Samstag, 22. Juni 2013

Getränke und Gentrifizierung

Hallo. 

Ich dachte mir, ich versuch's mal mit 'nem induktiven Einstieg. 

Nehmen wir mal an, jemand springt aus Protest gegen die Schwerkraft aus dem zehnten Stock. Da kann er auf dem Weg nach unten noch so sehr gegen die Schwerkraft protestieren, am Ende schlägt er doch am Boden auf.

Was sagt uns das? - Zunächst einmal, dass es gewisse Realitäten gibt, die man - ob man sie nun gut findet oder nicht - einfach mal als Realitäten anerkennen und sich entsprechend verhalten sollte. Die Frage ist, was für Realitäten es im Einzelnen sind, für die dies ebenso unbedingt gilt wie etwa für die Schwerkraft.

Ein zuweilen dem Hl. Franz von Assisi oder auch dem Hl. Ignatius von Loyola zugeschriebenes, tatsächlich aber wohl von dem US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr stammendes Gebet, das mich von jeher stark berührt hat, lautet: "Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden". Man kann heute vielfach den Eindruck gewinnen, dass es mit der Weisheit der Unterscheidung in unserer Gesellschaft nicht sehr weit her ist. Die Einen wollen ständig Dinge ändern, die schlechthin unveränderlich sind; die Anderen erklären beharrlich Dinge für unveränderlich, die man durchaus ändern könnte, wenn man denn wollte.

Dass die Ersteren im Wesentlichen dem linken Spektrum angehören, überrascht nicht sonderlich; eher schon, dass die Letzteren vielfach dem liberalen Spektrum zuzuordnen sind. Man könnte sich fragen, was es denn bitte mit Freiheit zu tun haben soll, wenn einem immerzu gepredigt wird, die Welt-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sei nun mal, wie sie ist, und als solche "alternativlos". Wenn man ein Weilchen darüber nachdenkt, kann man zu dem Schluss kommen, dass die Liberalen - zumindest jene, für die die Freiheit, die sie meinen in erster Linie die des Marktes (und nicht etwa die des Menschen) ist - tatsächlich die größten Deterministen sind, die es gibt. Fortschritt lässt sich nicht aufhalten; der Eigendynamik der wirtschaftlichen Entwicklung darf man nicht in die Speichen greifen; die Marktwirtschaft in ihrem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf. Man könnte die Liberalen nun fragen: Wenn sowieso alles nach inneren Gesetzmäßigkeiten abläuft, die als solche unveränderlich sind - wofür braucht man euch dann noch? - Aber ich schweife ab.

Zu den Dingen, die nach Auffassung vieler im beschriebenen Sinne liberal gesinnten Menschen ebenso wenig auszurichten ist wie gegen die Schwerkraft, gehört zum Beispiel die Gentrifizierung. Schon mehrfach, sowohl in persönlichen Gesprächen als auch in online-Diskussionen, sind mir Äußerungen des Inhalts begegnet, dieses ganze Gerede über Gentrifizierung sei völliger Quatsch, es sei schließlich ganz normal, dass die Mieten in Innenstadtbezirken steigen und dadurch einkommensschwache Mieter früher oder später durch Besserverdienende verdrängt werden. Dazu ist zunächst dreierlei anzumerken:
  1. Das durch den Begriff Gentrifizierung beschriebene Phänomen ist durchaus komplexer als ein bloßes Steigen von Mieten.
  2. Dass es sich bei der Gentrifizierung um einen Prozess handelt, der sich gemäß einer inneren Gesetzmäßigkeit durchaus folgerichtig vollzieht, bestreitet ja gar niemand - abgesehen vielleicht von einigen Ureinwohnern von Berlin-Prenzlauer Berg, die die Gentrifizierung für eine Verschwörung halten, für die sie pauschal "die Schwaben" verantwortlich machen.
  3. Dass dieses Phänomen unter bestimmten gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen quasi "naturgemäß" auftritt, heißt nicht zwangsläufig, dass man es gut und richtig finden muss.
Aus der Distanz betrachtet hat es ja durchaus etwas Faszinierendes, wie schlechte und darum billige Wohngegenden sich über einen Zeitraum von ein paar Jahren oder Jahrzehnten erst in subkulturell-alternative Szenebezirke und dann in ebenso teure wie öde Spießbürgersiedlungen verwandeln. Schaut man etwas näher hin, dann sind die dahinter stehenden Mechanismen gar nicht so schwer zu verstehen, und man kann feststellen, dass ganz ähnliche Prozesse auch in allerlei anderen Bereichen unserer Gesellschaft ablaufen. So zum Beispiel nicht nur auf dem Immobilien-, sondern auch auf dem Getränkemarkt.

(Das erinnert mich übrigens daran, wie ich mal in Karlsruhe in einem völlig überfüllten Supermarkt war und eine Durchsage hörte, in der es in schönstem Badisch hieß: "Frau Soundso bitte zum Gedrängemarkt!" Ach so, dachte ich, deshalb ist es hier so voll.)

Zur Sache: Die Gentrifizierung von Getränken lässt sich geradezu idealtypisch an der Geschichte der Marke Bionade darstellen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wann und wo ich meiner erste Bionade trank. Diese Limo galt damals in den Kreisen, in denen ich mich bevorzugt bewegte, als das "alternative" Getränk schlechthin. Nicht zuletzt auch als alkoholfreie Alternative zu Bier. Denn was tut der passionierte Biertrinker, wenn er mal einen Abend nüchtern bleiben will oder muss? Alkoholfreies Bier ist ja für Viele ein unbefriedigender Kompromiss, außerdem schmeckt es meistens nicht; Wasser macht auf die Dauer einfach keinen Spaß; und die meisten Softdrinks sind der an Herbes gewöhnten Zunge des Biertrinkers schlicht zu süß. Nicht so Bionade. Was aber vermutlich noch wichtiger war als der Geschmack, war der Umstand, dass Bionade das Produkt einer kleinen, ländlichen Brauerei war, ausschließlich aus natürlichen Zutaten bestand und durch biologische Fermentierung hergestellt wurde. Ein moralisch sauberes Produkt, wo gab's sowas schon? Dass das auf dem Kronkorken abgebildete Logo - das eigentlich ein weißes O auf blauem Grund mit rot ausgefülltem Loch in der Mitte darstellen sollte - aussah wie die Kokarde der Royal Air Force, entzückte zudem die Mods und Indie-Popper. Kurz, Bionade war das perfekte Getränk für den urbanen Rebellen der späten 90er und frühen 2000er. Auch die Werbung war darauf ausgerichtet, das Produkt als nonkonformistisch, jung und "alternativ" zu positionieren. Irgendwann gab es dann eine Plakatkampagne, in der Bionade sich als "das offizielle Getränk einer besseren Welt" bezeichnete. Das war allerdings leider auch schon der Anfang vom Ende.

Bionade war einfach zu bekannt und zu populär geworden, um noch "Underground" sein zu können. Plötzlich sah man auch Leute, die man doof fand, Bionade trinken. Zugleich wurde sie teurer. Ab 2005 übernahm Coca Cola den Vertrieb von Bionade. Damit war die Marke für die subkulturellen Kreise, denen sie ihren Aufsteig verdankt, moralisch so gut wie tot: Sie hatte einen Pakt mit dem Satan geschlossen. (Wie tief der Schock über diesen Verrat sitzt, ist auch daran abzulesen, dass sich bis heute das falsche Gerücht hält, die Marke selbst sei an Coca Cola verkauft worden. Tatsächlich gab es zwar wiederholt Übernahmeangebote, diese wurden jedoch abgelehnt. Seit 2012 gehört Bionade allerdings zu Dr. Oetker, was auch nicht unbedingt besser ist.)

Meiner persönlichen Erinnerung zufolge schlug in dem Moment, in dem Bionade sich ans Establishment verkaufte, die große Stunde von Club Mate - bis dahin eher ein Nischenprodukt vor allem für Informatiker und andere Nerds, die es vermutlich vor allem tranken, um die ganze Nacht wach bleiben und an ihren Computern 'rumfrickeln zu können: Club Mate enthält erheblich mehr Koffein als Kaffee, und obendrein verbrennt man sich nicht den Mund daran. Den urbanen Rebellen war der Koffein-Kick der Mate natürlich ebenfalls recht, wenngleich aus anderen Gründen; nach der Enttäuschung über den Verrat der Bionade wurde der Club-Mate sogar ihr uncooles Design  - grobschlächtige 0,5l-Glasflaschen mit beim Öffnen knirschendem Schraubverschluss; viel zu viel Text auf dem Etikett und ein Logo, das vielleicht vor 30, 40 Jahren trendy gewesen wäre - zum Vorteil angerechnet, und dass das Zeug schmeckte wie abgestandene kalorienarme Fassbrause, störte irgendwie auch niemanden.

Als dann aber neben der althergebrachten Halbliterflasche die schlankere, elegantere 0,33l-Variante mit Kronkorken auf den Markt kam (vorzugsweise für den Verkauf in Kneipen und Clubs zu erheblich höheren Preisen als im Einzelhandel), als 2007 erstmals eine Winter-Edition mit Gewürzen herausgebracht wurde, 2009 dann eine Eisteevariante mit dem prolligen Namen " ICE-Tea-Kraftstoff" und schließlich auch noch eine Club-Mate-Cola, da war das schon wieder der Anfang vom Ende. Club Mate war zum Trendgetränk geworden - das hatten wir nicht gewollt!

-- Ein todsicheres Signal dafür, dass ein Getränk aufhört, alternativ zu sein, ist es, wenn Alternativen zu ihm auftauchen. Das erschließt sich ohne nähere Erläuterung. Auf dem Höhepunkt des Bionade-Erfolgs schossen plötzlich ähnliche Getränke mit Markennamen wie Bios, Beo und Aloha wie Pilze aus dem Boden und wurden einem gerade in subkulturellen Kneipen gern angeboten "("Probier' mal. Ist so ähnlich wie Bionade, aber authentischer."). Dasselbe Phänomen ist nun auch bei Club Mate zu beobachten: Einige Treffpunkte der urbanen Rebellenszene haben das ehemalige Kultgetränk bereits aus dem Sortiment verbannt und durch Mio Mio Mate ersetzt. Die ist noch weitgehend unbekannt, im Einkauf billiger, im Design noch unbeholfener als der Marktführer - und, nicht der unbedeutendste Vorteil: sie schmeckt sogar. Mal sehen, wie lange es dauert, bis auch diese Marke gentrifiziert wird. --

Die Beobachtung, dass Erzeugnisse von Subkulturen nahezu zwangsläufig irgendwann Mainstream werden, deutet übrigens auf ein grundlegendes Paradoxon der bürgerlichen Gesellschaft hin: Der Outsider, der Nonkonformist, der Künstler und Rebell ist für den Normalbürger ein Idol. Das hat vermutlich damit zu tun, dass viele "Besserverdiener" es nur zu Wohlstand und gesellschaftlichem Renommé gebracht haben, weil sie damit zu kompensieren versuchten, dass die coolen Kids in ihrer Schule sie früher nie haben mitspielen lassen. Das Dilemma: So sehr der Spießer versucht, verächtlich auf jene herabzulächeln, die früher cooler waren als er, es im Gegensatz zu ihm aber nicht zu einer Eigentumswohnung, einem Auto, einer Frau, einem Zweitwagen, einer Privatschule für ihre Kinder und vier Urlaubsreisen im Jahr gebracht haben -: im Grunde wäre er immer noch gern so cool wie sie. Aber natürlich ohne auf die Annehmlichkeiten seiner bürgerlichen Existenz zu verzichten. Darum trägt auch der Spießer in seiner Freizeit gern Chucks oder Sneakers und karierte Hosen, hört - je nach Temperament und Sozialisation - Heavy Metal, Punk, HipHop oder Dubstep, wählt die Grünen oder neuerdings die Piraten, kauft im Bio-Supermarkt ein -- und trinkt Bionade.

Ärgerlich ist allerdings, dass der Spießer die Eigenschaft eines negativen König Midas besitzt: Alles, was er in die Hand nimmt, wird spießig. Die Avantgarde wendet sich daher mit Schaudern von dem ab, was der Mainstream sich zu eigen gemacht hat, und sucht sich etwas Neues. Was auch nur so lange gut geht, wie es vom Mainstream unbemerkt bleibt. Indem der Mainstream stets mehr oder weniger dicht auf den Fersen der urban-rebellischen Subkultur bleibt, werden die Nonkonformisten ironischerweise zu den Pionieren  der bürgerlichen Gesellschaft, von der sie sich eigentlich abgrenzen wollen. Das ist so ähnlich wie im Wilden Westen, wo die Pioniere ja vielfach auch auf der Flucht vor der Zivilisation waren, gerade durch diese Fluchtbewegung jedoch die ihnen selbst anhaftende Zivilisation in die Wildnis hineintrugen und damit der nachdrängenden bürgerlichen Gesellschaft nolens volens den Weg ebneten. Lederstrumpf könnte ein Lied davon singen.

Bevor ich zum Schluss komme, noch eine ironiefreie Differenzierung. Die Getränke-Gentrifizierung unterscheidet sich natürlich in einigen Punkten wesentlich von derjenigen des Wohnraums. Vor allem wohl darin, dass den urbanen Rebellen im Grunde nichts daran hindern würde, weiterhin Bionade oder Club Mate zu trinken, nur weil es jetzt auch die Spießer tun: er will es bloß nicht mehr. Verdrängt wird er aus dem Kundenkreis dieser Getränkemarken nicht, er zieht sich freiwillig zurück. Eine solche Verdrängung wäre wohl auch nur über den Preis möglich, und ich werde es wohl nicht mehr erleben, dass eine Flasche Bionade oder Club Mate so teuer wird, dass nur noch Besserverdienende sie sich leisten können. Bei den Mieten sieht das erheblich anders aus. Und erst dann, wenn tatsächlich eine Verdrängung stattfindet, offenbart sich die ganze Ironie der Gentrifizierung. Erst haben Studenten, freischaffende Künstler und andere bunte Vögel darniederliegende ehemalige Arbeitersiedlungen in blühende Subkulturlandschaften verwandelt - und dadurch den oben beschriebenen Typus des auch ein bisschen cool sein wollenden Spießers angelockt, der dorthin zieht, weil da "so viel los ist". Weil's da so super viele Konzerte und Galerien gibt. Mit wachsender Spießerquote im Kiez werden die Pioniere dann aber von dort vertrieben, und die Spießer stellen, sobald sie wieder größtenteils unter sich sind, bald fest, dass sie von den ganzen Konzerten und Galerien die Schnauze voll haben und lieber ihre Ruhe haben möchten. Und irgendwann darf dann, wegen Anwohnerbeschwerden, bei der Fête de la Musique nicht mehr auf offener Straße musiziert und bei Vernissagen kein Bier mehr ausgeschenkt werden.

Die Vertreter des "That's Just The Way It Is, Baby"-Liberalismus können hier natürlich mühelos einwenden, man sei doch selber schuld: Man hätte sich ja nur rechtzeitig selbst gentrifizieren, sprich: selbst zum Spießer werden müssen, dann könnte man von ebenjenen Prozessen profitieren, über die man sich jetzt beklagt. Stimmt natürlich. Aber will man das? - Nee. Dann lieber weiterziehen, den nächsten Kiez kultivieren, und den übernächsten, immer auf der Flucht vor der bürgerlichen Gesellschaft, die einem immer hart auf den Fersen bleibt - wie Lederstrumpf. Und wenn man irgendwann nicht mehr weiterziehen kann, sucht man sich eine Nische, in der man als Relikt vergangener Zeiten überdauern kann, als "Original", halb belächelt, halb angestaunt, und geht langsam an Alkohol und Depressionen zu Grunde - wie Chingachgook. Auch eine Art Heldentod.

Montag, 3. Juni 2013

God Gave Rock'n'Roll To You (III)

Hand aufs Herz: Als ich diese kleine Serie eröffnete, kam mir die Möglichkeit, dass das Thema Rock'n'Roll plötzlich eine ganz neue Aktualität, ja Brisanz gewinnen könnte, gar nicht in den Sinn. Und schon gar nicht, dass ich das ausgerechnet dem Bündnis 90/Die Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir zu verdanken haben würde.

Aber doch: Er hat's getan. Er hat eine öffentliche Debatte darüber angestoßen, was für Menschen eigentlich moralisch das Recht haben, Rockmusik zu mögen, und welche nicht. So wie dereinst Edgar Wibeau kategorisch darüber urteilte, welche Menschen berechtigt seien, Jeans zu tragen. Nun gut: Jeans, echte Jeans, waren in der DDR Mangelware, da schmerzte es natürlich doppelt, sie am Hintern von jemandem zu sehen, von dem man fand, der habe so eine Hose charakterlich gar nicht verdient. Aber ich schweife ab.

Vermutlich hatte Cem Özdemir gar nicht vor, eine Grundsatzdebatte anzustoßen, als er am Donnerstag auf seiner Facebook-Seite einen BILD-Artikel über Christian und Bettina Wulffs Besuch eines Bruce-Springsteen-Konzerts verlinkte und wie folgt kommentierte:
"Ein persönliche Bitte: Liebe konservative Politiker, tut was ihr wollt und tut es wo ihr wollt, aber bitte lasst den Rock'n'Roll in Ruhe. Erst von und zu Guttenberg bei ACDC, jetzt Wulffs bei Springsteen. Was kommt noch? Kauder bei Manu Chao? Diese Musik steht so ziemlich für das exakte Gegenteil Eurer Politik. Wann stellt Seehofer, natürlich in der BILD, seine Sex Pistols Plattensammlung vor? Gnade BILD & Co. Habt Erbarmen. Cem"

Die Reaktionen auf diese Einlassung des Grünen-Vorsitzenden schwankten größtenteils zwischen Hohn und Spott. Die Einen argumentierten, Rock'n'Roll sei doch (mittlerweile) selbst stockkonservativ, da habe es schon seine Richtigkeit, wenn die spießigen Wulffs sich die larmoyanten Schmachtfetzen des ollen Springsteen anhören. Andere konnten sich mit der Forderung, verschnarchte Spießbürger, Häuslebauer und peinliche Ex-Bundespräsidenten samt ihren vom Escort-Service georderten Ehefrauendarstellerinnen sollten "den Rock'n'Roll in Ruhe lassen", durchaus anfreunden, empfanden es aber als eher tragikomisch, dass diese Forderung ausgerechnet von einem Cem Özdemir vertreten wird, der es in puncto Spießigkeit und nicht-Rock'n'Rolligkeit locker mit der halben CDU/CSU aufnehmen kann. Zumal, wie der mir ansonsten unbekannte Facebook-Nutzer Martin Hagen es in seinem Kommentar zu Özdemirs Beitrag souverän auf den Punkt brachte, die Grünen nun auch nicht gerade die ultimative Sex&Drugs&Rock'n'Roll-Partei sind: 
"Rock'n Roll steht nicht für Rauchverbot, Glühbirnenverbot und Motorrollerverbot. Rock'n Roll steht nicht für das subventionierte Solardach auf dem Reihenhäuschen. Rock'n Roll steht nicht für Political Correctnes, Binnen-I und Gender-Gap. Rock'n Roll steht nicht für vegetarische Donnerstage in Beamtenkantinen. Rock'n Roll steht für viel, aber ganz bestimmt nicht für grüne Politik!"
Tja: Wer im Schlachthaus sitzt, soll nicht mit Schweinen werfen. Wer mich oder zumindest meinen Blog kennt, wird wenig überrascht sein, dass ich es tendenziell mehr mit der "Cem, du bist doch selber auch nur ein Wulff"-Fraktion halte als mit den Rock'n'Roll-Verächtern. Trotzdem würde ich - und auch das kennt man ja von mir - das Thema gern etwas grundsätzlicher angehen.

Erst einmal: Ist Rock'n'Roll politisch? - erst einmnal nicht. Im frühen Rock'n'Roll dreht es sich textlich nahezu ausschließlich um Mädchen und Autos. Oft in einem Vokabular, bei dem es unklar ist, ob gerade von einem Mädchen oder einem Auto die Rede ist. Der klassische Früh-Rock'n'Roller braucht nicht viel zum Glücklichsein, er will vor allem faaahrn (was nicht umsonst so klingt wie ein in breitem, nachlässigem american english ausgesprochenes "fun") und nach Möglichkeit ein flottes Girl auf dem Beifahrersitz. Fehlt ihm letzteres, dann stimmt er auch schon mal herzzerreißende Klagelieder an. Aber Politik? - Politisch wird der Rock'n'Roller erst und nur, wenn er bemerkt, dass nicht nur Einzelne, wie etwa Eltern, Lehrer und schwer verführbare Mädchen - seinem Traum vom einfachen Glück im Wege stehen, sondern auch gesellschaftliche Strukturen. Das bemerkt er allerdings schon recht früh. 1958 besang Eddie Cochran in "Summertime Blues" das Hadern mit der Notwendigkeit, in den Sommerferien zu jobben, um Geld zu verdienen. In der dritten und letzten Strophe des Songs heißt es:
"I called my congressman and he said - quote! -:
'I'd like to help you, son, but you're too young to vote.'"

[Ich rief meinen Abgeordneten an, und er sagte wörtlich:
"Ich würde dir ja gern helfen, mein Sohn, aber du bist ja noch gar nicht wahlberechtigt."]
Im Kontext dieses Songs ist das wohl eher scherzhaft gemeint, aber die darin zum Ausdruck kommende Haltung der Politik gegenüber zieht sich durch die ganze Geschichte der Rockmusik. Sie lautet: Die Politik interessiert sich nicht für unsere Probleme, weil sie sich nicht für uns interessiert. They Don't Care 'Bout Us. (Der so betitelte Song von Michael Jackson aus dem Jahr 1996 ist zwar von seinen musikalischen Charakteristika her nicht dem Rock-Genre zuzurechnen, von seiner Haltung her aber doch.)

Nun ist es vom Misstrauen und/oder Unbehagen gegenüber den bestehenden politischen Verhältnissen hin zum eigenen politischen Engagement natürlich ein durchaus nahe liegender Schritt, und auf diesem Wege kommt dann eben doch die Politik in den Rock hinein. Klar ist, dass diese grundsätzlich oppositionell ist, und zwar gern radikal oppositionell: extrem links, extrem rechts oder manchmal auch einfach extrem wirr. Positionen der politischen "Mitte" sind hingegen nicht rock-tauglich: Die gehören schließlich der "Erwachsenenwelt" an, gegen die man rebelliert (oder die einen zumindest, wie die Bewohner von Atlantis sagen, "abtörnt"). So ist es auch kaum überraschend, dass eingefleischte Rock'n'Roller ein allzu ausgeprägtes politisches oder auch nur soziales Engagement von Musikern (man denke etwa an Bob Geldof oder Bono) im Allgemeinen eher skeptisch beäugen oder sogar Verrat darin wittern. Vor allem ist dem echten Rock'n'Roller die political correctness ein Dorn im Auge.

Was das alles mit den Grünen zu tun hat, dürfte auf der Hand liegen. Die haben ja immerhin mal als Fundamentalopposition angefangen, aber inzwischen sind sie doch gründlich in der bürgerlichen Mitte angekommen. Und kaum jemand repräsentiert diese Verbürgerlichung der einstigen Bürgerschreckpartei so idealtypisch wie eben Cem Özdemir - während die Co-Vorsitzende Claudia Roth immerhin mal Managerin von Ton Steine Scherben war. Aus Rock'n'Roll-Sicht sind die Grünen heutzutage einfach too old to die young. Diesem Schicksal zumindest scheint die nächste Generation der spätpubertären Antipolitiker - die Piratenpartei - nach derzeitigem Stand der Dinge wohl durch rechtzeitige Selbstzerstörung zu entgehen. Aber die Piraten hören wahrscheinlich keinen Rock'n'Roll. Sondern eher so Elektro-Kram.

(An dieser Stelle mache ich erst mal einen Punkt. Spätere Fortsetzung nicht ausgeschlossen...)

Selbstgebastelter Anhang zum neuen Gotteslob

"Eichstätt - Limburg - Paderborn" - so lautet der Titel eines Beitrags des Kollegen Cicero über Titelbildvarianten des neuen Gotteslobs. Das erste, was mir beim Lesen dieses Titels auffiel, war, dass man ihn auf die Melodie von "New York - Rio - Tokyo", dem einzigen Hit der 80er-Jahre-Popgruppe Trio Rio, singen kann.

Nun müsste ich aber wohl nicht der Tobi sein, wenn ich es dabei bewenden ließe, das einfach nur festzustellen. Neenee! Bei so einer Vorlage heißt es kurz mal den inneren Verseschmied von der Leine lassen - und sowas kommt dann dabei raus:

Eichstätt - Limburg - Paderborn

Was soll das bedeuten?
Was sagt dies Gebilde wohl den Leuten?
Wen will man erreichen
Mit einem schönen, doch abstrakten Zeichen
Auf dem Gotteslobe?
Dabei ist es gar nicht von Adobe!

Nur in
Eichstätt, Limburg, Paderborn
Hält man von diesem Zeichen nix
Und bleibt lieber beim Kruzifix
In Eichstätt, Limburg, Paderborn
Da zeigt des Buches Umschlag schon
Hier dreht es sich um Gottes Sohn!

Doch wir woll'n uns freuen
Dennoch an dem Gotteslob, dem neuen
Und uns nicht groß streiten
Über Bilder auf den Umschlagseiten
'S gibt ja Schutzumschläge
Die sind auch nützlich für des Buches Pflege!

Und in
Eichstätt, Limburg, Paderborn
Und all den andern Bistümern
Da preisen wir ganz laut den HERRN
In Eichstätt, Limburg, Paderborn
Und überall, wohin man sieht:
Singt dem HERRN ein neues Lied!


(Ich gebe zu, ich habe bei der Strophenlänge ein bisschen gemogelt und den C-Teil - "When you dance close to me" usw. - ganz weggelassen. So viel künstlerische Freiheit wird ja wohl drin sein. Nebenbei bemerkt stelle ich mir auch die imposanten Instrumentalpassagen des Songs, auf der Kirchenorgel gespielt, durchaus stimmungsvoll vor. Ich möchte daher schon mal die Aufnahme dieses Songs in den Anhang des Gotteslobs beantragen - mindestens in den Bistümernb Eichstätt, Limburg und Paderborn...)

Sonntag, 2. Juni 2013

Walk the Line

Meine Frau hat mich verlassen – das Auto ist kaputt – der Hund ist weggelaufen – das Gas ist abgestellt worden, und ich muss mich von kalten Bohnen aus der Dose ernähren.

Das war so ungefähr das Ergebnis, als wir einmal am Rande einer Bandprobe darüber diskutierten, wie der perfekte Blues-Text lauten würde. Nur unsere Sängerin war anderer Meinung: "Ich finde, das ist der perfekte Country-Text!"

"Country", erwiderte unser Gitarrist, "ist es, wenn du diesen Text fröhlich singst."

Samstag, 1. Juni 2013

Von Konversion bis Kastration: Pius IX. in Dichtung und Wahrheit

Papst Pius IX. (bürgerlich Giovanni Maria Mastai-Ferretti, 1798-1878) muss eine gewinnende Persönlichkeit gewesen sein; denn obwohl sein Pontifikat - mit fast 32 Jahren das längste aller Nachfolger Petri - von massiven Angriffen auf Kirche und Papsttum geprägt war, äußerten sich zu seinen Lebzeiten selbst radikale Kirchengegner mit Respekt und sogar Sympathie über ihn. So schrieb die - trotz ihres harmlos-idyllischen Namens kämpferisch antiklerikal gesonnene - Wochenzeitschrift Die Gartenlaube im Jahre 1867 über ihn: "Wenn alle katholischen Geistlichen diesem ihren Oberhaupt an Milde, Einfachheit und Sittenstrenge glichen, so stände es besser um die katholische Kirche und um die gesamte Welt". Im 1868 erschienen ersten Band von Sir John Retcliffes 13bändigem Kolportageroman Biarritz, in dem kriminelle Machenschaften obskurer klerikaler Geheimbünde eine nicht unbedeutende Rolle spielen, wird Pius als "der Mann mit dem freundlichen wohlwollenden Herzen" charakterisiert; ähnlich urteilte der dem Katholizismus keineswegs freundlich gesonnene Schriftsteller Hermann Allmers in seinem Reisebericht Römische Schlendertage (1869). Als jedoch im Jahr 2000 - beinahe ein Jahrhundert nach der Eröffnung des Verfahrens - die Seligsprechung dieses Papstes anstand, hagelte es Proteste - von Protestanten, Orthodoxen, Juden und sogar von einigen katholischen Kirchenhistorikern. Was, so ist man geneigt zu fragen, war da in der Zwischenzeit passiert?

Als Mastai-Ferretti 1846 zum Nachfolger des als reaktionär geltenden Gregor XVI. gewählt wurde, wurde er weithin als Hoffnungsträger der Liberalen wahrgenommen; tatsächlich nahm er hinsichtlich der weltlichen Regierung des Kirchenstaates, der damals noch weite Teile Mittelitaliens umfasste, einige Reformen in Angriff. Dann jedoch brach die Revolution von 1848 aus; auf dem Territorium des Kirchenstaates wurde die Römische Republik ausgerufen, der Papst floh, als Mönch verkleidet, aus Rom und fand Zuflucht in der neapolitanischen Garnisonsstadt Gaeta, von wo er erst im Frühjahr 1850 nach Rom zurückkehrte, nachdem der Kirchenstaat bereits im Sommer 1849 mit Hilfe einer militärischen Intervention Frankreichs und Spaniens wiederhergestellt worden war.

Diese Restitution der weltlichen Herrschaft des Papsttums über Mittelitalien war jedoch nicht von langer Dauer: Im Rahmen des so genannten Zweiten Italieninschen Unabhängigkeitskrieges (1859/60) griff das Königreich Sardinien-Piemont, das eine nationalstaatliche Einigung Italiens unter seiner Führung anstrebte, neben den zum Hansburgerreich gehörenden norditalienischen Provinzen auch den Kirchenstaat an und entriss ihm den Großteil seines Territoriums bis auf Rom, Civitavecchia und das unmittelbare Umland, die von französischen Truppen geschützt wurden. Als Frankreich dann angesichts des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 seine Streitkräfte aus Rom abzog, wurde der letzte Rest des Kirchenstaates beinahe kampflos vom inzwischen gegründeten Königreich Italien besetzt und annektiert.

Vor dem Hintergrund dieser Vorgänge kann es kaum überraschen, dass das Pontifikat Pius' IX. seit der Revolution von Bemühungen geprägt war, die politisch und militärisch bedrohte Autorität des Papstes theologisch abzusichern. Diesem Ziel sollten u.a. die 1864 veröffentlichte Enzyklika Quanta cura und der diesem Lehrschreiben als Anhang beigefügte Syllabus errorum dienen, in dem Pius IX. u.a. Rationalismus, Sozialismus, Kommunismus und Liberalismus als "Irrtümer unserer Zeit" verurteilte. Am 18.07.1870 verkündete das I. Vatikanische Konzil in der dogmatischen Konstitution Pastor aeternus die Unfehlbarkeit des Papstes in Fragen der Glaubens- und Sittenlehre - eine äußerst umstrittene Entscheidung, die in der Öffentlichkeit auf einigen Widerstand stieß. In Deutschland führte das Unfehlbarkeitsdogma etwa zur Gründung der von Rom unabhängigen Altkatholischen Kirche und bildete zudem den Anlass zu einer unter der von Rudolf Virchow geprägten Bezeichnung Kulturkampf in die Geschichte eingegangenen Serie massiver staatlicher Repressionen gegen die Katholische Kirche im neugegründeten Deutschen Reich, insbesondere in Preußen. Flankiert wurden diese staatlichen Zwangsmaßnahmen von ausgedehnter publizistischer und literarischer Polemik gegen Kirche und Papsttum. Eine 1875 unter dem Titel Der Katholizismus seit der Reformation veröffentlichte Flugschrift urteilte über das Unfehlbarkeitsdogma: "Diesen Hohn durfte man dem 19. Jahrhundert ins Gesicht schleudern, diesen frechsten und ruchlosesten aller menschlichen Ansprüche erheben, diese verlogenste aller Lügen zu einem bei ewiger Höllenstrafe verbindlichen Dogma [...] machen." Ganz Ähnliches las man 1873 in dem Roman Die zweite Frau der enorm populären Unterhaltungsschriftstellerin E. Marlitt: Dort spricht die Titelheldin Liane von "dem starren, unhaltbaren Dogmenwerke, das deine Kirche neuerdings predigt" und bezeichnet es als „die wahnsinnigste Vermessenheit des Menschengehirns, die der alte Mann in Rom proklamiert“ (E. Marlitt: Die zweite Frau. Stuttgart/Berlin/Leipzig o.J., S. 188f). Daneben erschien eine Vielzahl kulturkämpferischer Kolportageromane mit Titeln wie Pius, der Unfehlbare und seine schwarzen Streiter, oder: Die Geheimnisse des Concils (P. Giac. Genelli, Berlin 1870-72) oder Pius IX. und die heutige Zeit oder Rom und die Jesuiten (George F. Born alias Georg Füllborn, Berlin 1871).

Noch mehr als Syllabus und Unfehlbarkeitsdogma dürfte dem Ansehen Pius' IX. in den Augen der Nachwelt jedoch ein Ereignis geschadet haben, das man auf den ersten Blick eher für eine weltgeschichtliche Marginalie halten könnte: die Affäre Mortara.

Am 23. Juni 1858 verschaffte sich die päpstliche Polizei Zutritt zum Haus der jüdischen Familie Mortara im damals zum Kirchenstaat gehörenden Bologna, um den sechsjährigen Sohn der Familie, Edgardo, in Gewahrsam zu nehmen und nach Rom zu bringen, wo er fortan in einem Katechumenenhaus erzogen werden sollte. Anlass dafür war die Aussage der katholischen Magd der Mortaras, Anna Morisi, sie habe Edgardo während einer lebensbedrohlichen Krankheit die Nottaufe erteilt. Durch diese Taufe galt Edgardo kirchenrechtlich als Katholik, und die Gesetze des Kirchenstaates untersagten es, dass katholische Kinder von Juden aufgezogen wurden – selbst wenn es die leiblichen Eltern waren. Dieser Vorgang sorgte weltweit für erhebliches Aufsehen, Diplomaten mehrerer europäischer Staaten und der USA legten beim Vatikan Protest ein und forderten, dass Edgardo Mortara seinen Eltern zurückgegeben werde. Pius IX. bliebt jedoch unbeirrt: "Ich hatte sowohl das Recht als auch die Pflicht, das zu tun, was ich für diesen Jungen getan habe, und ich würde es wieder tun."

Es kann kaum überraschen, dass auch dieser Fall Eingang in die zeitgenössische Literatur fand. Als in dem bereits erwähnten E. Marlitt-Roman Die zweite Frau die Titelheldin Juliane erfährt, dass der Spielgefährte ihres Stiefsohns Leo, ein stiller, verträumter Knabe namens Gabriel, Mönch werden soll, nimmt sie automatisch an, er solle dazu gezwungen werden; der Hofprediger, ein intriganter Jesuit, entgegnet süffisant: "Wir sind sehr harmlos in Schönwerth; mit solchen haarsträubenden Gewaltthaten, wie sie das Märchen vom Knaben Mortara der gerngläubigen Welt auftischt, befassen wir uns nicht" (S. 72). Diese knappe und im Roman nicht weiter erläuterte Anspielung macht deutlich, in wie hohem Maße die Mortara-Affäre beim damaligen Lesepublikum als bekannt vorausgesetzt werden konnte; gleichzeitig wirft die Rede vom "Märchen vom Knaben Mortara" Fragen auf – da die äußeren Fakten des Falles schließlich allzu gut dokumentiert waren, um sie im Ganzen als "Märchen" abzuqualifizieren. Gleichzeitig ist nicht recht ersichtlich, in welchem Zusammenhang die Affäre Mortara mit angeblichen finsteren Machenschaften des Jesuitenordens stehen soll: Anhand der bekannten Fakten über den Fall ist eine Mitwirkung der Jesuiten an der erzwungenen Trennung Edgardo Mortaras von seinen Eltern nicht nachzuweisen. Offenbar wollte die Autorin es der Phantasie ihrer Leser überlassen, diese Leerstellen auszufüllen. – Tatsächlich rankten sich zahlreiche Verschwörungstheorien um die Affäre Mortara; antiklerikal eingestellten Kreisen erschien es wohl schlicht unglaubhaft, dass die Kirche in dieser Angelegenheit von keinem anderen Interesse als dem am Seelenheil eines sechsjährigen Knaben aus wenig begüterter jüdischer Familie geleitet sein sollte. So verarbeitete etwa der ebenfalls schon erwähnte Sir John Retcliffe den Fall in seinem Romanzyklus Villafranca (1862-66): Ausgehend von dem irritierenden Faktum, dass Edgardo Mortara erst mehrere Jahre nach seiner angeblichen Nottaufe von der Kirche reklamiert wurde, stellt Retcliffe die Affäre Mortara als Ergebnis einer verwickelten Intrige dar: Der uneheliche Sohn einer zum Christentum übergetretenen und deshalb von der Familie verstoßenen Tante Edgardo Mortaras will sich durch die Zwangskonversion des letzten Sprosses der Mortaras an der jüdischen Verwandtschaft rächen; reaktionäre Agenten versuchen den (fiktiven) Onkel Edgardos, einen Vertrauten Garibaldis, mit ihrem Wissen um die heimliche Taufe seines Neffen zu erpressen; und nicht zuletzt spielt, der Genrekonvention des "Jesuitenromans" entsprechend, auch die reiche Erbschaft dieses Onkels eine Rolle. Eine Schlüsselstellung in dieser Intrige kommt bei Retcliffe einem sinistren Jesuitenpater zu, der es als Beichtvater der Magd Anna Morisi in der Hand hat, die Taufe Edgardos publik zu machen.

Der echte Edgardo Mortara, der somit schon als Kind zur Romanfigur avanciert war, lebte übrigens noch bis 1940; er war 1865 dem Augustinerorden beigetreten und 1873 zum Priester geweiht worden und widmete sich fortan besonders der Judenmission. Papst Pius IX. betrachtete er als seinen geistigen (und geistlichen) Vater und äußerte sich zeit seines Lebens mit großer Anerkennung und Dankbarkeit über ihn; Mortara sagte auch im Seligsprechungsprozess Pius' IX. klar zu dessen Gunsten aus (hier eine englische Übersetzung, auf deutsch habe ich's nicht finden können). Das änderte freilich nichts daran, dass der Fall Mortara bis heute zu den schwerwiegendsten Vorwürfen zählt, die in der öffentlichen Debatte gegen Pius IX. und seine Seligsprechung erhoben werden. Mortaras eigene Darstellung des Falles wird von Kritikern lediglich als Resultat einer brutalen Gehirnwäsche aufgefasst. -- So weit, so vorhersehbar. Nicht g'nug wundern kann man sich hingegen - angesichts des Umstandes, dass die Mortara-Affäre anlässlich der Seligsprechung Pius' IX. im Jahr 2000 erneut ausgiebig Schlagzeilen machte - über einen am 20.04.2005 geposteten Eintrag auf der Diskussionsseite zum deutschsprachigen Wikipedia-Artikel über Pius IX.; dort schreibt Nutzer "robby" mit Bezug auf den Fall Mortara:
"Meiner Erinnerung nach ist diese Räubergeschichte inzwischen komplett widerlegt. Ich kann es aber im Moment ebenso wenig belegen wie Du. Und ich glaube sogar, daß sich die Geschichte auf Pius XII. bezog."
Nun gut: robby täuscht sich, und das in mehrfacher Hinsicht. Die Fehlerinnerung, derzufolge sich die ganze Geschichte auf Pius XII. bezogen habe, ist dabei besonders bezeichnend: Ein Papst, der irgendwas Schlimmes im Zusammenhang mit Juden gemacht hat? Das kann ja nur Pius XII. gewesen sein!

Zu robbys Ehrenrettung sei allerdings erwähnt, dass er mit seiner Skepsis gegenüber manchem, was in der Wikipedia und andernorts über Pius IX. behauptet wird, in einem anderen Fall schon einmal ins Schwarze getroffen hat. So monierte er Ende Februar 2005 einen (in der Folge dann gestrichenen) Absatz des Pius-Artikels, welcher lautete:
"1857 entschied Pius, dass die Darstellung von männlichen Geschlechtsteilen innerhalb der Mauern der Vatikanstadt eine Lust bei den Menschen innerhalb dieser Mauern erzeugen könnte, woraufhin er eigenhändig mit Hammer und Meißel das steinerne Geschlechtsteil einer jeden Statue im Vatikan abschlug. Er beschädigte dadurch hunderte von Meisterwerken von Bernini, Bramante und Michelangelo. Die Zerstörungen an den Skulpturen werden auch heute noch mit Feigenblättern aus Gips kaschiert."
Die von robby angestoßene Diskussion über die Authentizität dieser Information ergab bald...: dass der Absatz beinahe wörtlich aus Dan Browns Bestseller Illuminati entnommen war! Da dieser Roman nun aber - was immer Dan Brown Gegenteiliges behaupten mag - nicht gerade als seriöse Quelle gelten kann, wurde die entsprechende Passage aus dem Wikipedia-Artikel entfernt; aber damit war die Geschichte noch nicht zu Ende. Im Mai 2005 wies ein anderer Nutzer darauf hin, dass man per Google-Suche den geschilderten Sachverhalt auf zahlreichen anderen Webseiten bestätigt finden könne (zum Beispiel hier), und plädierte daher dafür, die Passage wieder herzustellen. Dieses Ansinnen wurde jedoch von Nutzer "Wofl" entschieden zurückgewiesen - mit dem besonnenen Argument:
"Diese Hinweise gehen durchweg auf die frühere Version des Wikipedia-Artikels zurück. [...] Um nicht noch weiter zur Legendenbildung beizutragen, sollte diese Geschichte aus dem Artikel herausgehalten werden."
Da sage ich: Danke. - Dass die Geschichte dennoch weiterhin in ungezählten Versionen durch das Internet geistert, steht freilich auf einem anderen Blatt; und hier wäre nun wieder robby zuzustimmen, der abschließend kommentiert:
"Tja, das ist der Nachteil der Autorität, die Wiki mittlerweile genießt. Da setzt jemand einen Scherz auf die Seite, niemand paßt auf - und schon verbreitet sich die Ente in die schöne weite Welt. Und wenn wir es dann hier repariert haben kriegen wir es mit Quellenangabe von den Wikiabschreibern wieder zurück."
(Übrigens musste ich mich stark zusammenreißen, diesen Blogbeitrag nicht - in Anlehnung an eine Lortzing-Oper - "Papst und Pillermann" zu nennen. Wäre aber vielleicht ein bisschen over the top gewesen.)