teilten uns beides. (Der Verkäufer an der Flammkuchenbude war lustig. "So, wer ist der Nächste? - Ach, der KingBear." Kannte er mich? Wohl kaum; aber er hatte den Schriftzug auf meinem T-Shirt gelesen. "Ich hätte gern einen mit Schinkenspeck..." - "Na, dass du keinen veganen willst, das war mir klar!") 

In unmittelbarer Nähe der Fressbuden spielte und sang eine junge Frau Gospelsongs oder zumindest gospelig klingende Songs, aber als wir einen Platz gefunden hatten, war ihr Auftritt schon fast vorbei; als Zugabe trug sie "Ain't No Mountain High Enough" vor, was dank der biblisch anmutenden Diktion des Texts ja beinahe noch als Gospel durchgeht. In ihrer Interpretation klang der Soul-Klassiker jedoch so Singer-Songwriter-mäßig, dass ich zwischendurch erwog, ob der vielfach gecoverte Song vielleicht von Carole King geschrieben wurde. Musste ich zu Hause erst mal nachprüfen: Nein, er ist von Ashford & Simpson. Schon wieder verschätzt. 

Wenig später trug auf derselben Bühne eine Gruppe von Ordensfrauen die Gründungsgeschichte ihres Klosters als "Bänkelsang" vor. Wir ergriffen die Flucht. 

Mein Respekt vor Ordensfrauen verbietet es mir, näher auf diesen Beitrag einzugehen. 

Zentrum für geistliche Entenberufe
Später und woanders: gefallene Enten
Nachdem wir mit der "Kirchenmeile" so ziemlich "durch" waren, waren wir etwas unschlüssig, wohin wir uns als nächstes wenden sollten, und beim Herumirren kamen wir am "Begegnungscafé" der Propsteikirche vorbei. "Komm", sagte meine Liebste, "lass uns dem Kaffee begegnen". Das taten wir auch, und danach stießen wir auf einer kleinen Grünfläche auf den "Off-Church-Tabernakel": Ein Tipi, in dem als einziger Einrichtungsgegenstand ein Blechkasten stand. Um den Blechkasten herum lagen einige Teenager und "chillten". Auf die Frage, was denn hier das Konzept sei, erklärten sie, das wüssten sie auch nicht. Ein Mädchen hatte zumindest eine vage Ahnung: Man könne hier Karten zum Thema "Was ist mir heilig?" ausfüllen und dann durch einen Schlitz in den Blechkasten werfen. Na toll. Und das nennt man dann "Tabernakel". Ein treffliches Symbol für moderne Spiritualität Marke Eigenbau

Themenbereich Jugend: Latein für Messdiener
Wir unternahmen einen kurzen Abstecher zum "Themenbereich Jugend", und dann verabredeten wir uns auf elektronischem Wege mit einem weiteren Social-Media-Bekannten, dem @PopePunk, am Stand von EWTN auf der "Medienmeile". da musste natürlich ein Foto geschossen werden. 

"Stehen Sie hinter EWTN?" - "Nein, davor!" 
Außerdem kamen wir an den Ständen von Radio Horeb und der Tagespost vorbei; eine Dame vom Osservatore Romano lobte mein T-Shirt. Und ein Muss auf der Medienmeile war natürlich ein Selfie mit dem Papst - wobei, ein Selfie wurde es dann doch nicht, da ein freundlicher Mitarbeiter von Radio Vatikan es übernahm, das Foto zu schießen. 


Und dann war es auch schon bald Zeit, dass wir uns auf den Weg zum letzten und wichtigsten Punkt unseres persönlichen Katholikentagsprogramms machten: dem Nightfever in der Nikolaikirche. Aber dazu folgt demnächst ein eigener Artikel.

Um nochmals auf den Titel des Artikels zurückzukommen, sei noch angemerkt, dass sich offenbar auch die Veranstalter des Katholikentags gründlich verschätzt haben: Die Teilnehmerzahlen blieben insgesamt weit hinter den Erwartungen zurück, mit laut unterschiedlichen Angaben zwischen 30.000 und 40.000 Dauergästen war der Event nur unwesentlich größer als das Wave-Gothic-Treffen an Pfingsten am selben Ort. Besonders Veranstaltungen mit prominenten Politikern, hieß es, seien schwach besucht gewesen. Man wagt kaum zu hoffen, dass das die Veranstalter in Zukunft dazu veranlassen könnte, ihre Prioritäten zu überdenken. Ich kann schon gar nicht mehr zählen, wie viele meiner katholischen Social-Media-Bekannten genau deshalb nicht zum Katholikentag gefahren sind, weil sie keine Lust auf einen "schwarz-rot-grünen Einheitsparteitag" hatten. Die Anbiederei der Katholikentags-Veranstalter bei Politikern vor allem aus dem mehr oder weniger ausgeprägt linken Spektrum ist ja auch nicht zuletzt deshalb etwas peinlich, weil diese der Kirche als solcher dadurch ja doch nicht wohlgesonnener werden. Das zeigen nicht zuletzt die alle Jahre wiederkehrenden politischen Auseinandersetzungen um die Bezuschussung von Kirchen- und Katholikentagen aus öffentlichen Mitteln. Und dann war da noch die Anti-TTIP-Demo, die um die Mittagszeit an der Kirchenmeile vorbeikam. Es gab eine Durchsage an die Demonstranten, sie sollten beim Passieren des Katholikentagsgeländes bitte etwas leiser sein; die Teilnehmer antworteten mit einem Pfeifkonzert. Ein ebenso krasses wie bezeichnendes Missverständnis, denn viele der auf der Kirchenmeile vertretenen Organisationen wären eigentlich natürliche Verbündete der Anti-TTIP-Demonstranten. Tja.

Dass mein persönlicher Eindruck vom Katholikentag insgesamt weit positiver war als erwartet, hat letztlich wohl zu einem großen Teil damit zu tun, dass ich für viele Programmangebote, über die ich mich nur geärgert hätte, gar keine Zeit hatte. So hatte das Verschätzen also auch sein Gutes. Aber allgemein gesprochen sollte man sich wohl, nicht nur angesichts der mageren Besucherzahlen, mal die Frage stellen, welchen Sinn ein Katholikentag hat, wenn es da zwar jede Menge Veranstaltungen zu politischen, sozialen und ökologischen Themen, allerlei esoterischen Klimbim und dazu jede Menge Fun, Action und Giveaways gibt, aber kaum explizit katholische Inhalte. Da ist gerade auch die schon erwähnte Präsentation der Bistümer zu nennen, die insgeheim unter dem Motto zu stehen schien "Wir sind ja gar nicht so". Schön und gut, aber: WIE seid ihr denn DANN? Ist es nicht das, was die Leute wissen wollen und ein Recht haben zu erfahren? Und hat das Motto des Katholikentags, und die Plakatkampagne zu diesem Motto, nicht irgendwie etwas damit zu tun, Gesicht zu zeigen?

(Weitere Berichte folgen...)


Samstag, 28. Mai 2016

Einen neuen Aufbruch wagen - Bloggupy Leipzig, Teil 1

Ob man's glaubt oder nicht, ich bin seit 4 Uhr wach und bin jetzt auf dem 100. Deutschen Katholikentag in Leipzig. Und meine Liebste ist auch dabei!

Die neue Kopfbedeckungs-Mode für den Katholikentag ? -- Nee, keine Zeit zum Haareföhnen gehabt!

Mit ausführlichen Berichten werde ich wohl erst nach meiner Rückkehr dienen können; aber ein paar Impressionen möchte ich doch schon mal loswerden. Zunächst, naturgemäß, vor allem von der Anreise. In aller Herrgottsfrühe (sic!) ging's los... 


Auf dem Weg zum Busbahnhof der erste schwere Rückschlag: 5 Uhr morgens und kein Kaffee!

Am Busbahnhof selbst gab's dann aber DOCH Frühstück... Tag (vorerst) gerettet! 

Ich sehe ein bisschen aus wie der Löwe im "Zauberer von Oz". We're off to see the Wizard! 


Im Bus lief übrigens die neue Katholikentags-Hymne... Das IST doch die neue Katholikentagshymne, oder?!?




Und auch das Invitatorium aus der Stundenbuch-App hatte Erbauliches zum Tage zu bieten:



Pünktlich um 8 Uhr erreichten wir Leipzig...

Bahnhof, Kathedrale oder beides? 


Suchbild: Seht, wo ist der Mensch? 

Seht, DA ist der Mensch! 



Akkreditierung: leider nur mit Presseausweis... :(

...also normale Tageskarten kaufen. 

Und hinein ins Getümmel! 


Dringend zu beherzigen gilt es dabei einen wohlmeinenden Rat des geschätzten Bloggerkollegen Andreas von "Pro Spe Salutis" zu beherzigen gilt:

"Hütet euch vor herumkreisenden Liedern, blühendem Brot und eingeschmolzenen Stunden!" 

Weitere Berichte folgen, wie gesagt, später; Live-Updates gibt es im Laufe des Tages auf Twitter unter dem Hashtag #BloggupyLeipzig! Bis später, Companeros!



Dienstag, 24. Mai 2016

Blog-Vorschau: Huhn meets Ei und Wellenwindwandern zusammen auf dem Katholikentag!

In Kürze beginnt in Leipzig, im derzeit noch vakanten Bistum Dresden-Meißen, der 100. Deutsche Katholikentag. Katholikentage gibt es in Deutschland seit dem Revolutionsjahr 1848, und ursprünglich waren sie mal darauf ausgerichtet, die Interessen der Katholiken in den der Kirche oft nicht besonders wohlgesonnenen deutschen Staaten zu bündeln und ihnen eine Stimme zu geben. Ungefähr seit 1968 haben sich die Katholikentage - seit 1970 organisiert von "Zentralkomitee der deutschen Katholiken" ("ZdK") - allerdings eher zu einem Tummelplatz der Opposition gegen die sogenannte "Amtskirche" entwickelt, zum Versuchslabor für eine "Kirche der Zukunft", die mit katholischer Lehre und Tradition möglichst wenig gemein haben soll - eine klimagerechte, fair gehandelte, gendersensible und "spirituell" nach (fast) allen Seiten offene Do-It-Yourself-Kirche.  

Nachdem ich im letzten Jahr schon auf dem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart war und eifrig darüber gebloggt habe, lag es für mich eigentlich auf der Hand, heuer einen Trip zum Katholikentag zu planen - umso mehr, als Leipzig von Berlin aus schnell, einfach und billig zu erreichen ist. Ich glaube Grund zu der Annahme zu haben, dass der Katholikentag noch um Einiges interessanter werden wird als der Evangelische Kirchentag a.k.a. Martin Luther Grave Rotation Event - gleichzeitig aber auch schmerzhafter, da es diesmal die eigene Konfession ist, die sich öffentlich zum Vollhorst macht. (Wobei: Auch letztes Jahr in Stuttgart war - im Zeichen der Ökumene - die Katholische Kirche kräftig mit dabei, und wie man sich erinnern wird, empfand ich deren Beiträge zum Kirchentag tendenziell als die ärgerlichsten.) 

Kurz und gut: Natürlich fahre ich zum Katholikentag - unter dem Motto "An die Ränder gehen, und seien es nur die Ränder der eigenen nervlichen Belastbarkeit". Und was das Schönste ist: Meine Liebste kommt mit! Was natürlich die Hoffnung nährt, dass es spannende Berichte über diesen irren Trip nicht nur auf meinem, sondern auch auf ihrem Blog "Wandern im Wellenwind" zu lesen geben wird. -- Da wir allerdings beide zur Zeit keinen Urlaub haben, begnügen wir uns mit einem Tagesausflug - am Samstag. Früh am Morgen geht's los und in der Nacht zurück. Wahrscheinlich reicht's uns dann auch. Mit gründlicher Planung sollte es möglich sein, innerhalb dieser Zeitspanne mehr vom Katholikentag zu sehen und mitzubekommen als letztes Jahr innerhalb von zwei Tagen (na gut: eineinhalb) beim Evangelischen Kirchentag. 

Allein für den Samstag weist das offizielle Katholikentagsprogramm ganze 648 Veranstaltungen aus. Da fällt die Auswahl vielfach schwer. Zu bestimmten Zeiten - etwa von 11:00-12:30, von 14:00-15:30 und von 16:30-18:00 Uhr - finden jeweils an die 100 Veranstaltungen gleichzeitig statt - Podumsdiskussionen, Workshops, Impulsvorträge usw. zu heißen Themen wie "Frauen.Macht.Kirche", "Klimagerechtigkeit", "Gender in the City", "Ist Homosexualität unbiblisch?", "Muss Theologie fromm sein?", "Müssen wir uns vom Alten Testament verabschieden?" oder "Was glaubst du eigentlich, was du glaubst?". Und für diejenigen Katholikentagsbesucher, die es vorziehen, Diskussionsveranstaltungen konsequent zu meiden - was vermutlich eine ziemlich gute Idee ist -, gibt es just in diesen Zeiträumen auch musikalische, meditative und/oder im weitesten Sinne "spirituelle" Alternativangebote: Gottesdienste, Beichtgelegenheiten, Orgelkonzerte, Einführung in christliche Meditation oder "Innehalten im Clara-Park". Meine Liebste hat mich schon ermahnt, wir sollten nicht nur zu Veranstaltungen gehen, über die sich voraussichtlich deshalb gut bloggen lässt, weil sie so schlimm sind, sondern auch zu solchen, die möglicherweise tatsächlich gut sind. Es wird eine interessante Aufgabe, da eine gute Mischung hinzukriegen. 

Immerhin habe ich aus meinem letztjährigen Besuch beim Kirchentag einige Lehren gezogen, die uns am Samstag hoffentlich von Nutzen sein werden. Die wichtigste Lehre: den Zeitplan nicht zu voll packen! Es kann ganz schön anstrengend werden auf so einer Großveranstaltung, in einer mit Menschen vollgestopften Stadt mit konsequenterweise ebenso vollgestopften öffentlichen Verkehrsmitteln. Und womöglich wird es sehr heiß. Da braucht man Pausen. Irgendwann zwischendurch muss man auch mal was essen - das vergisst man leicht bei der Erstellung eines Veranstaltungsplans. Außerdem sollte man den Tagesablauf nicht so akribisch durchplanen, dass kein raum für Spontaneität und Überraschungen mehr bliebe. Und schließlich wird man - insbesondere da meine Liebste immer noch zuweilen Fußprobleme hat - gut daran tun, den Tag so zu gestalten, dass man nicht mehr als nötig von A nach B und zurück eiern muss. 

Die Veranstalter werben zwar damit, es werde ein "Katholikentag der kurzen Wege" sein, und auf der Karte sieht es auch danach aus; dennoch dürfte es sich als sinnvoll erweisen, unser individuelles Katholikentagsprogramm von vornherein auf einige wenige Veranstaltungsorte zu konzentrieren. Ein Muss ist natürlich die "Kirchenmeile" rund um den Wilhelm-Leuschner-Platz, zwei S-Bahn-Stationen vom Hauptbahnhof entfernt - mit den Infoständen der Bistümer, Ordensgemeinschaften, geistlichen Gemeinschaften, Hilfswerke und Verbände. Als ein weiterer örtlicher Schwerpunkt scheint sich die (evangelische!) Peterskirche sowie, nur zwei Hausnummern weiter, das "Eva Schulze" anzubieten, wobei "Eva Schulze" die Abkürzung für "Evangelisches Schulzentrum" ist. In der Peterskirche bzw. auf deren Gelände befindet sich eine "Jugendkirchen-Lounge", die "Global-Spirit-Jurte" und ein Stand, an dem man Buttons designen kann; es gibt dort ein "Ökumenisches Mittagsgebet mit Gesängen aus Taizé", Rosenkranzgebet, Beichtgelegenheit und mehrere Themengottesdienste. Im "Eva Schulze" befinden sich der "Infopunkt Themenbereich Jugend", ein "Raum der Stille", ein "Weltcafé", es gibt "Mugge" und "Coggdails", eine Ausstellung zur Geschichte der Katholischen Jugend in Leipzig und jede Menge Veranstaltungen zu Sex, Drogen, Pubertät und allem, was noch so damit zusammenhängt. Nicht allzu weit davon entfernt, in der Anton-Philipp-Reclam-Schule, befindet sich das Zentrum Esoterik - okay, so habe ich es getauft, die Veranstalter bevorzugen die Bezeichnung "Biblisch-Geistlicher Themenbereich". Dort gibt es ebenfalls einen "Raum der Stille" und außerdem "Einzelberatung in Glaubens- und Lebensfragen und Möglichkeit zum Beichtgespräch", daneben aber auch Veranstaltungen wie "Klangschalenreise durch die Psalmen", "Mystik in Yoga und Christentum", "Tanzexerzitien" und "Qigong - Einführung und leichte Übungen" sowie ein "Bibliodrama" zur "Heilung der blutflüssigen Frau". Interessantes hat auch der Themenbereich Familie und Generationen in der Gutenbergschule zu bieten - etwa eine Ausstellung zum Hohelied Salomos und Veranstaltungen zu Themen wie "Werteorientierte Sexualpädagogik", "Sex im Web 2.0" und "Wie Ehe und Familie gelingen können". Prinzipiell würde mich ja auch ein Besuch im Zentrum Regenbogen in der Friedenskirche interessieren, aber das liegt ein bisschen weit ab vom Schuss. Schauen wir mal. 

Ein Programmpunkt steht jedenfalls schon fest, nämlich der Abschluss unseres Tagesausflugs nach Leipzig: das Nightfever in der Nikolaikirche, in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs, von wo es am späten Abend wieder zurück nach Berlin geht. Das Nightfever wird sicherlich ein Highlight - und ein dringend notwendiges. Begriffe wie "Eucharistische Anbetung", oder auch nur "Anbetung", sucht man in der Stichwortsuche des Katholikentagsprogramms ansonsten nämlich vergeblich... 



Montag, 23. Mai 2016

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 5

Schockschwerenot: Schon vier Blogartikel, diesen hier noch nicht mitgerechnet, habe ich meiner Analyse des Fortsetzungsromans Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau gewidmet, und noch immer sind weder Barbara Ubryk noch der Krakauer Karmel in der Handlung des Romans in Erscheinung getreten! Um die Gefahr zu vermeiden, sich genauso im Stoff zu verheddern, wie es augenscheinlich der Autor tut, scheint es ratsam, in der sechsten von 20 angekündigten Lieferungen des Romans einmal innezuhalten und eine erste Zwischenbilanz zu ziehen. Fragen wir uns: Wie steht es um den Plan des Autors? Deutet die jüngst vollzogene Zusammenführung der Handlungsstränge darauf hin, dass der Autor inzwischen weiß, wo er mit seiner Geschichte hin will, und einen Plan hat, wie er dorthin gelangt? 

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Ausgangssituation: Ende Juli 1869 ging der Fall Barbara Ubryk durch die Medien, und die Kolportageverlage sahen sich mit der Aufgabe konfrontiert, schnellstmöglich einen Sensationsroman zu diesem Thema auf den Markt zu bringen. Zu dem Zeitpunkt, als die zeitgenössischen Leser das sechste Heft des Romans aufschlagen, ist das gerade mal drei Monate her, vielleicht etwas mehr, vielleicht sogar weniger. Wägen wir behutsam ab, wie viel Wahrheit wohl in den Werbebehauptungen des Verleger-Vorworts stecken mag, in dem es hieß, der Roman liege schon bei Beginn der Veröffentlichung abgeschlossen vor, dann ist es wohl am wahrscheinlichsten, dass man im Hause Neuburger & Kolb zunächst auf ein bereits vorliegendes und zumindest ansatzweise (Schauplatz Polen, antiklerikale Tendenz) zum Thema passendes Manuskript des Dr. Rode zurückgriff und den Autor beauftragte, im weiteren Verlauf der Handlung einen Bezug zum Fall Ubryk herzustellen. Aber: Ist es schon soweit? Sind wir in Lieferung 6 an dem Punkt angekommen, von dem aus der Autor planvoll und gezielt auf die Geschichte der "unglücklichen Nonne von Krakau" (so übrigens der Titel eines anderen, 1870/71 erschienenen Ubryk-Romans von Georg Füllborn, 1837-1902) zuschreibt, anstatt, wie bisher, nur hier und da mal eine Anspielung auf diese Affäre einzustreuen, um den Leser bei der Stange zu halten? Möglich wär's - einigermaßen Zeit hat er inzwischen ja gehabt, zudem bot sich der vorläufige Abschluss der auf Schloss Bielow spielenden Handlung ja dazu an, den weiteren Handlungsverlauf grundsätzlich neu zu überdenken. Auch die Verwandlung des (t)rotzigen Straßenbengels Kasimir Ubryk in einen schmucken Kavalier mit einem "allerliebsten Schnurrbärtchen" (S. 238) kommt ja recht unerwartet und sieht somit nach einer neuen Idee aus; und wenn die Kapitelüberschrift "Rebinsky's Hinrichtung" tatsächlich so zu verstehen ist, wie es den Anschein hat, dann passt der Umstand, dass der Autor es offenbar eilig hat, seinen bisherigen Protagonisten final loszuwerden, ebenfalls ins Bild einer umfassenden Neukonzeption. Andererseits ist der Autor aber immer noch sehr weit entfernt von seinem angestrebten Sujet - schon allein von der Handlungszeit her.

Für sehr wahrscheinlich halte ich es jedenfalls, dass die Rebinsky-Handlung bis zum Verlassen des Schlosses Bielow, eventuell sogar bis zu Elkas Verbringung ins Kloster (dazu in Kürze mehr), bereits zu einem Zeitpunkt fertig vorlag, als Dr. Rode und der Rest der Welt vom Fall Barbara Ubryk noch nichts wussten - und dass die Jaromir-Handlung nachträglich hineinmontiert wurde. Gleichzeitig erscheint mir die Annahme plausibel, dass zumindest diejenigen Teile der Jaromir-Handlung, die sich um die Kindsvertauschung drehen - also Kapitel IX und ein Großteil von Kapitel XV, dazu evtl. auch kleinere Teile von Kapitel XIV - ebenfalls zunächst unabhängig vom Barbara-Ubryk-Stoff entstanden sind und der Name Ubryk nachträglich eingefügt wurde. -- Für die Arbeitsweise von Kolportageromanautoren dürfte es nicht untypisch gewesen sein, an mehreren Fortsetzungsgeschichten gleichzeitig zu arbeiten; Karl May ist da ein illustratives Beispiel: In der Erstveröffentlichung seines Fortsetzungsromans Die Liebe des Ulanen (1883-85) findet sich im X. Kapitel, betitelt Ulane und Zouave, ein Fragment, das inhaltlich weder zur Kapitelüberschrift passt noch in den Kontext dieses Romas gehört und das der Autor somit wohl eigentlich für einen anderen zweck geschrieben hatte. Und auch zwischen dem Kapitel Der schwarze Capitain von Mays erstem (und enorm erfolgreichen) Kolportageroman Waldröschen (1882-84) und seiner wohl ungefähr gleichzeitig entstandenen Erzählung Robert Surcouf gibt es auffällige Parallelen, die ebenfalls darauf schließen lassen, dass dem Autor seine Manuskripte durcheinander geraten sein könnten.

Nehmen wir also an, Dr. Rode hatte den Anfang einer Kindsvertauschungsgeschichte in der Schublade, von der ihm vielleicht selbst noch nicht ganz klar war, wie sie weitergehen sollte, und fügte sie kurzerhand in die 2. Lieferung seines Ubryk-Romans ein. Das verschaffte ihm gleich mehrere Vorteile: Er gewann Zeit; die Unterbrechung der Haupthandlung erzeugte Spannung und sorgte für Abwechslung; und indem er Jaromir kurzerhand den Nachnamen Ubryk verpasste, konnte er dem Leser die Illusion eines Zusammenhangs mit dem Fall Barbara Ubryk vermitteln, der in der bisherigen Haupthandlung so auffallend fehlte.

Da die Kindsvertauschungsgeschichte als solche aber keine sinnvolle Verknüpfung mit dem realen Fall Ubryk ermöglichte - selbst die sonst allgegenwärtige antiklerikale Tendenz ist in diesem Teil der Handlung auffallend abwesend -, könnte der Autor diesen Handlungsstrang auf die Schnelle um die Mitgliedschaft Jaromirs in einem politischen Geheimbund erweitert haben; für diese Annahme spricht es auch, dass gerade diese Passagen des Romans - also den Großteil von Kapitel XIV und das ganze Kapitel XVI - besonders schlampig und unbeholfen geschrieben wirken. Aber immerhin treten in diesem Handungsstrang intrigante Geistliche, insbesondere Jesuiten, auf, was eine assoziative Annäherung an die Rebinsky-Handlung bewirkt; außerdem eröffnet er dem Autor eine Möglichkeit, den als tumben Säufer eingeführten Jaromir später als Chef der geheimen Polizei von Warschau "wiederzuverwenden".

Nun zu den Gründen für meine oben angedeutete  Annahme, dass Elkas Verbringung ins Kloster noch mit zur "ersten Schicht" der Entstehungsgeschichte des Romans gehört. Hierzu gilt es das Einleitungskapitel "Die beiden Mauscripte" ins Auge zu fassen. Wie der aufmerksame Leser sich erinnern wird, spielt das Kapitel rund drei Jahre vor der Befreiung Barbara Ubryks aus dem Kloster, und die Manuskripte, die der Erzähler in Paris und London erwirbt und die angeblich die Quellen für die Romanhandlung sein sollen, haben offenbar schon einige Jahre auf dem Buckel. Es spricht kaum etwas dafür, dass der Autor beim Schreiben dieses Kapitels bereits den Fall Ubryk vor Augen gehabt haben sollte; die Erwähnung des "Karmeliterordens" auf S. 14 könnte ein späterer Zusatz sein. Zu beachten ist auch, dass in der Rebinsky-Handlung - und nur in dieser - mehrfach auf die Manuskriptfiktion aus dem I. Kapitel Bezug genommen wird. Hauptthema der fiktiven Manuskripte soll aber "die (geheime) Geschichte eines Klosters" sein (S. 13); diese Ankündigung ist in den bisherigen Kapiteln noch nicht eingelöst worden.

Es liegt ja einigermaßen auf der Hand, dass ein Roman, der den Titel "Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau" trägt, dem Leser allerlei Klostergräuel bieten muss; und der Verleger würde in der Vorrede wohl kaum behauptet haben "Das ganze Werk liegt bereits fertig vor uns" (S. 3), wenn in dem ihm vorliegenden Romanmanuskript nichts derartiges enthalten gewesen wäre. ja, vermutlich wäre er dann nicht einmal auf die Idee gekommen, das Werk zu einem Roman über Barbara Ubryk umfrisieren zu lassen. Wir dürfen uns also im weiteren Verlauf des Romangeschehens wohl auf einige sensationell-schaurige Einblicke ins Klosterleben gefasst machen, die im wesentlichen bereits der "ersten Schicht" des Entstehungsprozesses angehören; nur dass sie in der ursprünglichen Fassung - natürlich - nicht im Zusammenhang mit Barbara Ubryk standen, sondern, so kann man spekulieren, mit Elkas unfreiwilligem Klosteraufenthalt. Die Umarbeitung des Manuskripts zu einem Roman über Barbara Ubryk erforderte nun natürlich erhebliche Änderungen, schon allein, weil deren Klosteraufenthalt ja mehrere Jahrzehnte später stattfand. Also musste der Autor Elka erst einmal wieder aus dem Kloster "befreien", um später Barbara darin einzusperren - oder, genauer gesagt, in ein anderes Kloster. Elkas Verbringung ins Kloster dennoch nicht gänzlich aus der Handlung zu tilgen, bot sich an, weil es einen "Motivreim" - ein beliebtes erzähltechnisches Mittel der Kolportage - ermöglichte und das Klosterthema so immerhin schon einmal angeschnitten wird, bevor die Handlungszeit so weit fortgeschritten ist, dass man die Titelheldin auf der Bildfläche erscheinen lassen kann.

Können wir somit davon ausgehen, dass wir mit Elkas Flucht aus dem Kloster - oder, genauer gesagt, den Ereignissen, die zu dieser Flucht führen - eine Nahtstelle erreicht haben und dass die folgende Handlung einer neuen, mittlerweile dritten oder sogar vierten "Schicht" des Entstehungsprozesses angehört, mit deren Konzeption der Autor erst nach Bekanntwerden des Falles Barbara Ubryk beginnen konnte? Dass der Autor also, kurz gesagt, endlich mal anfängt, zu Potte zu kommen? -- Nun, wir werden sehen.

(Fortsetzung folgt!)